Zauberjäger – Teil 5

19

Nachdem Helga und die drei Johannssons vergnügt plaudernd die schlichten, aber leckeren Kartoffeln mit Feldsalat mit Orangenschnitzen verspeist hatten, zogen sich die beiden Freundinnen mit einem Tee in Maries Zimmer zurück.

Marie machte eine Kerze an und zündete ein tibetisches Räucherstäbchen an. Ein bißchen Chichi – „überflüssig, aber wenn´s dir gefällt“, war Helgas Kommentar – brachte selbst die Skeptikerin in Marie ein wenig in eine andere, leichtere, vielleicht auch mystisch angehauchte Stimmung. Die beiden Frauen setzten sich in eingeübter Meditationshaltung auf ihren Stühlen hin: Rücken gerade und beide Füße zur Erdung auf den Boden.

„Hast du deine Fragen parat?“ fragte Helga ihre Freundin.

„Ja, alles bereit.“

Die beiden Frauen schlossen wie auf ein stilles Zeichen hin gleichzeitig ihre Augen. Helga sprach ein hebräisches Mantra vor und Marie stimmte bald durch Nachsprechen ein. Drei Mal wechselte Helga das Mantra, in denen auch die Namen von bekannten Erzengeln auftauchten. Marie zog jedes Mal nach und stimmte mit ein. Dann ging Helga in ein Gebet über, in dem sie um Schutz und um lichtvolle Klarheit bat. Marie blieb dann still und konzentriert neben ihrer Freundin sitzen. Nach einem kurzem Moment des Schweigens sagte Marie leise, aber sehr klar: „Ich bin jetzt so weit. Du kannst jetzt fragen.“

Marie schluckte ein Mal. Sie wirkte fast ein wenig verlegen. Sie hatte es schon ein paar Mal mit Helga gemacht, aber es kam ihr immer noch ein wenig unheimlich, obwohl nicht beängstigend, sondern eher im Sinne von sonderbar vor, gerade solch existentielle Fragen ins Off zu stellen. Denn sie sah und spürte ja nichts. Aber sie erinnerte sich: Das Fragen selbst und auch die Klarheit der Antworten waren ihr stets sehr stimmig, fast selbstverständlich vorgekommen. Und sie hatten ihr schon sehr geholfen – Marie gab sich einen Ruck und fing an:

„Ist es richtig, dass ich mich jetzt wieder mit Martin treffe?“

Nach einem kurzen Zögern, vergleichbar mit einem Horchen, antwortete Helgas Stimme: „Wir freuen uns, Marie, dass wir dir behilflich sein können und dass du über deine langjährige Freundin Kontakt zu uns aufgenommen hast. Du weißt, wir stehen immer an deiner Seite, auch wenn du uns nicht spürst. Und wir können dir nur helfen, wenn du uns um Hilfe bittest. Martin ist der Mann deines Herzens. Wenn du deinen Stolz überwindest, kannst du mit diesem lichtvollen Mann viel lernen. Martins Seele hat schon viel an sich gearbeitet. Wenn du deinen Stolz und das, was du als Freiheit bezeichnest, weglässt, kannst du von Martin sehr viel lernen, vor allem Hingabe, Vertrauen und Liebe. Ihr kennt euch nicht erst seit Helgas Party. Ihr seid zwei alte Seelen und habt euch schon einige Male auf sehr unterschiedliche Weise geliebt. Ihr habt euch dieses Mal gefunden, um euch zu ergänzen. Zusammen seid ihr sehr stark. Erinnere dich an gemeinsame Projekte, die ihr gemacht habt, welche Kraft ihr zur Verfügung hattet. Auch du.“

Marie schrieb eifrig mit. Sie wollte keines der nun für sie so kostbaren Worte verpassen.

„Ich habe solche Angst, mich ganz auf einen Mann einzulassen. Ich bin schon so oft enttäuscht und verletzt worden. Wie kann ich, wie ihr sagt, meinen Stolz hinter mir lassen?“

„Nimm an, akzeptiere, dass du verletzlich bist. Und gehe mit dieser Weichheit ins Vertrauen. Du wirst geführt und bist beschützt. Trau dich, vor allem vor dir selbst, aber eben auch diesem liebevollen Mann gegenüber, so weich zu sein, wie du eigentlich bist. Begib dich in den Fluss. Der große rote Mann kann zu deinem jetzigen Leben gehören. Er kann dir helfen, zu deinem weichen Kern vorzudringen, damit du dich in Demut und Vertrauen wieder mit dem Licht verbinden kannst. Aber du entscheidest! Du kannst den Weg auch alleine gehen. Auch das wird dich an dein Ziel führen. Du hast die Wahl!“

„Und wenn ich meinen Stolz ablegen will – mir fällt das so schwer, ich habe so lange für meine Unabhängigkeit gekämpft – wie mach ich das ganz konkret?“

„Bete, bete, bete und meditiere, häufiger am Tag. Suche die Verbindung zu Gott.“ Diese Antwort kam umgehend aus Helga heraus. Nach einigen Sekunden, in denen Marie etwas hilflos dreinschaute, fuhr Helgas Stimme fort: „Bedenke: das, was du für Freiheit hältst, ist eine Illusion. Auch deine Ängste sind eine Illusion. Diese Gefühle werden von deinem Ego gespeist und trennen dich von der Einheit, dem Gehaltenwerden und der umfassenden Liebe ab. Damit spaltest du dich auch von deinem Licht und deiner Führung ab – und du bist dann wirklich allein und musst kämpfen. Auch hier hast du die Wahl: Du kannst dein Leben mit Kämpfen verbringen oder damit, dich in deinen Fluss zu bringen. Deine Freiheit ist stets die, dass du entscheiden kannst. Entscheide, was du willst.“

Marie musste schlucken. Heute bekam sie aber die volle Breitseite. Schon wieder so ein gewaltsames, wenn nicht sogar militärisches Wort? Sie war wirklich immerzu am kämpfen. Gegen was eigentlich? Und warum? Ob sie das auch fragen konnte?

„Warum kämpfe ich eigentlich so viel rum?“ traute sie sich dann doch.

„Du hast viel Leid gesehen, von dir selbst verursachtest und von anderen dir zugefügtes. Du warst Soldat und Leibeigener, Henker und Mörder, Vergewaltiger und Vergewaltigte, Täter und Opfer. Wie die meisten, wie nahezu alle Menschen. Jetzt hast du die Chance bekommen, ganz leicht durch die Liebe aus dieser Spirale von Gewalt, Schmerz und Rache herauszutreten. Die beiden männlichen Wesen, die jetzt in deinem Leben stehen, können dir dabei helfen – wenn du es zulässt. Bedenke: Gerechtigkeit und richten liegen nicht in deiner Hand. Nicht früher und nicht heute.“

Marie schwirrte ein wenig der Kopf. Es war für sie so ungewohnt, gleichzeitig so klar und so einfach und so bestimmt und gradlinig zu denken. Aber etwas in ihr wusste, dass diese Worte, woher sie auch immer zu Helga kamen, die Wahrheit, ihre Wahrheit waren. Ihr Kopf und ihre eigenen Gedanken hatten mit einem Mal eine solche Klarheit, dass sie sich erstaunt fragte, unter welcher Käseglocke sie sonst ihr Leben zubrachte.

„Öffne dein Herz, und du weißt, was zu tun ist,“ kam noch mit sehr sanfter Energie aus Helgas Mund.

Wenn sie jetzt nicht völlig neben der Kappe war, wurde es sogar sehr viel heller im Zimmer.

„Ja, du siehst richtig. Du siehst auch. Das ist unser Geschenk an dich. Suche das Licht.“

Die beiden Frauen schwiegen einige Minuten.

Dann sprach Helga unvermittelt: „Helga soll sich keine Sorgen wegen ihrer Arbeit machen. Sie soll weiter im Vertrauen bleiben und ihrer inneren Stimme folgen. Es wird alles gut und für sie sogar besser als vorher, auch wenn sie sich das jetzt gar nicht vorstellen kann.“

Marie schrieb hastig diese Botschaft für ihre Freundin auf. Sie wusste gar nicht, das Helga Schwierigkeiten auf der Arbeit hatte. Wenn was nicht glatt lief, neigte Helga wie sie selbst auch dazu, das mit sich selbst auszumachen. Vielleicht konnten sie ja nachher noch drüber reden.

Aber Arbeit war das Stichwort für sie. Sie wollte sich jetzt zum ersten Mal trauen, in diesem mysteriösen Fall wollte sie, wo sie jetzt schon mal an der Quelle saß, um geistige Hilfe bitten.

„Darf ich euch um noch etwas bitten?“ fing Marie vorsichtig an. „Könnt ihr mir bei meinem aktuellen Fall mit der Kinderleiche, dem verstümmelten schwarzen Albino helfen? Was hat das alles zu bedeuten? Und ich werde das Gefühl nicht los, dass das kein Zufall ist, dass der Kleine bei mir gelandet ist.“

„Ja, da hast du recht, du bist eine kluge Frau.“ sagte Helga mit einer anders als vorhin klingenden Stimme. Sie war nun ein wenig tiefer mit einer eher männlichen Energie. Es war eher die Energie, die verändert war, als Helgas Stimme.

„Wenn du verstehen willst, schließe deinen Augen…,“ Marie schloss folgsam die Augen, „…und stelle dir vor deinem dritten Auge eine Kugel aus Licht vor. Ganz intensiv. Gib all deine Kraft da hinein.“

Helga schwieg konzentriert.

„Jetzt ziehe das Licht durch dein drittes Auge in dein Herz hinein, mit jedem Atemzug. Lass es deinen ganzen Brustraum erfüllen. Wieder mit all deiner Kraft.“

Marie tat, wie ihr gesagt wurde.

„Und gehe in gleichmäßige, tiefe Atmung…“

Marie sog die Atemluft tief in ihren Bauch hinein.

Es dauerte nur wenige Atmenzüge, da fand sich Marie – als wäre nichts selbstverständlicher auf der Welt – unter den ihr inzwischen wohlbekannten Trommelrhythmen unter schwarzhäutigen Menschen wieder. Es spritzte Blut umher und ein Lämmchen schrie herzzerreißend. Sie war es, sie selbst hatte ein grobes Messer in der Hand. Sie hob den blutverschmierten Dolch in den Himmel und sprach Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand, die ihr aber wohlvertraut über die Lippen gingen. Sie schnitt dem blutenden, noch zuckenden Tierleib die kleine Brust auf und legte mit großer Routine das Herz frei. Es zuckte noch einmal, als sie es herausschnitt. Sie hob das kleine warme Lämmchenherz mit beiden Händen und feierlichen Worten in den Himmel. Unterdessen nahmen dunkelhäutige Helfer den Tierleichnam fort. Sie stellten eine große Schale aus purem Gold an den frei gewordenen Platz. Jetzt begriff Marie – gleichzeitig hier und dort – dass sie vor einem Altar stand. Sie schien eine Art Priester zu sein. Und als sie sich kurz umblickte, sah sie in der Tiefe ein Meer aus Grün. Sie selbst stand sehr hoch, vielleicht auf einem hohen Gebäude.

Sie legte das Herz, das noch einmal zuckte, in die Goldschale. Dann goss sie eine klare Flüssigkeit aus einer ebenfalls goldenen Karaffe auf das Herz. Die Flüssigkeit verfärbte sich sofort rot. Wieder sprach Marie salbungsvoll unbekannte, aber sehr bedeutungsvolle Worte. Dann führte sie die Schale zu ihrem Mund und trank daraus.

Ehe die Flüssigkeit ihre Lippen berühren konnte, wechselte die Szene. Die Trommelrhythmen blieben. Auch jetzt waren die Menschen um sie herum dunkelhäutig, aber wesentlich dunkler als zuvor. Und in ihrer Mitte leuchtete ein Baby – wie aus Licht. Und dann beugten sich die Schwarzen über das Kleine. Marie war außerhalb des dadurch entstehenden Menschenkreises. Jetzt war sie nicht beteiligt. Die Schwarzen hantierten vor sich, ihre Rücken reihten sich sich zum Schutz nach außen aneinander. Marie konnte nicht erkennen, was sie dort taten. Eine ganze Weile ging das so. Die Trommelrhythmen wurden immer ekstatischer. Dann löste sich dieser enge Kreis aus geschäftigen Menschen wieder auf. Sie gingen auseinander und jeder von ihnen trug ein kleines Licht in seinen Händen vor sich her.

Marie lief einer Schauer über den Rücken.

Mit einem Schlag war sie wieder in ihrem Zimmer in dem Hof in Sande. Hellwach war sie und ihr Kopf dröhnte, vor allem die Stirn schien fast zu zerplatzen.

„Bist du ok?“ fragte Helga, die sich reckte und streckte und mit den beiden Fingern der rechten Hand ihre Stirn, ihr drittes Auge rieb.

„Au weia, was war denn das?“ Marie war völlig verdutzt, klar und verwirrt zugleich.

„Bist du auch in Ordnung?“ fragte sie ihre Freundin.

„Ja, alles ok. Du musst jetzt was trinken, Marie. Wasser. Trink bitte ganz viel Wasser jetzt. Dann geht der Druck aus dem Kopf auch raus.“

„Gut, mache ich. Du auch?“

„Oh ja, ich brauche auch ein großes Glas.“

Marie schenkte ihnen beiden große Gläser mit Wasser voll, leerte ihres in einem Zug und kippte sich sofort nach. Der Druck auf der Stirn ließ ein wenig nach.

„Ich muss mal raus an die Luft,“ sagte Marie und war schon durch die Tür verschwunden.

Helga nahm eine Wasserflasche mit und folgte ihrer alten Freundin nach draußen in die kühle Abendluft.

„Was war das denn?“ schnaufte Marie und schüttelte ihren Kopf, als wollte sie das eben Erlebte oder Gesehene ungeschehen machen.

„Soweit ich das mitbekommen habe, war das eine Rückführung. Du hast noch einmal in ein altes Leben von dir hineingeschaut.“

„Nee!“ entwich es Marie. Doch sie wusste, dass es stimmte.

„Und dir wurde eine Zeremonie gezeigt.“

„Hast du das auch alles so gesehen wie ich, Helga?“

„Nein, nicht so nah. Das war ja deins. Ich habe nur die Energie versucht zu halten.“

„Puh, danke dir,“ Marie setzte sich auf die Stufen ihrer Eingangtreppe. „Das muss ich erst mal verdauen.“

Doch nach wenigen Minuten fragte sie ihre Freundin: „Wo war denn das erste, hast du das mitbekommen? Ich weiß nur, dass das sehr hoch war.“

Helga war ganz klar und schaute mit ebensolchen Augen ein wenig durch sie durch: „Das war ein Blutopfer bei den Azteken. Du warst der Priester und hast auf einer heiligen Pyramiden dem Sonnengott ein Tieropfer dargebracht.“

Helga schaute weiter durch Marie hindurch: „Und das zweite war in Schwarzafrika. Ist noch gar nicht so lange her. Ein Menschenopfer. Ein leuchtend weißes Kind haben die dort geopfert…“ Jetzt schüttelte sich Helga.

Marie konnte nicht schlafen. Gefühlte fünf Stunden lag sie nun schon hellwach in ihrem Bett. Die Bilder gingen ihr nicht aus dem Kopf und auch die Rhythmen hämmerten in ihrem Erinnerungshintergrund weiterhin von innen gegen ihren Schädel.

Es war gerade mal Viertel nach drei. Marie war erst von einer knappen halben Stunde zu Bett gegangen. Sie hatte noch lange mit Helga zusammengesessen und geredet, auch über Helgas Angst, ihren Job als Redakteurin beim Lokalblättchen zu verlieren, und die anstehende Versöhnung mit Martin, vor allem aber über die fremdvertrauten blutigen Szenen.

Ihr gesamtes Weltbild drohte aus den Fugen zu geraten: Rückführung – Reinkarnation – Karma. Die Relativität von Zeit, weit über Albert Einstein hinaus. Die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vorherbestimmtheit von Leben – Schicksal – Zufall. Es sagte sich so leicht dahin, dass sie nicht glaubte, dass etwas, wie etwa ihr aktueller Fall, ein Zufall sei. Aber wenn Marie das wirklich konsequent zu Ende dachte, stülpte es die ganze Wirklichkeit um. Und auch mit Martin hatte sie anscheinend schon eine wesentlich längere Geschichte hinter sich. Hatte sie sich in ihn verliebt oder erfüllten sie beide nur einen vorgegebenen Plan, waren die Darsteller in einem nur ihnen unbekannten Drehbuch? Und sollte dieser grausige Leichenfund der verstümmelten Kinderleiche vom Dienstag tatsächlich passiert sein, ihr passiert sein, um sie an ihre Leben zurückliegenden eigenen Grausamkeiten zu erinnern? Vielleicht sogar als eine Art Wiedergutmachung oder – wie Helga gesagt hatte – um für einen energetischen Ausgleich zu sorgen. Ja-ja, nichts im Universum geht verloren. Auch so ein Satz. Sagt sich leicht. Gelebt ändert sich alles.

Ihr naturwissenschaftlich geprägtes Ursache-Wirkungsgefüge war mehr als gewaltig ins Trudeln geraten. Sie hatte jetzt Erfahrungen – am eigenene Leib, an eigener Seele gemacht – die sie nicht mehr als Spinnereien oder Sich-selbst-was-vormachen von anderen Leuten abtun konnte. Hinter den heutigen Abend konnte Marie nicht mehr so einfach zurück. Irgendwie wurde Marie das Gefühl nicht los, dass sich ab heute ihr Leben sehr verändern würde.

Marie wälzte sich noch einige Zeit hin und her. Sie versuchte ihren Geist mit Vorfreude auf die Begegnung mit Martin heute zu beruhigen. Und tatsächlich schlief sie irgendwann ein.

20

Aus ihren unruhigen Träumen weckte Marie ein zartes Kratzen an ihrer Tür. Marie war stets ganz und sofort hellwach wenn sie aufwachte oder, wie jetzt, geweckt wurde.

„Oh, welche eine Ehre“, flüsterte sie vor sich hin, als sie Willi ihre Zimmertür öffnete. Seit Klara vor gut einem Jahr zu ihnen gezogen war, hatte sich der Hovawart immer mehr ihrer Mutter angeschlossen. Sie war schließlich den ganzen Tag da und irgendwie schienen beide den Job zu haben, auf sich gegenseitig aufzupassen. Jedenfalls kümmerte sich Willi seither sehr um Klara und schlief letztlich ab irgendwann auch bei ihr. Nur sehr selten – die große, feine Hundeseele spürte genau, wann und wo sie gebraucht wurde – kam Willi direkt zu ihr. Meist wie jetzt in den frühen Morgenstunden.

Marie knuddelte den großen sanften Hund und bedankte sich bei ihm für seine Aufmerksamkeit. Sie war erstaunlich wach und klar und nutzte die frühe Stunde, die ihr Willi geschenkt hatte, um sich gemeinsam mit ihm die frische Wittenseer Luft um die Nase wehen zu lassen.

Marie liebte die Morgenfrische und vor allem die Stille der noch schlafenden Welt. Lediglich die Vögel teilten mit ihrem zeitig entfachten Gesangskonzert den Genuss der den grauen Nebel zerteilenden und emporhebenden Lichtstrahlen mit den beiden Spaziergängern. Diese unglaubliche Kraft, die in diesem sich so viele Morgende wiederholenden Naturschauspiel lag, diese erfüllte Stille, machte Marie jedes Mal aufs neue glücklich. Ja, richtig glücklich. Es erfüllte ihr Herz und sie fühlte sich eins mit diesen Kräften, diesem erwachenden Licht, obwohl sie gleichzeitig wissentlich nur Beobachterin war.

Das Kitzeln der ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und nicht zu vergessen das Werfen von mächtigen Stöcken für Willi in den Spülsaum des Wittensees, die der bepelzte Vierbeiner mit so großer schwanzwedelnder Freude wie das Kostbarste auf der Welt zu ihr zurückbrachte, ließ Marie endlich die gestrigen Ereignisse loslassen. Ihr Herz ging Sonnenstrahl um Stöckchen auf und sie fühlte sich allmählich wieder in ihrem Körper entblättert, entfaltet, ausgebreitet.

Gut zwei Stunden waren die beiden unterwegs gewesen, als ein pitschnasser Willi und eine fröhliche Marie gegen kurz nach sieben in die Küche eintraten, in der Klara bereits den Wasserkocher für Tee und das Eierwasser in Gang gesetzt hatte. Ihre Mutter konnte wunderbar im wahrsten Sinne des Wortes sein. Manchmal hatte sie ein solch feines Gespür für das, was gerade gebraucht wurde – Marie war immer wieder verdutzt darüber. Vielleicht waren sie und Willi deshalb einander so nah. Heute Morgen genoss sie es einfach.

Sie setzte sich an den Tisch und fühlte sich wie eine glückliche Fünfjährige, als ihr Klara eine eine Tasse dampfenden Tee vor ihre auf dem Tisch verschränkten Arme stellte.

Es waren stets die kleinen Dinge, die das Glück speisten – ging ihr durch den Kopf, als sie an dem köstlichen heißen Darjeeling schlürfte. Willi schmatzte unterdessen sein Futter vor sich hin und machte ebenfalls einen zufriedenen Eindruck.

Jetzt erst fielen die ersten Worte zwischen den beiden Johannsson-Frauen.

„Danke, dass du Willi zu mir gelassen hast. Der Gang hat mir sehr gut getan, und ich glaube, dem Burschen auch.“ Marie nickte mit leuchtendem und dankbaren Gesicht in Richtung Hundeschmatzen.

„Gern doch, meen Deern. Der liebt dich eben, Marie, und der Jong weiß schon ganz gut, was dir gut tut.“

„Jau, und du auch, danke für den Tee, Mama.“ Das Mama war ihr so rausgerutscht. Lag wohl an ihren Fünfjährigenglücksgefühlen. Sonst nannte Marie ihre Mutter beim Vornamen.

Die beiden Frauen frühstückten gemütlich miteinander. Die Gemütlichkeit lag vor allem für Marie in den wenigen, aber nicht weniger liebevollen Worten, die zwischen ihnen fielen. Sie blätterte entspannt durch die Zeitung, während sich Klara in ein neues Kochbuch über vegetarische persische Küche vertiefte. Zu Maries großem Erstaunen – ihre Mutter war wirklich immer wieder für Überraschungen gut – wollte sie, die geübte Köchin, mal was neues ausprobieren und sich jetzt in diese völlig fremde Küche vertiefen. Klara hatte irgendwo gelesen, dass die persische Küche mit sehr edlen und sehr alten Gewürzen arbeitet, darunter nicht nur Curcuma oder Kreuzkümmel oder Koriander, sondern auch Rosenblätter und für das Süßen von Speisen Rosenwasser. Solche kulinarischen Kostbarkeiten konnten Klara schnell aus ihrer norddeutschen Weißkohltradition herausholen. So norddeutsch-bodenständig Klara sonst war – ihr Gaumen lechzte nach den exotischsten Reizen. Sie war vor über vierzig Jahren eine der ersten gewesen, die sich ein chinesisches Restaurant gewagt hatte und sogar diese fremde Küche gelobt und immer wieder gern genossen hatte. Sie hatte sich sogar getraut, entgegen den erbitterten Widerstand Heins, ihres Mannes, solche Gerichte wie Schweinefleisch süßsauer nachzukochen. Mit Reis! Das kannte Kartoffel-Hein ja nun gar nicht. Seine frisch geschlachteten Hühner mochte er schon mit dieser seltsamen gelben, aber immerhin süßen Soße essen. Und so kochte Klara ihm eben drei Kartoffeln extra zum indischen Curryhuhn mit Ananas – und der Johannsson-Frieden war gewahrt.

Marie musste kurz an den gestrigen Abend mit Helga denken und daran, dass ihre Mutter dann wohl auch nicht nur eine norddeutsche Deern sein könne. Wenigstens etwas Asiatisches war wohl auch in Klara verankert.

Lukas schlief heute am Samstag richtig aus. Er hatte gestern wohl noch lange an seinem Buddelschiff gebaut. Marie hatte wegen ihrer eigenen Aufregung gar nicht mitbekommen, wann ihr Sohn ins Bett gegangen war. Aber es war ja auch Wochenende – und sowieso konnte Lukas seine Schlafenszeiten meistens ganz gut selbst einschätzen. Auf Nachfrage erklärte Klara, dass sie Lukas gegen halb zehn ins Bett gebracht hätte. Und darüberhinaus liebte es der Junge, morgens im Bett noch ganz in Ruhe Bücher anzuschauen oder zu lesen.

Marie pusselte schon einige Zeit im Garten herum. Das war sehr ungewöhnlich, denn sie hatte wahrlich nicht Klaras grünen Daumen geerbt, aber passend, da sie angesichts der aufregenden Ereignisse um sich herum etwas mit ihren Händen, etwas Körperliches tun musste. Und Holzhacken war ihr jetzt beileibe zu grob . Da tauchte Lukas in der Wohnküche auf. Marie sah ihren Sohn durch die angelehnte Terassentür. Sie zupfte das Unkraut noch in dem kleinen angefangenen Kräuterbeet zu Ende, wusch sich ihre irdenen Hände und ging in die Küche.

„Guten Morgen, meen Jong. Gut geschlafen?“

„Morgen, Mama. Ja – bis auf einen seltsamen Traum, in dem ein Stern vom Himmel fällt, in tausend Teile zerbricht und dunkle Menschen die ganzen leuchtenden Sternenstückchen in alle Winde verstreuen.“

Woher hatte der Junge denn wieder dieses Bild? Das erinnerte Marie doch verdächtig an ihre gestrige zweite Vision. Sie sprach Lukas aber nicht weiter drauf an. Sie hatte es sich fest vorgenommen und hielt sich auch daran, ihre Familie, vor allem aber ihren kleinen Jungen aus ihrer Polizeiarbeit herauszuhalten. Er war schließlich ein Kind und Marie wollte ihn, so gut es ging und so lange es möglich war, gegen die Schattenseiten dieser Welt, vor allem der Menschen, bewahren und beschützen. Doch der Achtjährige klinkte sich mit seinen Bildern und Ahnungen immer wieder von sich aus in ihre Fälle ein, die nun wahrlich nicht von der Sonnenseite der Menschen bestimmt waren.

Marie stimmte den deutschsprachigen Song an: „Du bist der Sternenstaub, wir sind vom selben Stern…“

Marie erreichte damit sofort ihr kleines Ziel:. Sie wollte nicht in die Bilder und Gedanken zu ihrem Fall hineingeraten und diese Energien hier an den Frühstückstisch holen. Lukas grinste und summte mit.

In diesem Moment kam Klara herein: „Oh – Peterchens Mondfahrt?“

„Nee, eher Lukas´chens Sternesammeln.“

„Möchtest du etwas anderes als schwarzen Tee, Lukas?“ fragte Marie ihren Sohn.

„Oh ja, machst du mir einen Kakao, Mama?“

„Süß oder salzig?“

„Salzig?“

„War ein Witz, mein Sohnemann. Obwohl – die Inder trinken ja ein salziges Joghurtgetränk, mit Kräutern, indischen Gewürzen und auch gut Salz. Kräuter-Lassie.“

„Lieber morgen mal,“ konterte Lukas sehr geschickt.

Marie spülte einen Topf mit kaltem Wasser durch und goss die Sojamilch hinein. In einem kleinen Schälchen rührte sie Carob-Pulver mit Rohrzucker glatt und ließ die schwarzbraune Flüssigkeit langsam in die dampfende Milch einfließen, während sie das Gemisch mit einem Schneebesen verrührte. Seit kurzem hatten die Johannssons die Milch durch Sojamilch ersetzt – denn schließlich ging es den Milchkühen in den Milchgroßproduktionsstätten nicht besser als denen, die zu Fleisch verwurstet wurden. Im Gegenteil mussten diese Kühe sogar jahrelang lang mit einem überzüchteten gigantischen Euter in engen Betonboxen stehen. Der Mensch hatte sie inzwischen so zu Milcherzeugungsmaschinen runtergezüchtet, dass sie nicht einmal mehr auf einer satten grünen Wiese satt würden. Oben wurde Kraftfutter reingesteckt und unten kamen Unmengen Milch raus, fünfzig Liter am Tag pro Hochleistungskuh, manche sogar sechzig. Als sie das gelesen hatten, hatte es allen Johannssons den Appetitt auf Milch gründlich verdorben. Und mit der Sojamilch hatten alle drei nach einer kurzen Umgewöhnungszeit eine passable Alternative gefunden.

Lukas wurde heute mal wieder von seinen beiden Frauen richtig verwöhnt. Zum Kakao hatte ihm Klara frischen Toast mit seinem geliebten Rührei gemacht.

Nachdem er seine morgentlichen Köstlichkeiten verdrückt hatte, zog sich Lukas in sein Zimmer zurück: „Ich muss das Buddelschiff noch fertig machen. Schließlich kommt doch heute Abend Martin, nich?“

Heute würden die beiden Frauen den Jungen nur zu den Mahlzeiten zu Gesicht bekommen. Lukas war im „Fertigmachen“-Fieber und da half gar nichts – außer fertig machen.

Marie half ihrer Mutter, das Haus auf Vordermann zu bringen: saugen, wischen – oder feudeln, wie man hier oben sagt – und alles wienern, was sich wienern lässt.

Das Mittagessen aus Bratkartoffeln und Salat fiel kurz aus. Alle drei Johannssons hatten was vor und wollten mit dem Essen nur ihren leeren Bauch füllen. Lukas zog sich sofort nach seinem letzten Bissen wieder zu seinem Buddelschiff zurück. Klara war mit einer Freundin verabredet, warf sich ein wenig in Schale – was Marie mit verdutztem Wohlwollen registrierte, sich aber Gottlob jeglichen Kommentar verkniff. Klara machte sich also kurz darauf auf den Patt.

Marie wollte sich eigentlich zu einer ausgiebigen Meditation zurückziehen. Doch als sie in ihrem Zimmer ankam, fühlte sie sich mit einem Mal so bleischwer, dass sie sich nur noch auf ihr kleines Sofa rollen konnte und, kaum in der Waagerechten, auch schon weggenickert war.

Marie träumte wirres Zeug, von leuchtenden Babys, die vom Himmel fielen, von schwarzen Männern, die sie verfolgten, und davon, wie sie selbst mit riesigen Messern Kehlen durchschnitt. Schweißgebadet wachte sie nach einer Stunde auf, als sie mit heftigen Handbewegungen ihr beim Davonrennen ins Gesicht schlagende Zweige wegschlug.

Die Nachwehen von gestern, überhaupt von der ganzen Woche. Marie stellte sich unter die heiße Dusche. Ihre nasse Haut rieb sie mit Meersalz ab, das sie immer im Bad vorrätig hatte. Das war ein Tip von Mochita: Mit Meersalz konnte man die Aura von Schlacken reinigen. Marie war wie immer erst skeptisch gewesen, hatte es dann aber in einer ähnlichen Situation ausprobiert – und es funktionierte. Das anschließend abgespülte Wasser war meist ungewöhnlich schmutzig-grau – auch wenn ihr Körper völlig sauber war. Sie selbst fühlte sich hinterher nicht nur frisch, sondern auf unerklärliche Weise sehr erleichert, nicht nur körperlich, sondern in ihrem gesamten Befinden und auch in ihrem Kopf, in ihren Gedankengängen.

Heute wollte und musste sie diese ganze seltsame Woche abspülen. Mochita würde sagen: sich von deren Energien und Anhaftungen reinigen. Nach der Salzdusche ging es Marie auch heute wieder deutlich besser.

Anschließend stieg sie in ihre ausgiebige Meditation ein. Diese unsichtbare Reinigung schien ihr sehr gut getan zu haben. Die Meditation verlief ruhig und entspannt. Es tauchten keine wirren oder grausigen Bilder in ihrem Kopf auf, die Marie nicht sofort hätte wegschicken und loslassen können.

Allmählich kehrten Maries Kraft und Klarheit zurück. Allerdings wurde sie immer mehr von aufflammendem Herzklopfen und wattebauschigen Angstwellen durchzogen. In knapp zwei Stunden würde Martin an der Tür schellen. Der große rote Mann, der ihr ganzes Leben durcheinandergebracht hatte, weil seine Gegenwart es so geordnet, in ruhigem Fahrwasser hatte dahinziehen lassen. Ein Mann, der so unglaublich bedingungslos lieben konnte. Und sein Los war auf sie gefallen. Ausgerechnet. Gott sei Dank.

Mitten in ihre Gedanken hinein schellte das Telefon.

Marie rannte zum Apparat. Hoffentlich machte Martin nun keinen Rückzieher. Schließlich hatte sie ihn ja mächtig vors Schienenbein getreten mit ihrer blinden Männeraufreißaktion. Eigentlich war sie ein ganz schöner Macho. Oder hieß das Macha?

„Speckmann, Polizeidienststelle Rendsburg. Spreche ich mit Kiminalhauptkommissarin Johannsson?“

„Ja, hier Johannsson.“ Ja sicher, Marie hatte sich vor lauter Versunkensein in ihrem inneren Film gar nicht am Telefon gemeldet.

„Ja, Frau Kommissarin Johannsson, hier ist Jürgen Speckmann, Polizeimeister vom zweiten Revier. Entschuldigen Sie, dass ich Sie am Wochenende zuhause anrufe. Aber ich dachte mir…das ging ja hier die Woche durch die Presse… Ich dachte mir, dass würde Sie sicherlich gleich wissen wollen. Bei uns ist gerade ein winziger Finger abgegeben worden.“

Fünfunddreißig Minuten später stand Marie vor Jürgen Speckmann. Der junge Polizeimeister begrüßte sie freundlich und zeigte nur stumm mit einem Kopfnicken auf einen kleinen Aktenschrank neben seinem Schreibtisch. Marie sah ein kleines, hübsch verziehrtes Holzkistchen. Vermutlich irgendein edles Tropenholz, ein Edelholz. Sie hob sie vorsichtig auf den Tresen der Polizeistation.

„Das sieht nicht schön aus,“ kam es warnend von der Seite.

Das glaube ich wohl – dachte Marie, als sie langsam den Deckel liftete.

Aber was sie sah, übertraff bei weitem ihre schreckliche Vorahnung. Sie musste erst einmal den Holzdeckel wieder absenken und ein paar Mal tief Luft holen. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hob den Deckel des Kästchens erneut an und starrte nun mit halb offenem Mund hinein.

„Danke, Herr Speckmann, dass Sie mir sofort Bescheid gegeben haben. Das hier gehört mit ziehmlich großer Wahrscheinlichkeit zu unserem aktuellen Fall. Wie ist das zu Ihnen gekommen?“

„Das hat vor einer knappen Stunde ein junges Pärchen bei mir abgegeben. Sie haben das Kästchen mitten auf der Wiese an der Eider gefunden. Sie wollten dort Picknick machen und haben das Holzkästchen zum Ausbreiten ihrer Decke beiseite räumen wollen und dann ist sie mit ihrem entsetzlichen Inhalt aufgegangen. Die beiden haben gleich erkannt, was es ist und sind sofort zur Polizei gekommen.“

„Auf welcher Eiderwiese war das?“ fragte Marie, eine Verbindung ahnend.

„Unten in der Nähe vom Hafen. Da geht ein Fußpad von der Aalkate ab, und der führt direkt zu schönen Wiesen direkt am Wasser. Dort liegen gerne mal junge Liebespärchen.“

„Sagten Sie Aalkate?“

„Ja. Das fand ich ja auch so auffällig. Weil, Sie haben doch die Babyleiche in der Markthalle gefunden. Und die liegt ja in der Aalkate. Das liegt keine achthundert Meter auseinander.“

„Ja, danke nochmals, Herr Speckmann. Das haben Sie genau richtig gemacht, mir gleich Bescheid zugeben. Ich werde das Fundstück gleich an unseren Pathologen weitergeben. Kann ich grad mal bei Ihnen telefonieren?“

„Sicher, nur die Null vorwählen.“

Marie kannte die Nummer inzwischen auswendig. Sie konnte sich ohnehin Zahlen gut merken, besser als Namen.

„Oh, Sie sind tatsächlich im Dienst am Samstag! Guten Tag auch, Dr. Möller. Ich hab´s nur mal auf gut Glück probiert, ehe ich Sie zuhause gestört hätte.“

„Guten Tag, Frau Johannsson, Sie sind ja wohl auch immer im Dienst,“ antwortete der Kieler Gerichtsmediziner.

„Ich würde Ihnen gerne was vorbeibringen. Sind Sie noch eine Stunde da?“

„Ja sicher, kommen Sie nur. Was haben Sie denn für mich?“
„Sie werden´s kaum glauben. Einen Finger, einen winzigen Babyfinger, so weit ich das erkennen kann.“

„Ooohh!“ kam es erstaunt vom anderen Ende der Leitung.

„Ist noch nicht alles!“ Marie schluckte. „Dem fehlt die Haut!“

„Oh nein! Was für eine Perversion läuft denn da wieder ab?“ entsetzte sich Dr. Möller.

„Ich weiß es auch nicht,“ pflichtete Marie ihm bei. „Die Menschen treiben die seltsamsten Blüten. Dieser Fall hat es ganz schön in sich und ist irgendwie ziehmlich eklig! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, auf was wir da noch stoßen sollen.“

Die beiden Polizeiprofis schwiegen sich einige lange Sekunden an.

„Muss ich für den Transport etwas beachten. Kühlen vielleicht?“

„Nein, Frau Johannsson. Sie kommen doch jetzt gleich vorbei, nicht?“

„Ja, ich bin in gut einer halben Stunde da.“
„Dann lassen Sie das Fundstück bitte einfach so. Dann bleibt die Temperatur relativ konstant und die zeitlichen Abläufe sind für mich leichter und präziser zu bestimmen.“

„Ok, ich mache mich dann auf den Weg. Bis gleich, Dr. Möller.“

Marie drückte das Holzkästchen fest zu.

„Hier habe ich Ihnen noch Namen und Adresse der jungen Leute aufgeschrieben, die das da gefunden haben. Ist ja wohl eher Zufall, aber nur, falls Sie doch noch mit den beiden sprechen wollen. Mir konnten sie sonst nichts Auffälliges mitteilen. Es war kein Mensch dort zu sehen. Ist ja auch noch nicht richtiges Picknickwetter. Auch sonst kein auffälliges Auto, ihnen ist nichts ungewöhnlich vorgekommen.“

„Ja, vielen Dank, Herr Speckmann. Sie waren eine große Hilfe. Danke. Wenn Sie noch irgendetwas erfahren sollten, wissen Sie ja, wo und wie sich mich erreichen können. Ich bringe das Fundstück jetzt erst Mal nach Kiel. Und Ihnen wünsche ich noch einen weniger aufregenden Samstagabend. Müssen Sie noch lange?“
„Ja, ich habe Spätschicht heute. Aber ist schon in Ordnung. Ich arbeite ganz gerne am Wochenende. Da ist meist was anderes los als die Routine in der Woche. Aber das hier heute war schon ziehmlich heftig.“

„Tschüs dann, und danke nochmals für Ihr Mitdenken.“

Das war auch schon wieder so eine überflüssige Bemerkung – fiel es der sehr nervösen Marie auf. Als müsse man, und noch gerade sie, betonen, dass auch ein einfacher Polizeibeamter mitdenken könne. Aber nun war´s ihr herausgerutscht und in der Welt und weitere Worte dazu würden das Ganze nur weiter verstärken. Marie lächelte Jürgen Speckmann noch einmal freundlich zu und drehte sich dann dem Ausgang zu.

„Auf Wiedersehen, Frau Johannsson. Und viel Erfolg bei der Aufklärung des Falls.“

„Ja, danke. Kann ich gebrauchen.“ Speckmann schien ihr ihre kleine Höhere-Beamten-Laufbahn-Arroganz nicht übel zu nehmen.

Als Marie das kleine Holzkästchen auf den Edelstahltisch in Dr. Möllers Katakomben stellte, machte sich ein wenig Erleichterung in ihr breit. Jetzt konnte sie dieses grausame Indiz abtreten und wusste es zugleich bei dem Pathologen in guten Händen.

„Sieht wahrscheinlich schrecklich aus,“ sagte Dr. Möller halb wissend, halb fragend halb zu sich, halb zu Marie, als er den braunen Deckel anhob.

„So winzig noch,“ kommentierte er den Fund, als er ihn mit einer Pinzette in eine daneben bereitgestellte Schale legte. „Ja, das ist ein menschlicher Finger, und auch von einem sehr kleinen Kind. Könnte unser fehlender Ringfinger sein. Was in Gottes Namen haben die bloß mit der Haut gemacht? Und den restlichen Finger einfach als Abfall entsorgt?“

„Sie hatten doch gesagt, dass die Finger einige Zeit vor Eintritt des Todes des Kleinen entfernt wurden? Habe ich das richtig in Erinnerung?“ fragte Marie nach.

„Ja, genau. Und zwar wurden die kleinen Finger einige Zeit vor dem Ringfinger abgenommen, ziehmlich professionell. Zwei bis drei Wochen liegen zwischen den beiden Amputationen. Und der Ringfinger wurde etwa zehn Tage vor seinem Tod entfernt.“

„Also muss den ja jemand – wahrscheinlich mit der Leiche – zu der Obsthalle gebracht haben. Das spräche ja definitiv dafür, dass der Kleine erst hier in Rendsburg in seine Bananenkiste verfrachtet wurde.“

„Vermutlich.“

„Können Sie den Zeitpunkt eingrenzen, zu dem die Haut entfernt wurde?“

„Ja sicher, aber dazu brauche ich etwas Zeit. So aus dem hohlen Bauch vermute ich mal, dass das etwa zum Zeitpunkt der Amputation passiert ist, oder nur unwesentlich später. Aber genauer gibt’s das erst Anfang der Woche.“

„Na gut. Ich kann jetzt wohl erst mal nichts weiter tun. Now it´s your turn.“

„Ja, ich gehe auch gleich nach Hause und werde mich morgen drum kümmern. Sie machen doch jetzt auch Feierabend, nicht?“ bemerkte der aufmerksame Mediziner im Pathologen.

Feierabend. Samstagabend.

Marie schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach sechs. Martin war ein pünktlicher Mensch und nun schon eine Viertelstunde bei ihr zuhause. Sie würde mal wieder zu spät kommen. Zum hundertausendsten Mal. Gut, das war ein Punkt, den konnte sie mit einem Neuanfang nicht verändern. Aber ein besonders guter Anfang war das nicht. Nun, das war ihre Berufskrankheit. Die hatte Martin auch nur selten wirklich gestört. Es gab ja genug anderes, was sie zu korrigieren hatte, wo sie sich selbst nun auch fordern wollte, lernen wollte, sich verändern wollte. Um sieben würde sie auf jeden Fall zuhause sein. Ausgerechnet heute war nun auch ihre Mutter nicht da, aber Lukas. Und vielleicht war es sogar ganz gut, wenn die beiden Männer sich erst einmal eine Weile selbst hatten.

Marie verabschiedete sich von Dr. Möller und machte sich mit einsetzendem und aufwallendem Herzklopfen auf den Heimweg.

21

„Das ist ja ein Timing!“ wurde Marie von einer weichen, klaren Männerstimme aus einem konzentriert nach vorne über den Tisch gebeugten Körper begrüßt.

„Mama, Mama! Du kommst genau richtig. Wir richten jetzt das Schiff auf. Komm schnell gucken.“ Lukas war total aufgeregt.

Marie knutschte ihren Sohn inständig ab, so dass sich dieser regelrecht aus ihrer Umarmung befreien musste. Sie war so dankbar für die Begegnungsbrücke, die ihr ihre Männer gebaut hatten. Martin, der alle Hände voll zu tun hatte, legte sie still ihre Hand auf die Schulter und ließ sie dort erst einmal liegen. Ihre Hand fühlte sich an Martins Körper schon gleich wieder vertraut zuhause. Und sie spürte, dass sie dort willkommen war.

Martin hielt die Fäden in der Hand, die aus der Flasche herauskamen.

„So Lukas, ich müsste sie alle haben. Jetzt nimm du die Pinzette und zieh vorsichtig den Strang hier weiter aus der Flasche heraus. Dein Stapellauf…“

„Wo ist die denn? Ich finde sie nicht! Ich kann das nicht! Ich mach das bestimmt kaputt!“ Lukas wurde immer hibbeliger angesichts der Fertigstellung seiner einwöchigen Arbeit.

„Mach ganz in Ruhe, Junge.“ Martin strahlte eine solche Ruhe und Gelassenheit aus. Marie hätte ihn vor Begeisterung vom Stuhl zerren können.

„Die Pinzette liegt am anderen Ende des Tischs, guck mal, da hinten.“ Martin nickte mit seinem schönen Kopf in die Richtung geradeaus vor sich.

Marie verliebte sich von Sekunde zu Sekunde wieder mehr oder neu, in jedem Fall so unglaublich wunderbar und stark und total…in diesen Mann unter ihrer linken Hand.

Lukas ging um den Tisch herum und griff sich die Pinzette.

„So komm. Ganz langsam. Ich halte die Flasche und stabilisiere die Fäden hier. Ok?“

Lukas nickte folgsam.

„Jetzt nimmst du die Fäden hier mit der Pinzette auf.“

Lukas war so aufgeregt, dass ihm immer einige Fäden aus dem Fang der Pinzette entglitten.

„Denk daran. Das ist dein Zweimaster. Du hast den vorgebaut, in die Flasche gesetzt und da drin fertig gemacht. Du bist ein Pinzettenkünstler. Denn schließlich konntest du ja nicht mit deinen Fingern in der Flasche hantieren.“

Lukas grinste.

„Jetzt machst du es nur noch fertig.“

Wie durch einen goldenen Schlauch ging Martins Ruhe, Klarheit und Zuversicht auf den achtjährigen Jungen über. Lukas Gesicht wurde ernst, aber entspannte sich. Er nahm mit der Pinzette die Fäden auf und zog behutsam an ihnen.

„Etwas stärker, glaube ich,“ half ihm Martin.

Und mit dem nächsten Zug zuckte das in der Flasche noch größtenteils zusammengefaltete Segelschiff.

„Guckt mal, es bewegt sich!“ Lukas leuchtete seine Mutter und ihren und seinen Freund an.

„Gut machst du das,“ lobten Marie und Martin den Jungen fast wie aus einem Munde. Die beiden Erwachsenen schauten sich ernst mit einem langen Wimpernschlag an.

Langsam und wie aus dem Bilderbuch entfaltete sich durch Lukas vorsichtigen Zug an den Fäden in der Flasche ein eleganter Zweimaster. Die beiden weißen Großsegel richteten sich gleichzeitig an ihren Masten auf. Dabei spannte sich die ganze Miniatur-Takelage über das Deck.

„Guckt mal, die Vorstag und die Achterstag und die Backstagen und an den Seiten die Wanten. Auch die Webleinen sind dran, dass man auf den Mast hochsteigen kann. Die ganze Rigg steht und alles ist richtig. Ist das nicht toll?“

Lukas quoll vor Begeisterung über und zappelte aufgeregt hin und her.

„Jetzt noch die Masten ankleben.“

Während Lukas so schnell er konnte in sein Zimmer rannte, um den Klebstoff zu holen, griff Martins rechte Hand nach oben und zog sanft Maries Kopf in die Reichweite seiner Lippen. Er küsste sie und sie küsste ihn ohne brennende Leidenschaft, aber mit der tiefen Erleichterung über den Platz, den sie wieder für ihre Liebe geschaffen hatten. Beide empfanden eine herzerfüllende Freude. Für das Feuer, das auch in ihnen brannte und ihre Körper vorglühte, würde die Zeit noch kommen. Als Lukas mit dem Kleber in der Hand wieder hereinplatzte schauten sie sich nur noch an.

„Soll ich schon mal eine Belohnungspizza für meine Freibeuter in den Ofen schmeißen?“ fragte Marie, ihre Hände schwerlich von Martins Körper zurückziehend.

„Ja, Mama.“ Lukas war schon wieder konzentriert bei der Buddelarbeit und schaute weiter auf seinen Metallstift, mit dem er vorsichtig gezielt Klebstofftropfen auf die Verbindung zwischen Masten und Decksplanken bugsierte.

Er ist für einen Jungen in seinem Alter wirklich sehr geschickt, ging es Marie durch den Kopf.

„Spinat, Mozarella oder Gorgonzola?“

„Spinat,“ quetschte sich Lukas gerade noch aus seinen vor Konzentration ganz schmal gepressten Lippen heraus. „Aber ohne Knobi.“

„Für mich Gorgonzola mit,“ wünschte sich Martin und leuchtete dabei Marie offen an.

„Ok, ihr Piraten. Ich will sehen, was sich in der Kombüse machen lässt.“

„Mama, wir sind keine Piraten…“ Lukas dehnte seine Worte in verdeutlichende Länge. Er war sich sicher, dass das seine Mutter nie verstehen würde. Schließlich war er ein Freibeuter, voll edler Gesinnung, Rächer im Dienste der Armen, und nicht einfach ein Räuber.

Der Klebstoff trocknete schnell und Lukas überprüfte mit dem Metallstift, ob alles fest saß. Dann schnitt er mit einem Minimesser nach und nach die Zugfäden ab. Die letzten überstehenden Fadenenden versenkten die beiden Männer in der See aus blauer Knetmasse, in der der schmucke Zweimaster seinen Kiel versenkt und Halt gefunden hatte. Lukas schraubte noch den Verschluss auf die Buddelflasche und lehnte sich zufrieden zurück: „Fertig!“

„Und sehr schön ist es geworden,“ ergänzte Martin, der das Buddelschiff in der Holzhalterung zurechtrückte und nun erstmals loslassen konnte.

Das Timing blieb. Marie kam mit den dampfenden Pizzen herein und stellte neben jeden ihrer zufrieden im Stuhl zurückgelehnt dasitzenden Männer einen Teller mit der georderten Sorte ab. Dann kam sie selbst mit ihrem Teller zurück und setzte sich den beiden gegenüber.

Während Lukas zugleich etwas lustlos an seiner Pizza mümmelte und das Schiff in der Flasche vor sich hin und her drehte, um es von allen Seiten zu begutachten, murmelte er vor sich hin: „Aber ich finde das schwarze Baby nicht, das soll doch mit dem Schiff zurück nach Afrika fahren.“

Marie sah Martin fragend an. Hatte ihr Sohn tatsächlich jetzt und hier von einem schwarzen Baby gesprochen?

Martin blickte sie stumm zustimmend an, zuckte aber gleichzeitig mit seinen Schultern, weil er den Satz überhaupt nicht verstanden hatte.

Was hatte denn ihr Junge mit ihrem aktuellen Fall zu tun, denn woher sollte sonst das schwarze Baby kommen? Lukas hatte schon einige seltsame Bemerkungen gemacht, die auf die Albino-Babyleiche anspielten. Von wegen schwarze Puppe in der Holzkiste, das bald nicht mehr weint und nie mehr lacht. Und die afrikanische Puppe, die um ihre große Schwester weint. Musste sie noch nach einer Schwester des toten Kleinen suchen? Was war das nur?

Während Marie noch mit fragendem Gesichtausdruck überlegte, nahm ihr Martin die Entscheidung ab: „Was für ein schwarzes Baby?“

„Die Holzkiste mit den Fingern. Sie wollen es retten. Vor dem Onkel.“ Lukas starrte geistesabwesend auf seinen Zweimaster, als diese Worte aus ihm herauskamen. „Scharfes Messer. Die Mama weint. Sucht die Schwester im Himmel.“

Beim nächsten Bissen in seine Spinatpizza, die er automatisch gegriffen hatte, klärten sich augenblicklich Lukas Augen und er schaute seine Mutter wie ein gewöhnlicher achtjähriger Junge an, zufrieden und stolz, weil er gerade etwas geschafft und fertig gemacht hatte. Marie wusste, ihr Sohn wusste nicht, was er gerade gesagt hatte, wenn sie ihn jetzt darauf ansprechen oder nachfragen würde. Er war gerade ganz woanders gewesen – sie hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, wo das bloß war – und jetzt war er wieder bei ihnen.

Marie verstand einfach nicht, was ihr kleiner Junge mit dem gewaltsamen Tod eines schwarzen Albino-Säuglings zu tun hatte. Dass sie möglicherweise irgendwelche alten schamanischen Verbindungen aus grauer Vorzeit zu dem Fall hatte, das konnte sie ja noch knapp hinnehmen. Aber doch nicht ihr Kleiner. Lukas war doch ein unschuldiges Kind. Und sie wollte nicht, dass Lukas in irgendeiner Form durch und mit ihrem Beruf in Mitleidenschaft gezogen wurde. Für all die Grauen und dunklen Seiten dieser Welt war Lukas doch nun wirklich zu jung.

Marie schaute ihren Sohn intensiv prüfend an. Doch Lukas sprach nun wie ein ganz normaler Achtjähriger mit Martin. Wie ein kleiner König freute sich der Junge über sein Werk. Dabei mampfte er mit vollen Backen Riesenstücke seiner Pizza in sich hinein.

Marie und Martin standen in Lukas´ Schlafzimmertür. Der Junge war sofort und mit dem zufriedendsten Lächeln auf den Lippen, dass die Welt zu bieten hat, eingeschlafen. In Zeitlupen gefasster Überlänge standen die beiden im Türrahmen und starrten bald in das Dunkel des Kinderzimmers. Keiner der beiden traute sich, als erster dem anderen den Blick zuzuwenden. Er müsste dann wahrscheinlich auch die nächste Handlung entscheiden müssen. In beiden brannte ein mehr als verunsichertes Verlangen. Schier endlose Minuten wagten weder Marie noch Martin den Vorhang zwischen ihnen beiseite zu ziehen. Mehr trennte die beiden nicht mehr von dem Aufeinanderprallen und Ineinandergleiten ihrer einander begehrenden Körper.

Da entzauberte das Umdrehen eines Schlüssels in der Haustür das Dornröschenszenario. Flüstern und Tuscheln und „Pschts“ drangen kaum zu ihnen hervor. Nun löste sich Marie aus dem Standbild, nahm Martins Hand in ihre und zog ihn, ebenfalls flüsternd und mit „pscht“ eine Zimmertür weiter, zu ihrem Schlafzimmer. Sie hörten noch, wie zahlreiche Schritte, so leise es auf einer Holztreppe möglich war, selbige nach oben geschlichen kamen – mehr Schritte, als Klara allein hätte machen können. Das Tuscheln bewegte sich an der gerade noch vor ihm lautlos geschlossenen Schlafzimmertür Maries vorbei, um am Ende des Gangs in Klaras Reich zu verschwinden.

„Hei-hei-hei,“ entwich es mit dem Gemisch aus Hochachtung und leicht arroganter Verwunderung, die typisch ist für die noch etwas Jüngeren, sexuell aktiven, wenn die etwas Älteren, vermeintlich nicht mehr sexuell aktiven, dies dann dennoch sind.

Doch ehe sich Marie weiter mit dem Sexualleben ihrer Mutter beschäftigen konnte, erwachte ihres durch Martin, der sie wortlos zu sich heranzog und eng in seine weiten Arme nahm und küsste und küsste und küsste.

Sie liebten sich den ganzen Rest der Nacht hindurch. Immer wieder nährte das lang zurückgehaltene Sehnen, vor allem aber das Wiedererobern einer fremden Vertrautheit ihre Körper, ihre Lust. Martin glitt nach ihrer Vollendung der Lust mit seinem Gesicht in Maries Achsel und sog ihren Geruch mit grunzendem Wohlbehagen in sich auf. Marie legte sich nach einem erneuten Akt verkehrtherum zwischen die Beine ihres Geliebten und schmiegte sich voll zärtlicher Hingabe an das schlaffe Glied Martins an. Auch sie trank sich satt an seinen Gerüchen und fühlte sich satt an den Gegensätzen seiner männlichen Behaarung und seinen Zonen zartester Babyhaut. Von dieser Position hatte auch Martin etwas. Er sog die orientalischen Wohlgerüche der sich ihm unvermittelt offenlegenden Täler der Lust seiner Geliebten in sich ein.

Ehe sich einer der beiden in die Träume des wohlgefälligen Schlafs zurückziehen konnte, entzündeten sich wieder die Flammen in ihren Körpern und entluden sich in erneutem ekstatischem Liebesspiel. Es war als hätten beide Körper und beide Seelen nur auf dieses Zusammentreffen in dieser Nacht gewartet.

Erst spät am Morgen schlummerten die beiden voneinander gesättigt und eng umschlungen ein.

Das musste gegen sieben Uhr gewesen sein, denn schon eine Stunde später krabbelte ein achtjähriger Junge unter ihre Bettdecken und kuschelte sich zwischen die beiden sich allmählich abkühlenden Leiber. Sie teilten den Strom der Liebe gerne mit Lukas, schliefen noch eine Dreiviertelstunde zu Dritt einen glückseligen Schlaf, ehe Marie unruhig wurde und aufstehen musste. Sie ließ zwei zufriedene Gesichter zwischen Bergen von Kissen und Plumeaus zurück.

In der Küche begegnete Marie noch einer mit den Worten „Wir brauchen noch etwas Zeit. Aber wir kommen auch gleich.“ und einer Thermoskanne mit Tee aus der Tür huschenden Klara.

Marie freute sich für ihre Mutter. Klara hatte gut sechs Monate lang ihren Mann gepflegt. Krebs. Und am Ende für alle Beteiligten schwer aushaltbares Siechtum. Immerhin hatten die beiden Frauen für eine annähernd schmerzfreie Zeit sorgen können, indem sie sich intensiv um einen ambulanten Palliativdienst für Hein gekümmert hatten. Aber Klara hatte das Ende ihres geliebten Hein, mit dem sie 44 Jahre verheiratet gewesen war, kaum selbst verwunden. Er war ihre große Liebe, trotz ihres Bildungsunterschiedes. Hein war ein schleswig-holsteinischer Bauer, mit seinem Herzen am rechten Fleck gewesen. Er behandelte seine Tiere im Gegensatz zu vielen anderen immer gut.

Zunächst sah es so aus, als würde Klara sich auf ihr eigenes Ende vorbereiten, als Marie ihre Mutter vor einem Jahr zu sich auf den Hof nahm. Da kam dann so ein Spruch von wegen „dann werden sie mich hier mit den Füßen zuerst raustragen, na gut, dann ist das eben so.“

Aber das Leben hier auf dem kleinen umgebauten Hof, vor allem das Gebrauchtwerden durch Lukas, der seine Oma über alles liebte und achtete und ihre Verwöhnungen genoss, aber auch von Marie, die zu ihrem eigenen Erstaunen in der Nähe des Zusammenwohnens wieder einen inneren Kontakt mit ihrer Mutter bekam und vieles aus ihrem eigenen Leben und Alltag mit ihr teilte und besprach, all das gab Klara das Gefühl, gebraucht zu werden, neuen Lebenssinn und stärkte ihre eigentlich stets vorhandene Lebensfreude.

Und nun das – ein Liebhaber, mit 69 Jahren hatte sie es geschafft. Marie grinste breit und freute sich von ganzem Herzen über das Glück ihrer Mutter. Und nebenbei war sie wie eine Achtzehnjährige unglaublich neugierig, wer denn der Glückliche war, wie er war, was für ein Typ und überhaupt, wie er aussah.

Marie kochte sich einen grünen Tee, ihr morgentliches Lieblings- und Zu-sich-Kommen-Getränk. Ihre Männer würden sicher noch eine Weile schlafen. Normalerweise würde sich Willi nun zu ihr gesellen, seine Streicheleinheiten abholen und versuchen, sie auf einen Gang zu überreden. Doch der Hovawart war nirgends zu sehen. Er passt wohl auf Klara in ihrer neuen Situation auf.

So nutzte Marie die sonntagmorgendliche Stille für eine kleine Lichtmeditation. Sie mümmelte sich dazu mit ihrem Tee in der Hand auf der bereits zart von der Sonne erhellten Terrasse in einem Korbsessel in eine Decke ein. Heute Morgen erschien ihr das Licht besonders strahlend, und irgendetwas schien auch innen aus ihr heraus zu leuchten. Marie fühlte sich glücklich, offen und auf eine so angenehme Weise leer und voll zugleich.

Eine halbe Stunde später standen die beiden Johannsson-Frauen Schulter an Schulter vor der Küchenanrichte und feixten wie Sechzehnjährige nach ihrer ersten Nacht der Nächte über ihre letzte. Sie kicherten, stießen sich mit achtungsvollem Staunen an und juchzten mehr, als sie Details austauschten.

Zu dem Glückssprenkel versprühenden Frauenduett gesellten sich nach und nach vier männliche Wesen: Martin und Willi, dann Lukas und zuletzt ein fremder Mann, der trotz seines verwegen-weisen, sehr vollen grauweißen Haarschopfs etwas verlegen dreinschaute. Drei offene Münder starrten ihn kurz an, ehe sich Klara neben ihn stellte und die Stille durchbrach: „Das hier ist Fritz.“ Dabei strahlte sie den großen, schlanken Mann, der anfang Siebzig sein mochte, aus vollstem Gesicht an. „Merkt ihn euch. Er wird jetzt wohl öfters kommen.“

Und Klara küsste ihren Fritz kurz und zärtlich, während er seinen Arm um ihre Hüften legte. Marie und Martin nahmen den immer noch mit offenem Mund staunenden Lukas in ihre Mitte und knüddelten sich zu dritt zurecht. Die beiden Erwachsenen warfen sich dabei vielsagende Blicke zu. Manch ein Kuss zwischen ihnen musste eine auflodernde Flamme löschen.

Alle halfen mit, ein üppiges Sonntagsfrühstück auf den Tisch zu bringen. Es wurde viel geplaudert und gelacht und so zog sich das Frühstück über Stunden hin.

Martin, der Schauspieler war, berichtete von seinen jüngsten Filmaufnahmen während der letzten Woche. Er hatte eine kleine Nebenrolle in dem jüngsten James Bond ergattert und erzählte von den Stunts, die meist sehr viel aufregender aussahen, als sie tatsächlich waren. Der neue Bond, Daniel Craig, wäre ein sehr netter und intelligenter Mann, ganz anders als man ihn sich von der Leinwand her vorstellen würde. Lukas holte sein Buddelschiff und zeigte es stolz seiner Oma und ihrem netten Freund, wie er schnell fand. Fritz nahm den Jungen ernst, redete respekt- und humorvoll mit ihm und hatte rasch sein Herz gewonnen. Fritz war Rentner und zuvor ein echter Kapitän zur See gewesen. Damit hatte er Lukas Herz natürlich vollends für sich gewonnen. Als junger Mann hatte er, teilweise noch auf Segelschiffen, die ganze Welt bereist. Später hatte er dann sein Kapitänspatent gemacht und bei den Skandinaviern angeheuert. Auch die Hurtigroute war er viele Jahre gefahren, an Norwegens Küste längs bis zum Nordkap.

Marie musste ihren Sohn ein wenig dämpfen, sonst hätte er Fritz wahrlich Löcher in den Bauch gefragt. Aber Fritz konnte auch von sich aus interessante Geschichten erzählen, angenehm unaufdringlich, ohne gleich die ganze Runde zu beherrschen. Und herrliches Seemannsgarn konnte er spinnen – löste das dann aber gegen Ende auch wieder auf, damit auch alle Zuhörer an dem Spaß teilhaben konnten. Lukas saß mit offenem Mund vor dem netten älteren Herrn, als dieser seine Geschichte von den Walen erzählte, die zu mehreren sein Schiff auf ihre Rücken nahmen und es vor dem sicheren Zerschellen vor Kap Horn retteten. Als ihn die Johannsons und Martin teils stauendend, teils unbgäubig anstarrten, löste er Fritz den Seemannsgarnknoten auf: „Na, euch kann man aber auch nichts vormachen. Das war natürlich übertrieben. Gut sie haben nicht das ganze Schiff gerettet, die Wale. Aber meinen Smutje. Der ist nämlich mal beim Ausschütten der Kartoffelschalen gleich mit über Bord gegangen und konnte nicht für einen Penny schwimmen, der Kleene. War erst fünfzehn Jahre alt. Und zart und klein, aber tüchtig und mit einem guten Charakter. Na, jedenfalls war gleich bei unserem Schoner eine Delfinschule. Und – ob ihr´s nach dem ganzen Garn nun glaubt oder nicht – die haben den Jungen so lange mit ihren Körpern über Wasser gehalten, bis ihn ein paar meiner Jungs rausgeholt hatten.“

„Ich glaube dir,“ sagte Lukas ernst in die Runde. „Ich habe schon viele solcher Rettungsgeschichten von Delfinen und Walen gehört.“

Klara erzählte, wo und wie sie sich kennengelernt hatten, der Fritz und sie. Sie war nämlich nicht, wie Marie vermutet und Klara nicht deutlich korrigiert hatte, immer Dienstagabend zu den Landfrauen gegangen, sondern sie hatte einen Tanzkurs besucht. Dort hatten Klara und Fritz ihre Freude an gemeinsamen Bewegungen entdeckt und Schritt um Schritt ihre Herzen und ihre Körper miteinander vertraut gemacht. Bislang hatten sich die beiden stets bei Fritz getroffen. Er lebte alleine mitten in Rendsburg. Es ging nämlich schon ein Weilchen mit ihnen. Klara wollte erst sicher gehen, und zwar ganz sicher, dass es was ernstes war zwischen ihnen, ehe sie ihre Familie ins Spiel bringen wollte. Und es war ernst, sehr ernst. Die beiden schauten sich immer wieder verliebt an.

Ebenso Marie und Martin. Ihre Hände suchten immer wieder ein Körperteil des anderen. Knie, Ellenbogen, Schulter, wenigstens einen Finger. Ihre Lippen blieben dagegen weitestgehend stumm. Sie antworteten höchstens einmal einsilbig auf eine Frage oder warfen einen minimalistischen Kommentar ein.

Die Atmosphäre in der Johannssonschen Wohnküche war so voll mit Freude und Herzensenergie, mit Glück und Fülle und Liebe, dass es Marie vorkam, als würde trotz des trüben Himmels die Sonne mit aller Kraft hier hineinscheinen. Sie nahm ein Leuchten in dem Raum und darüberhinaus wahr, das sie so noch niemals gesehen hatte. Selbst Willi, der zufrieden in seinem Körbchen – etwas untertrieben: es war ein riesiges Korbgeflecht gefüllt mit einem dicken, gemütlichen Hundeplumeau – eingekuschelt lag, schien in die Kategorie der Leuchtbojen gewechselt zu sein. Marie hatte das Gefühl, das erste Mal seine Aura zu sehen. Jedenfalls lag ein unscharf abgegrenzter leuchtender Kranz um den Hund, breit sogar, fast einen Meter hoch, wie es ihr schien.

Was für ein Tag, was für ein Leben. Marie schmiegte ihren Kopf an Martins Schulter und hörte vor Glück gedämpft einer weiteren Geschichte aus der zugleich fern klingenden und nah gebrachten Welt von Fritz zu, die Lukas ihm entlockt hatte. Diesmal ging es um einen blinden Passagier, der sich tatsächlich von Thailand aus bis nach Hamburg durchgemogelt hatte. Am Ende der Geschichte, der Marie vor innerer Fülle kaum folgen konnte, sagte Lukas zu ihr: „Guck mal, wie die Schwester mit der schwarzen Babypuppe. Die war auch ein blinder Passagier. Weißt du noch?“

Mit einem Mal schlug Marie wieder in der harten Wirklichkeit ihres Falls auf. Sie rückte von Martin ab und setzte sich aufrecht hin.

Sollte sie ihren Jungen jetzt befragen? Sollte sie seine Fähigkeit jetzt ausnutzen und ihn nun tatsächlich in ihre Arbeit mit reinziehen?

Als sie noch überlegte, wie sie sich entscheiden sollte, fügte Lukas hinzu: „Aber die Schwester hatte noch ihren Papa dabei. Der hat sie getröstet, wenn sie um ihre schwarze Puppe geweint hat, die sie verloren hat.“

Marie entschied sich nun, dass die Zeichen zu deutlich waren, um sie weiter ignorieren. Lukas war wohlauf und so traute sie sich: „Wer ist die Schwester und wo ist sie jetzt, weißt du das?“

Die anderen Erwachsenen schauten Marie und ihren Sohn fragend an.

Lukas antwortete ganz klar: „Die schwarze Schwester spielt im Sandkasten. Ihr Papa passt auf sie auf und ruft sie Lola oder Lilo oder Lala. Jetzt weint sie nicht mehr. Sie singt ein Lied.“ Lukas denkt kurz nach: „Das kenne ich aber nicht.“

Das erzählte Lukas Marie mit ernsten, klaren Worten und einem ebensolchen, noch dazu vollkommen emotionslosen Gesicht. Im nächsten Moment wandte er seine Kopf wieder Fritz und Klara zu und lachte sein Achtjährigenlachen über den Spaß, den die beiden gerade machten.

Marie nortierte sich den Wortlaut ihres Jungen auf einer Seviette, schaute Lukas noch einmal leicht fragend von der Seite an und atmete dann aber erleichtert auf. Ihr Sohn war jetzt wieder ein normaler Junge von acht Jahren. Was immer normal bedeuten sollte.

Marie packte die beschriebene Serviette in ihre Hosentasche, stand vom Tisch auf und begann in aller Ruhe den Frühstückstisch abzuräumen. Martin half ihr, während sich Klara, Fritz und Lukas weiter köstlich miteinander amüsierten. Die beiden wieder neu und doch anders Verliebten nutzten jede Gelegenheit sich wie beiläufig zu berühren, etwa beim Abstellen der Brettchen auf der Spüle oder dem Greifen nach den Eierbecher ihre Hände und Arme aneinander vorbeistreichen zu lassen, genüsslich und selbstverständlich sehr viel länger, als es erforderlich war. Zwischendurch fing Marie einen wohlwollenden und sehr glücklichen Blick ihrer Mutter auf. Marie freute sich so sehr für das späte und unerwartete Glück ihrer Mutter. Und dass Lukas und der Fritz auch noch so gut miteinander konnten. Es fiel ihr als alter Skeptikerin fast schwer, so viel in einem Raum versammeltes Glück auszuhalten. Marie spürte auch eine seltsame Unruhe in sich aufsteigen und merkte, dass in ihr das Verlangen wuchs, abzuhauen. Sie musste das alles erst einmal sacken lassen und innerlich verarbeiten – sagte zumindest ihr Kopf.

Marie schaute Willi an, der ihren Blick sofort verstand und unter Räkeln aufstand.

„Hat noch jemand Lust auf einen Spaziergang außer Willi?“

Marie war erstaunt über sich selbst. Diese Frage war ihr ganz bewusstlos entglitten. Für gewöhnlich würde sie jetzt alleine mit einem keine neuen Worte und Bilder in den Äther setzenden Hund rausgehen wollen, ihren eigenen Gedanken nachhängend und allmählich die Welt wieder in ihre eigenen vertrauten Kästchen sortierend.

Und tatsächlich: Zwar waren die anderen beiden Johannssons und Fritz so vergnügt beschäftigt miteinander, dass Klara nur stumm abnickte, aber Martin stand mit offenem Blick neben ihr und sah sie ein wenig erwartungsvoll, ein wenig abenteuerlustig an. Er wollte sie, wollte sie ganz und gar und von nun ab tatsächlich das Leben mit ihr gemeinsam leben. Marie spürte diesen tiefen warmen Wunsch in dem wunderschönen Mann neben ihr. Sie wollte es auch. Von ganzem Herzen. Und sie hoffte und wünschte, dass sie das schaffen würde, die Nähe, die Güte und die Liebe dieses Mannes auszuhalten.

Marie nahm ihren ganzen inneren Mut zusammen, fasste nach Martins Hand und zog ihn sanft in den Hausflur. Willi begleitete die beiden schwanzwedelnd und als sie sich im Hausflur knutschend in die Arme fielen, blickte der Hovawart fast verlegen zur Seite.

22

„Gibt es in der Familie Soselo irgendein kleines Mädchen oder vielleicht auch eine erwachsene Frau, die Lola, Leila, Lulu oder Lala heißt? Aber ist wahrscheinlich doch eher ein Kind. Könnte vielleicht mit seinem Vater alleine hier leben. Und sind wahrscheinlich auch beide schwarz.“ fragte Marie in die Runde im Besprechungsraum des Hamburger Kriminalkommissariats. Sie schaute vor allem Robert an, der sich die Soselos vorgenommen hatte.

Robert Leicht musste verneinen: „Nein, dieser Name ist mir im Zusammenhang mit der Familie Soselo bislang nicht begegnet.“

„Und dann gibt es noch einen Onkel, könnte ein Bruder dieses Lola-Vaters sein. Aber vielleicht wird er auch nur aufgrund seiner Funktion so genannt. Sehr wahrscheinlich auch ein Schwarzer.“

Marie brachte diese Gedanken und Spuren sehr aufgeregt hervor. Sie hatte jetzt eine Grenze überschritten und brachte nun auch offiziell die Eingebungen und Visionen ihres Sohnes in den Fall mit ein. Was sollte sie bloß sagen, wenn Robert oder Gabi sie fragten, wie sie denn auf diese Personen gekommen sei?

Und schon kam sie, diese unausweichliche, eigentlich unbeantwortbare Frage. Gabi kam natürlich drauf: „Wie kommst du denn auf den Mädchennamen? Habt ihr noch weiteres gefunden?“

„Es ist nur so eine Idee. Muss ja nichts weiter dahinter sein. Ich wollte dem nur nachgehen, um es abzuhaken.“ versuchte Marie, sich aus der Affäre zu ziehen. Sie konnte Gabi bei ihrer Notantwort nicht in die Augen sehen.

Nie konnte sie aber auch lügen. Dabei war das nicht einmal eine Lüge. Nicht mal Drumrumreden konnte sie oder gezielt was weglassen. Immer wie ein offenes Buch, einerseits…

Gabi verzog unwillig das Gesicht zu einer angenervten Ich-lass-mich-doch-nicht-auf-den-Arm-nehmen-grimasse: „Marie!“ Ihr Tonfall hätte auch aus einer Oberlehrerin kommen können. Gabi schaute sie ununterbrochen eindringlich an.

Was blieb ihr übrig. In Fantastereien konnte sie sich keinesfalls verstricken. Die konnte sie nicht nachhalten und da würde sie sich hoffnungslos drin verstricken. Also ein wenig auf den Tisch.

„Na, ihr wisst doch. Ich habe das doch schon mal erzählt,“ stotterte Marie herum. „Mein Sohn Lukas hat manchmal so Eingebungen. Das liegt wohl auf der männlichen Linie unserer Familie. Mein Vater war so ein Spökenkieker, und mein Großvater.“ Sie versuchte ihren Worten einen saloppen Ton zu geben.

„Jedenfalls hat er von dem Mädchen mit dem Namen, von dem Onkel und einem Schiff geträumt und mir das erzählt heute morgen. Hätte ja sein können.“

Gabi rollte mit den Augen. „Marie!“ Diesmal kam der Name mit einem Unterton des Entsetzens aus Gabi heraus.

Robert hingegen schaute Marie ernst an. Es sah nachdenklich aus, als ließe er sich das ganze noch einmal durch den Kopf gehen.

Hatte bei den Soselos nicht irgendjemand von einem Onkel gesprochen. Er ging seine Befragung in Gedanken noch einmal durch. Herr Soselo hatte einen Onkel erwähnt. Richtig. Für ihn klang dessen Erwähnung wie aus dem Zusammenhang herausgerissen. Und hatte nicht trotzdem seine Frau daraufhin abwiegelnd eine Tasse Kaffe angeboten und etwas nervös das Thema gewechselt. Und wenn er sich recht entsann, hatte Frau Soselo doch ihrem Mann einen strengen und fast zurechtweisenden Blick zugeworfen, woraufhin dieser auch verstummte.

„Und wir haben noch den schwarzen Gelände-Volvo!“ Marie versuchte die Richtung der Besprechung wieder umzulenken.

Gabi antwortete betont nüchtern: „Also die Soselos selbst haben keinen. Sollte ja aber auch kein Hamburger Kennzeichen sein, zumindest höchstwahrscheinlich nicht. Aber mit den afrikanischen Schulen bin ich etwas weitergekommen. Und die afrikanische Fachfrau vom Völkerkundemuseum hat die Entzifferung der Hieroglyphen auf dem Zettel bestätigt.“

Und mit einem kleinen Seitenhieb auf Marie fügte Gabi spitz hinzu: „Vielleicht halten wir uns erst einmal an die Fakten und sortieren einmal, was wir zusammentragen können, durch.“

„Ja sicher, Gabi, deshalb bin ich ja hier,“ Marie blieb gefasst und versuchte die aufkeimenden Schärfe aus dem Gespräch zu nehmen: „Komm, dann erzähl mal, was du über die Schulen und den Zettel herausbekommen hast.“

Und Gabi legte los: „Die Manuela Lütge von unserem Völkerkundemuseum hat den gesamten Text entschlüsseln können und auch in einen für uns verständlichen Sinnzusammenhang gestellt. Also, hier hab ich Manuelas Brief für euch kopiert.“ Gabi Schlieper reichte je ein Blatt Papier an ihre Kollegen weiter.
Marie las: …stimme ich daher der sozusagen wortwörtlichen Deutung der Adinkra-Zeichen voll und ganz zu. Es geht um einen neugeborenen schwarzafrikanischen Jungen. Er ist der zweitgeborene Sohn. Ihm droht aus seiner eigenen Familie große Gefahr, und zwar wortwörtlich Gefahr für seinen Leib. Er ist ein besonderes Kind, mit einer besonders leuchtenden Seele. Daher ist seine Hülle für dieses irdische Leben besonders kostbar. Ein älterer Mann, er kann, muss aber nicht, sein blutsverwandter Onkel sein, spielt eine unangenehme Rolle. Als Onkel werden in Afrika gerne wohlhabende oder sehr reiche ältere Männer bezeichnet, die hin und wieder etwas von ihrem Reichtum für Arme spenden. Dieser hier Erwähnte hat zum Beispiel auch den armen Mädchen einen Schulbesuch ermöglicht. Es könnte die Schwester des Kleinen sein. Aber jetzt hat sich der bislang gute Onkel dem Dunklen zugewandt und will den dunklen Mächten tief in der Erde Blutopfer bringen.

Das Bild der Echsen, die in den Tiefen der Erde leben, ist ein alter afrikanischer Mythos: Eine berühmte Legende ist überliefert, nach der vor vielen tausend Jahren ein Volk merkwürdiger Wesen vom Himmel heruntergekommen ist. Sie wurden Zswazi, Imbulu oder Chitauri genannt. Ihre Gestalt glich der von sehr großen, allerdings auf zwei Beinen aufrecht gehenden Echsen. Diese Wesen sollten darüberhinaus jederzeit ihre Gestalt ändern können. Diese Außerirdischen vermählten sich mit den Töchtern der Zulus und daraus entstand – der Legende nach – eine besonders kraftvolle Rasse. Diese Rasse brachte auch eine bedeutende und mächtige Linie von Stammesfürsten und Königen hervor, was übrigens den Verkauf der eigenen Leute durch die Führer an weiße Sklavenhändler erklären mag.

Die Mythologie um diese Echsen geht noch weiter. Diese sehr mächtigen und kraftvollen Wesen sollen sich sogar mit Gott angelegt haben, denn sie wollten das ganze Universum beherrschen. Doch Gott strafte sie und verbannte sie zu einem Dasein unter der Erde. Sogar Menschen sollen ihnen dort unten als Sklaven dienen, vor allem, um ihre vielen riesigen unterirdischen Feuerstellen in Gang zu halten. Die Echsenwesen sind nicht in der Lage, feste Nahrung zu sich zu nehmen, sondern sie sind auf den Menschen als Nahrungsreserve angewiesen. Entweder trinken sie menschliches Blut oder sie ernähren sich von menschlicher, in Ausnahmefällen auch tierischer Kraft und Energie, die die Echsen regelrecht inhalieren. Diese Energie wird immer dann frei, wenn sich Menschen auf der Erde gegenseitig töten, aber auch schon, wenn sie sich nur gegenseitig bekämpfen. Aggressionen bis hin zur Tötung ernähren folglich diese unterirdischen Echsenwesen. Die Massaker und die Abschlachtungen Angehöriger anderer Stämme, die unter anderem auch in Afrika stattfinden, ernähren dem Mythos nach die Echsenwesen und tragen schrecklichweise zu deren teilweise explosionsartiger Vermehrung bei. Man sagt, dass die einst außerirdischen Riesenechsen noch an vielen Plätzen unter der Erde hausen und sich von den finsteren Machenschaften der Menschen nähren…

Jedenfalls hat sich jener Onkel wohl auf die dunkle Seite dieser Echsen geschlagen – möglicherweise im Tausch gegen Geld und Macht – und will den zweitgeborenen Sohn opfern. Der gilt als besonders leuchtend, weiß oder weise. Das kann sich auf den Körper oder seine mentale Erscheinung beziehen. Der kleine Junge ist auf der Flucht vor diesem Onkel. Man möchte ihm helfen, diesem dunklen Schicksal zu entrinnen. Er wird über ein Wasser in Sicherheit vor dem Onkel und auch den Echsenwesen gebracht. Das kann mit einem Schiff oder mit einem Flugzeug sein, kann über einen Fluss oder durch einen See, aber auch über das Meer gehen. Das kann man nur im Sinnzusammenhang entschlüsseln. Dann folgen Gebete und Schutzsprüche für die Rettung des Kleinen und eine gute Reise für ihn: Das große Licht möge das Tor der Dunkelheit vor ihm verschließen und den Sohn auf seinem Weg beschützen.

Marie blickte Robert an. Ihr junger Kollege las noch die letzten Zeilen zuende und blickte dann offen und klar zu ihr zurück. Da Gabi netterweise gerade auf die Toilette verschwunden war, konnten die beiden freieren Geister nun offen miteinander reden.

Robert begann: „Marie, der Herr Soselo hat übrigens auch kurz einen Onkel erwähnt, als ich die Tage bei ihnen zur Befragung war. Es schien ihm herausgerutscht zu sein, denn seine Frau wies ihn sofort zurecht. Ich habe dem zunächst auch keine Bedeutung zugemessen, aber als du nach einem Onkel gefragt hast und jetzt noch die Deutung des geheimen Beipackzettels…“

„Ja,“ stimmte Marie zu. „Der Onkel scheint tatsächlich eine wichtige Rolle in der ganzen Angelegenheit zu spielen. Und eine Schwester scheint es auch zu geben – wahrscheinlich mit normaler schwarzer Hautfarbe. Und auch die Schiffsreise kommt ja nun in dem Text vor. Hast du eine Ahnung, ob Frau Soselo tagsüber zuhause zu erreichen ist? Ich würde dann einfach noch mal vorbeifahren und sie mit dem jetzigen Wissen im Hintergrund befragen.“

„Sie geht jedenfalls nicht arbeiten. Also es könnte gut sein, dass sie zuhause ist. Ich kann gleich mal durchrufen. Wenn sonst nichts weiter bei uns hier ansteht, würde ich gerne mitkommen. Wäre das ok?“

„Klar kannst du mitkommen. Sehr gerne sogar. Aber bitte nicht vorher anrufen. Wenn wir uns anmelden, hat sie viel zu viel Zeit, sich vorzubereiten. Sie scheint eine recht ausgebuffte Frau zu sein.“

Ehe Gabi zurückkam, waren sie auf das Schiffsthema gekommen und fragten sich, ob es Sinn machen würde, die Passagierlisten der vor dem Leichenfund in Hamburg angekommenen Schiffe aus Afrika durchzugehen.

Gabi klinkte sich sofort ein. Das war ihr Metier: „Ich würde erst einmal eine Woche vor dem Leichenfund beginnen, genau den Montag der Woche zuvor. Denn der Finger wurde ja hier gefunden. Und den werden die kaum mitgebracht haben. Aber da kann man dann ja noch weiter gucken. Und es geht um ein sehr junges hellhäutiges Baby, und eine dunkelhäutige, ältere Schwester. Sie wird schon schulpflichtig sein und wohl zwischen sieben und zehn Jahre alt, vielleicht auch etwas älter. Und eine männliche Begleitperson, ob nun Vater…“ und mit einem Seitenblick auf Marie, „oder böser Onkel.“

„Da haben wir doch was!“ Marie streckte sich. Endlich schien es ein wenig mit Fakten voranzugehen und konnte sie ihre normale Polzeiarbeit machen.

„Ich habe noch mehr Fakten, meine Liebe,“ setzte Gabi an. „Heute Morgen ist das Fax zu den Schulen gekommen. Kurz gesagt, gibt es sowohl in Ghana als auch in Tansania – wie eigentlich überall auf der Welt für die Reichen und Mächtigen – Schulen, Eliteschulen. Dabei handelt es sich um International Highschools. Die in den Hauptstädten hatten wir schon. Es gibt noch weitere Eliteschulen. Ein zweite tansanische liegt in Moshi, einer Universitätsstadt mit rund 150.000 Einwohnern im Norden von Tansania. Der private Eliteschuppen liegt sogar direkt am Südhang des legendären Kilimanjaro, natürlich im besseren Grüngürtel am Rande der Stadt. Alles multikulti, Schüler aus mehr als 40 Nationen lernen hier zusammen, also nicht nur Tansanier und Ghaner, sondern auch Briten, Japaner, Inder oder Deutsche. Eine echte internationale Eliteschmiede mit anspruchsvollem Unterrichtsniveau. Auch das Internationale Baccalaureate ist hier möglich. Die Unterrichtssprache ist Englisch. Kiswahili, die Landessprache Tansanias, kann man aber auch als Fach belegen, und natürlich als ein mögliches Nebenfach auch, na…?“ Gabi fragte mit plumper Rhethorik in die Runde. „Ja, hier kann man auch Adinkra, die Symbolsprache aus Ghana lernen.“

Gabi musste einmal schlucken: „Ok, ok, Marie! Deine Eingebung oder was immer ihr Johannsons da habt, war wohl richtig. Und sehr hilfreich. Denn hier tritt nun eine sehr offensichtliche Verbindung zwischen unserem Hauptaktionsland Tansania und diesem ghanischen Zettel zutage.“

„Oh ja,“ Marie war begeistert. Langsam traten Zusammenhänge zwischen ihren seltsamen Funden und Indizien hervor. „Sehr schön. Nun wird allmählich ein Schuh draus.“ Marie streckte sich mit einer gewissen Zufriedenheit auf ihrem unbequemen Dienstellenstuhl zurecht.

„Dann werde ich mir jetzt mal die Familie Soselo ansehen. Ich fahre am besten gleich mal bei Frau Soselo vorbei. Vielleicht kennt sie ja eine afrikanische Familie mit dieser Konstellation: Tochter, Vater und eventuell noch irgendein Onkel. Kommst du mit, Robert, oder hast du was anderes zu tun?“

„Ich von mir aus könnte,“ Robert sah Gabi Dinkel, seine Chefin, an.

„Na, ihr zwei werdet ja unzertrennlich,“ lästerte Gabi kurz an und schob dann betont lässig mit wedelnder Handbewegung hinterher: „Dann macht bloß, dass ihr wegkommt.“ Sie grinste, wirkte aber auch leicht gekränkt angesichts der sich immer mehr anbahnenden Untergruppenbildung: „Ich werde mich dann mal um die Passagierlisten kümmern. Einer muss ja die Stellung halten.“

„Ich komme dann anschließend noch mal wieder mit vorbei, Gabi. Bist du dann noch da?“ fragte Marie ihr befreundete Kollegin einlenkend. „Vielleicht können wir dann noch schön Essen gehen?“

„Aber nicht wieder persisch, das ist mir etwas zu märchenhaft-exotisch. Wenn du mit mir zum Thailänder oder Sushi essen gehst…?“

„Na ja, roher Fisch ist nun gar nichts für eine Vegetarierin..“

„Ach, stimmt ja…“

„Aber Thai finde ich gut. Also bis nachher?“

„Ok, bis später. Ich spare mir schon mal Hunger an.“

Gabi schien versöhnt. Die vermeintlich selbstbewussten und harten Frauen konnten ganz schön empfindlich sein. Aber das kannte sie selbst ja auch…

23

Marie und Robert standen nun zum zweiten Mal gemeinsam vor dem schönen Holzhaus, eher gesagt der Holzvilla, der Familie Soselo. Marie drückte den Klingelknopf.

„Hoffentlich haben wir Glück.“

„Aufmachen wird in jedem Fall jemand. So viele Leute, wie hier in dem Haus wohnen. So groß kommt einem das dann gar nicht mehr vor,“ bemerkte Robert.

Erneut ließ Jeanine Kalika, die bildhübsche, dunkelhäutige bonne d´enfants, die beiden Kriminalkommissare ins Haus: „En moment, s´il vous plait. Je veux chercher Madame Soselo.“

„Sollten wir Glück habe?“ zwinkerte Robert Marie zu.

Unterdessen schauten sich die beiden aufmerksam im offenen Galeriezimmer des Hauses, das sich nach oben in die Empore des ersten Stocks öffnete, um. Farbenprächtige, kraftvolle Ölgemälde hingen an den Wänden – den stattlichen Dimensionen des Hauses angepasst. Die Motive, teilsweise war auch nur ein abstrakter Charakter zu erkennen, waren teils afrikanisch, teils europäisch. Sie wirkten sehr modern und waren sehr geschmackvoll für dieses Entrée des Hauses ausgewählt.

Marie entdeckte auf einem Sideboard eine kleine Galerie aufgestellter gerahmter Fotos. Sie winkte Robert herbei: „Guck mal, eine kleine Familiengalerie. Vielleicht entdecken wir hier eine Schwester und einen Onkel.“

Robert begann links, Marie rechts. Eine schmucke schwarze Familie, wohl vor der tansanischen Botschaft in Hamburg: stolze Eltern mit drei Kindern, zwei Mädchen und einem älteren Jungen. Daneben wohl Bedienstete. Das scheinbar älteste Foto war eine etwas verschwommene Schwarzweißaufnahme: ein stattlicher älterer Herr in einer afrikanischen Stammestracht, die ihn deutlich von den anderen Männern auf dem Bild abhob. Vermutlich der Stammesfürst. Um ihn gruppierten sich gut acht bis zehn Frauen, denen wiederum eine unübersichtliche Schar Kinder zu Füßen saß. Am Bildrand waren zahlreiche, ebenfalls festlich gekleidete Schwarzafrikaner zu sehen und im Hintergrund lugte eine Hütte hervor.

„Klassisch so, wie man sich einen afrikanischen Gral vorstellt…“ flüsterte Marie Robert zu.

„Ja…ein zu Trommelrhythmen herumhüpfender Stammeshäuptling mit seinem Harem und seinen unzähligen Kindern, die er mit seinen vielen Frauen gezeugt hat,“ ergänzte eine etwas harsche Frauenstimme hinter ihnen.

Ehe sich bei dem Wort Trommelrhythmen ein Erinnerungsfetzen in Marie ausbreiten konnte, funktionierte ihr kleinbürgerlich eintrainiertes Begrüßungsritual: „Oh, guten Tag, Frau Soselo.“ Marie wandt sich ruckartig um. „Ich wollte ihnen nicht zu nahe treten.“

„Natürlich nicht,“ entgegnete Frau Soselo mit tief sitzender Bitterkeit. „Doch wer in dieser feinen Stadt mit weithin leuchtender dunkler Hautfarbe herumläuft, der ist es gewohnt, dass man ihm zu nahe kommt. Man muss stets aufpassen, nicht in die Spülküchen der feinen Restaurants gezerrt zu werden, weil Schwarze nur dort hingehören, weniger auf Bälle oder ohne Servierdress in die Lobby des Atlantic.“

Marie und Robert schauten sich angesichts des Ausbruchs der sonst so gefasst und kontrolliert wirkenden Frau erstaunt an.

„Ja, Sie haben recht. Sie haben damit gar nichts zu tun. Entschuldigen Sie bitte meinen unangemessenen Exkurs. Es ist heute etwas viel…“ nahm Frau Soselo den Sprengsatz, der zu schnell zwischen Schwarz und Weiß auftauchen konnte, zurück.

„Was kann ich für Sie tun?“ Frau Soselo hatte ihre Fassung zurück.

„Sie haben zwei Kinder, Frau Soselo?“ fragte Marie nun betont sachlich.

“Ja, den kleinen Juma, den Sie letztens selbst gesehen haben und seinen Bruder Maikel. Maikel ist sechs Jahre alt – ja, um ihre Frage vorweg zu nehmen, Maikel ist und war kein Albino.“

Irgendetwas schien Frau Soselo heute angepiekt zu haben. Da stand nicht mehr die von ihrem Verstand gesteuerte und die Situation kontrollierende Diplomatentochter Anfang Dreißig. Die Frau war aufgewühlt, nervös. Fast schien es Marie, als ob sie von irgendetwas oder irgendwem zutiefst verletzt worden sei und sie nun ihnen als Amtspersonen gegenüber die Fassung wahren wollte oder musste. Marie musste jetzt hart gegen sich und ihr aufkommendes Mitgefühl werden, denn in der Verunsicherung dieser eigentlich starken Frau lag nun ihre Chance.

„Wir suchen ein schulpflichtiges afrikanisches Mädchen.“

„Davon soll es mehrere geben, wie ich hörte. Manche Afrikaner können sogar lesen und schreiben und nicht nur die Buschtrommel schlagen, um sich zu verständigen…!“ Frau Soselo zischte die Worte von der Decke zum Boden blickend in den Raum. Sie konnte die beiden Kommissare nicht ansehen. Sie schien tatsächlich mit ihrer ganzen Kraft gegen eine hochkommende Erschütterung anzukämpfen.

„Ein afrikanisches Schulkind, das wahrscheinlich eine Eliteschule besucht hat,“ fuhr Marie kommentarlos fort, „und das mit seinem Vater in den letzten Wochen nach Hamburg oder über Hamburg nach Deutschland gekommen ist. Können Sie uns diesbezüglich weiterhelfen?“ Marie blieb bewusst hartnäckig.

„Nein!“ Frau Soselo schrie dieses Wort fast in den Raum und brach augenblicklich in Schluchzen aus, das sowohl Marie als auch Robert durch Mark und Bein ging.

„Entschuldigen Sie bitte,“ schluchzte ihnen Frau Soselo entgegen, „ich bin sofort wieder da.“ Und sie verschwand hinter einem Zimmervorsprung, rannte die Treppe zur Empore hoch und schloss dann heftig knallend eine Zimmertür hinter sich.

Robert stand bereits wieder vor den Familienfotos. Neben dem afrikanischen Stammeshäuptling stand ein Hochzeitsbild, wohl aus den Siebzigern: ein extrem gutaussehender und präsent wirkender Schwarzer mit einer unglaublich verliebt dreinschauenden Braut, ebenfalls eine Schwarze. Daneben ein Schwarzweißbild aus den Fünfzigern oder Sechzigern – wohl doch eher Fünfzigern, nach der Kleidung zu beurteilen: ein schlanker, etwas steif dastehender Weißer, mit Sicherheit ein Hamburger, bei der hanseatischen Ausstrahlung, und eine sehr feine dunkelhäutige Braut. Das waren wohl die Pinkermanns, Frau Soselos Eltern und ihre Großeltern, die Diplomatenlinie.

Das war sicherlich auch nicht einfach, in den Fünfzigern und frühen Sechzigern im konservativen Hamburg, auch oder vielleicht sogar gerade nicht in besseren Kreisen, einen schwarzen Jungen großzuziehen.

Ein weiterer Fotorahmen umfasste einen ziehmlich bullig aussehenden Schwarzen, ein Portraitfoto. Vielleicht ein Onkel. Vielleicht der Onkel! Schien den Soselos jedenfalls eine wichtige Person zu sein. Und es war, so weit Marie das beurteilen konnte, kein Portrait von einem der Männer auf den Familienfotos. Den Rest füllten die typischen Jahresbilder ihres älteren Jungen: Maikel im Strampler auf der Wickelkommode – übrigens den Vater Soselo beim Wickeln zeigend -, Maikels erste Schritte, Maikel auf seinem Laufrad und Maikel inmitten einer bunten Kinderschar, wohl ein Fest im Kindergarten. Und ein ganz frisches Bild von ihrem strahlenden Jüngsten, dem hellen Jumo im Arm des stolzen Vaters und daneben die beiden fast beschützend beobachtende Mutter. Marie schien es, als ob in dieser Familie die Mutter alles im Blick haben und zusammenhalten würde. Wie eine wehrhafte Löwin, so kam sie Marie vor, die selbst noch ihren Mann, einen gestandenen Wissenschaftler, beschützte.

Doch irgendetwas hatte diese starke Frau völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Es dauerte noch eine geraume Weile, ehe Frau Soselo wieder zum Vorschein kam. In der Zwischenzeit hatte Jeanine Kalika den beiden Kommissaren mit einem zufrieden strahlenden Jumo auf dem Arm zwei Kaffee und etwas Gebäck gebracht. Der Haushalt war perfekt durchorganisiert, wie das wohl normalerweise auch die Dame des Hauses war.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Leicht und Frau….? Wie war noch gleich ihr Name?“

„Johannsson.“

„Frau Johannsson. Es ist sonst nicht meine Art, meine Gäste warten zu lassen.“ Frau Soselo schien sich wieder im Griff zu haben. „Wo waren wir stehengeblieben?“

Marie startete einen Versuch: „Gibt es Probleme in Ihrer Familie. Können wir Ihnen irgendwie helfen?“

„Keineswegs und nein!“ Frau Soselo hatte ihren Schutzpanzer wieder errichtet. Sie war tatsächlich nicht leicht zu knacken.

Ehe Marie oder Robert hätten nachhaken können, fuhr Frau Soselo fort: „Sie sind doch nicht wegen meiner familiären Angelegenheiten zu mir gekommen, oder? Fragen Sie, was sie unverständlicherweise ausgerechnet mich zu dem toten Albinokind in Rendsburg fragen wollen oder müssen!“

Gut, dann konnten sie es nur förmlich weiter versuchen.

Marie begann: „Kennen Sie ein etwa sieben oder acht oder neun Jahre altes Mädchen, dass wahrscheinlich in Tansania, möglichweise aber auch in Gahna eine Privatschule besucht oder besucht hat?“

Johana Soselo schüttelte den Kopf: „Nein, das sagte ich bereits. Mir ist kein afrikanisches Mädchen auf oder von einer afrikanischen Privatschule bekannt. Und um die Wiederholung ihrer nächsten Frage vorwegzunehmen: auch kein alleinerziehender afrikanischer Vater ist mir bekannt. Ebensowenig wie jüngst aus Muansa oder von sonstwo in Tansania nach Hamburg gekommene Afrikaner.“

Muansa. Wieso betonte sie diesen für Europäer unbekannten tansanischen Ortsnamen so. Der Ortsname wirkte irgendwie wie ungewollt herausgerutscht. Und zwar eben geradewegs im Zusammenhang mit in letzter Zeit nach Hamburg eingereisten Tansanern. Marie holte hastig ihr Alleswissernotizbuch hervor und schrieb den Ortsnamen auf, zumindest so gut sie das in Lautschrift konnte: Muansa. Das würde sie schon herausbekommen, wenigstens mit Gabis Hilfe, der Halbafrikanerin.

Robert, der spürte, dass Marie etwas Interessantes aufgefallen war, auch wenn es ihm entgangen war, verschaffte seiner Kollegin Luft: „Sie fahren einen schwarzen Geländewagen, habe ich das letztens richtig gesehen?“

„Ja, das tun wir. Ebenso wie Hunderte andere Hamburger Familien auch. Die sind bequem und geräumig,“ antwortete Frau Soselo zunehmend genervt.

„Welche Marke fahren Sie?“ Robert überbetonte die Anrede, um seinem Gegenüber den unangemessenen Ton deutlich zu machen. Frau Soselo war allerdings – zumindest heute – resistent gegen solch zarte Anspielungen.

„Ein Japaner ist das. Patrol heißt der, glaube ich. Ich meine Nissan, kann auch Mitsubishi sein.“

„Wenn es ein Patrol ist, dann ist es ein Nissan,“ erklärte Robert sehr sachlich.

Marie war mit ihren Notizen fertig.

„Gut, Frau Soselo, dann lassen wir Sie jetzt erst einmal in Ruhe. Sie haben ja noch genug zu tun und wir auch.“

Die Atmosphäre zwischen den Dreien war sehr unterkühlt. Dabei hatten sie gar nichts persönlich gegeneinander.

„Sehr schön,“ rutschte es Frau Soselo leise raus.

Doch die beiden geschult aufmerksamen Kommissare registrierten kommentarlos diese Erleichterung in Frau Soselo.

„Dann auf Wiedersehen, Frau Soselo,“ verabschiedete sich Marie.

„Wiedersehen,“ setzte Robert mit gespielter Zurückhaltung nach.

„Wir werden uns sicher wiedersehen.“

„Vermutlich. Auf Wiedersehen.“ Frau Soselo begleitete die beiden zur Haustür.

Drei Schritte von der sich schon schließenden Haustür entfernt dehte sich Robert unvermittelt um und fragte: „Eine Frage noch, Frau Soselo.“

„Ja!“ Genervt schob Frau Soselo die Haustür wieder einen größeren Spalt auf.

„Haben Sie einen Onkel oder kennen Sie einen Onkel?“ fragte Robert mit einem direkten Blick in die Augen der kräftigen und gut aussehenden Frau ihm gegenüber.

Er sowie Marie sahen beide einen Anflug von Panik über Frau Soselos Gesicht huschen, das sofort wieder maskenhaft erstarrte.

„Nein, auch damit kann ich nicht dienen. War´s das?“

„Ja, vielen Dank.“ beendete Robert betont freundlich die Nachfrage.

Im Auto lobte Marie ihren Kollegen: „Die hast du ja sehr geschickt platziert, mein Lieber. Sehr gut. Jetzt wissen wir, dass bei den Soselos irgendein Onkel eine Rolle spielt. Vielleicht ist er es, der dieser Frau solch eine Angst macht. Hast du den etwas bulligen Schwarzen allein auf dem Foto gesehen, der könnte doch zum Beispiel so ein Onkel sein, nicht?“

„Ja, wär möglich. Was war dir aufgefallen, was du gleich notiert hast?“

„Möglicherweise ist ihr ein tansanischer Städtename herausgerutscht. Sie hätte ihn nicht nennen müssen. Muansa oder so ähnlich. Kriegen wir raus. Vielleicht kennt Gabi den Ort auch.“

„Sehr gut. Deine Idee mit der Überfallbefragung war gut. Das hätten wir angemeldet sicher kaum rausbekommen. Klar ist jedenfalls, das Frau Soselo etwas verbirgt. Da können wir jetzt erst einmal weiter ansetzen.“

„Puh, ich hab jetzt einen Bärenhunger. Ich muss dringend Gabi einladen und zum Thai düsen. Kommst du mit?“

„Nein, Marie, ich habe heute ein Date. Macht ihr euch mal einen schönen Frauenabend.“

Marie hatte Robert unterwegs aussteigen lassen und erreichte kurz darauf gegen halb sechs das Kommissariat. Ihr Hunger musste noch eine kleine Weile auf seine Sinnerfüllung warten. Marie drängte es, näheres über diesen tansanischen Ort wie „Muansa“ oder so ähnlich zu erfahren. Gott sei dank hatte sie sich den gesprochenen Wortlaut, die Lautschrift aufgeschrieben. Sie wüsste jetzt schon, nach einer Stunde, nicht mehr genau, was Frau Soselo da vorhin für ein Ortsname entglitten war.

Gabi, die ihrerseits ungeduldig auf Neuigkeiten brannte, ging sofort ins Internet und zauberte eine Karte von Tansania hervor. Und tatsächlich fand die Recherchekünstlerin innerhalb weniger Minuten eine Stadt direkt am Viktoriasee mit Namen Mwanza, was man – wie Gabi meinte – wie Maries notiertes „Muansa“ aussprach. 250.000 Einwohner und nochmal knapp eine halbe Milllion im ländlichen Umkreis. Hat einen internationalen Flughafen mit täglichen Verbindungen zur Hauptstadt Daressalaam und auch zu Nairobi in Kenia. Hier gab’s sogar eine Uni mit einer recht renomierten Medizinfakultät. Keine arme Stadt jedenfalls.

Gabi Schlieper schaute im unruhigen Ermittlungsfieber einige Listen auf ihrem Schreibtisch durch: „Das sind die Passagierlisten der letzten zwei Wochen von den wichtigsten Schiffsverbindungen nach Tansania. Vielleicht haben wir Glück. Ich schau nach einem Mann aus Mwanza, der mit ein oder zwei Kindern rübergekommen ist.“

Nach knapp zwei Minuten sah sie Marie siegessicher an: „Hier ist er. Ein Mann, Imbakwe Murundi aus Mwanza, mit zwei Kindern. Vor drei Wochen ist Herr Murundi mit zwei Kindern auf der Mayflower – das ist ein Containerschiff, dass regelmäßig auch eine geringe Anzahl Passagiere mitnimmt – von Tansania hier in Hamburg angekommen. Wir haben ihn.“

„Ja!“ rief Marie aus. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. „Das könnte der Vater unseres Kleinen sein. Und die Schwester wäre auch dabei. Also mein Lukas…“

Marie sprach ihre Gedanken nicht aus, um Gabi nicht wieder Futter für ihr – gelinde gesagt – Unverständnis gegenüber vorausschauenden Eingebungen und entsprechenden Kommentaren zu geben.

„Ich bin verblüfft, Marie.“ Gabi war ehrlich baff erstaunt über ihre neuesten Ermittlungsergebnisse, die haargenau den Worten eines achtjährigen Jungen entsprachen, der überhaupt nichts von dem Fall wusste, geschweige denn irgendetwas damit zu tun hatte. „Wie kam denn der Lukas da drauf?“

„Ich habe keine Ahnung, Gabi. Ich weiß nicht im geringsten wie das funktioniert. Ich weiß nur, dass es tatsächlich so unglaublich häufig passt. Deswegen habe ich das ja überhaupt nur eingebracht. Wenn der Herr Murundi, Imbakwe Murundi,“ Marie schrieb sich den Namen in ihr Notizbuch, während sie sprach, „nun auch noch ein Albino ist, dann haben wir einen großen Kreis geschlossen.“

Gabi schaute ihre Kollegin fragend an. Sie verstand die Schlussfolgerung nicht.

„Ja, vielleicht erinnerst du dich. An der Babyleiche hat unser Kriminaler Otto Storm doch ein Albinohaar gefunden, und zwar stammt das nicht von dem Kleinen, sondern von einem nahen Verwandten. Das ist nicht ganz farbfrei wie bei dem Kleinen, sondern enthält wohl einige Pigmentspuren. Das könnte zum Beispiel von seinem Vater sein. Sehr schön. Wir kommen voran. Nur – wo finden wir den Herrn Murundi?“

„Also Murundi hat ein Visum für zwei Monate. Das ist ungewöhnlich lang und auch nicht so einfach zu bekommen. Das sieht mir alles nicht nach einem einfachen Mann aus. Noch dazu ist die Passage Übersee auch nicht so ganz billig – für tansanische Verhältnisse zumindest. Ein einfacher Fischer, der uns den Viktoriabarsch aus dem See holt, ist das wohl eher nicht. Der ist mit Sicherheit gebildet, nicht ganz arm und somit eher der Oberschicht zuzuordnen. Aber das ist erst einmal nur eine Vermutung.“

„Da werden wir mit dem Namen am besten noch einmal im Umkreis der Soselos suchen, was meinst du?“

„Ja, das ist ein Weg. Ich werde mich um die Besatzung der Mayflower kümmern und vielleicht kann ich noch einen weiteren Passagier ausmachen und befragen. Wenigstens die Hautfarbe von Murundi, aber auch seiner Kinder, werde ich so rausbekommen, denke ich.“

„Ja, aber alles erst, nachdem du augenblicklich mit mir zum Thai gegangen bist. Da erzähle ich dir dann von den Soselos. Ich sterbe vor Hunger.“ Wirkungsvoll knurrte just in diesem Moment Maries Magen so laut, dass die beiden, dank ihrer Ermittlungsergebnisse enorm erleichterten Frauen nun ihre Anspannung in einem Lachschwall herausprusten konnten.