Zauberjäger – Teil 1

Ein spiritueller Kriminalroman

von Angela Kämper

Hier von mir vorgelesen Teil 1 von „Zauberjäger“

1

Die Axt sauste mit aller Wucht aus gut zwei Meter Höhe nieder und drang ungehindert in den Klotz aus Birkenholz ein. Den nächsten Weg über die gleiche vertikale Strecke legten nun Birkenholz und Axt zusammen zurück. Das ungleiche Paar prallte mit aller Kraft gemeinsam auf den Holzblock und ließ dabei den Birkenbaumstamm unter hölzernem Ächtzen zerbersten. Mit einem hohlen Plopp fielen die beiden Baumstammhälften links und rechts vom Holzamboss ins Gras.

Marie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Der Schweiß tat ihr gut. Er spülte alles raus. Das Hauen und Stechen auf dem Holz brachte alles in ihr in Wallung, so dass sich endlich auch ihr Knoten im Bauch rührte. Er schien sich langsam zu lösen – endlich.

Bei ihrer Meditation heute morgen hatte sie nur gespürt, dass sie nichts mehr spürte. Ihr Kronenchakra suchte noch die Verbindung nach oben, ließ ein wenig Licht hinein. Aber nicht sehr weit nach unten: Die unteren Chakren waren wie zu. Sie spürte nicht einmal mehr ihre Verschlossenheit. Nichts war in ihrem Becken und ihrem Bauch. Nichts. Ihre Energiezentren waren wie gar nicht vorhanden.

In diesem Zustand half nur körperliches Berserkern – das kannte sie schon. Ranklotzen – oder Holzklotzen – im wahrsten Sinne des Wortes, bis sich durch die körperliche Erschöpfung endlich der Knoten löste, platzte, platzen musste, weil nichts mehr ihn zusammenhielt. Dass dabei noch Holzscheite für den Kamin raussprangen, war ja nur von Vorteil – so wie zwei Fliegen mit einer Klappe.

Auch so ein blöder Spruch, besonders für eine überzeugte Vegetarierin. Fast wäre ihr noch „eingefleischte“ Vegetarierin durch den Kopf geschossen.

Die deutsche Sprache konnte schon ganz schön gewalttätig sein, als würden sich in diesem Land hier nur Metzger mit Soldaten unterhalten.

Marie schüttelte mit dem Kopf ihre wirren Worte aus selbigem und platzierte rasch eine weitere Birkenstammscheibe auf dem Schlagklotz. Mit gleicher Kraft holte sie mit ihrer Axt zum nächsten Schlag aus. Marie und das Holz seufzten unter dem Schlag auf, Marie mit einer Art wegwerfender Erleichterung, dem Holzklotz blieb schon aus physikalischen Gründen nichts anderes übrig.

Noch eine gute halbe Stunde lief dieses Wechselspiel aus ächzendem Holz und seufzender Frau ab, als Maries Diensthandy unter Salsarhythmen in ihrer Hosentasche vibrierte.

Marie senkte die Axt, legte sie ins Gras und streifte ihre Arbeitshandschuhe ab. Rasch griff sie sich in ihre Gesäßtasche und holte den vibrierenden Silberling hervor:

„Mochita, moin, moin. Was gibt’s denn an diesem sonnigen Morgen im hohen deutschen Norden?“

„Chefin“, entgegnete ihre mexikanische Sekretärin, ihre wahrlich mehr als exotische Stütze in der Rendsburger Behörde, die gute Seele in jeglicher Hinsicht.

„Wir haben eine Leiche, Chefin. Gar nicht schön. Eine kleine Leiche. Madre…“

Mochita schluckte schwer am anderen Ende.

„In der Aalkate ist was gefunden worden.“

„Mochita, ich danke Ihnen. Ich bin schon unterwegs.“

„Dass Menschen so etwas tun!“

Die Mexikanerin in den Sechzigern hatte schon einiges gesehen und erlebt und war eigentlich nicht so schnell zu erschüttern. Doch jetzt rang sie am anderen Ende regelrecht um ihre Fassung.

„Dass Menschen so etwas tun können!“ wiederholte sie stockend.

Und mit klarer Aufforderung zu Marie: „Passen Sie gut auf sich auf, Chefin, bitte!“

Selbst nach über zehn gemeinsamen Dienstjahren siezten sich die beiden Frauen noch – was aber ihrer Zuneigung füreinander und ihrer gegenseitigen Achtung keinerlei Abbruch tat. Im Gegenteil schien es gerade ihre Arbeitsdistanz zu ermöglichen, dass sie dennoch einen zarten, aber steten Austausch ihrer spirituellen Erfahrungen und Entwicklungen pflegten. Und so bedankte sich Marie mit großem Selbstverständnis für Mochitas: „Ich bete für Sie und lege einen Schutzkreis um Sie, Chefin. OK?“

„Gerne, Mochita. Vielen Dank. Wenn das so heftig ist, passe ich auch besonders gut auf mich auf.“

Marie war während des Telefongesprächs schon ins Haus gegangen und murmelte nun unverständliche Worte vor sich hin: Om namah shivaya. Om namah shivaya. Om namah shivaya. Om namah…

Auf dem Weg nach Rendsburg fiel Marie ein, dass ihr Sohn Lukas heute Morgen beim Frühstück eine sonderbare Bemerkung gemacht hatte. Die Worte hatte Marie schon heute Morgen nicht verstanden, genausowenig, wie sie sie jetzt verstand. Überhaupt verstand sie Lukas häufig nicht. Manchmal war ihr ihr eigener Sohn sogar ein wenig unheimlich.

Hatte er doch vor Jahren einmal beim Abendessen vor versammelter Mannschaft – das waren er, sie, ihre Mutter Klara, ihr langjähriger Freund Andreas mit seiner damaligen Flamme Susann – zwischen Pellkartoffeln mit Stippe und Salat wie nebenbei den Satz fallen lassen: „Susann´s Mama war heute Nacht bei mir. Sie hat gewunken und ist dann mit Susann´s Papa durch den Himmel gegangen.“ Zwei Stunden später erhielt Susann einen Anruf von der Polizei, dass ihre Mutter in der Nacht tödlich verunglückt sei.

Da war Lukas ganz wie sein Großvater. Der war auch so ein Spökenkieker gewesen. Marie lag irgendwie dazwischen. Sie war eher für die grobschlächtigen – wieder so ein deutsches Metzgerwort – spirituellen Angelegenheiten zuständig. Sie war doch noch dabei, zu üben, beim Meditieren überhaupt erst einmal den Kopf leer und frei zu kriegen. „Ihre Männer“ brauchten das wohl nicht. Hein, ihr Vater, süppelte sich ganz gerne einen, wie er sagte, „kippte er sich eben gerne mal einen hinter die Binse“ – die norddeutsche Variante der gutsituierten Trinkrechtfertigung. Und hin und wieder seine Zigarre ließ er sich auch von nichts nehmen, der Spökenkieker vom Dorf, zu dem selbst gestandene Bauern kamen, die sonst an kaum mehr glauben, als was sie mit ihren groben Händen fassen konnten.

Jedenfalls hatte Lukas heute morgen bemerkt: „Da liegt ein schwarzes Baby in einer Holzkiste, wie eine Puppe. Das Baby weint, ganz leise weint es. Jetzt hört es auf zu weinen. Aber es lacht auch nicht, nie mehr.“

Marie war ein Schauer über den Rücken gelaufen. Sie hatte inzwischen gelernt, Lukas Worte zu hören, sie ernst zu nehmen, auch wenn sie ihren Sinn zunächst nicht verstand. Meist fielen sie ihr in der passenden Situation wieder ein, erklärten sich dann aus den Umständen wie von selbst und halfen ihr manchmal sogar sehr viel schneller auf die Sprünge. Und zwar auch bei ihrer Arbeit.

Jetzt schauderte sie – wesentlich stärker noch als heute morgen. Sie fuhr in die Aalkaate, zu einem Leichenfund. Ihre Kollegen hatten von einer grausigen Babyleiche gesprochen. Sie öffnete das Fahrerfenster ihres Peugeot und zog die kalte Luft ein. Wohl direkt aus Sibirien, die Kälte schmerzte regelrecht in ihren Lungen. Tat aber dennoch gut. Und die Kälte passte.

2

Der Anblick war grausig.

Marie hatte zwar hier in Rendsburg kaum je Leichen zu Gesicht bekommen. Unter 25 000 Einwohnern gibt es naturgemäß nicht so viele böse Menschen – allerdings sind auch die wahrhaft Guten überschaubar. Doch ihre Ausbildung und ersten Berufsjahre hatte Marie in Essen absolviert. Im Ruhrpott, dem gigantischen Schmelztiegel von Nationalitäten und Gesinnungen, hatten sich vor der jungen Kriminalbeamtin schon diverse Abgründe der menschlichen Seele aufgetan. In diesen ersten fünfzehn Jahren ihrer Berufslaufbahn hatte Marie einiges Unvorstellbares zu sehen bekommen: aufgeschlitzte Prostituierte oder junge Italiener und Polenstämmige, die sich in ihren Bandenkriegen gegenseitig das Gesicht weggeprügelt hatten.

„Abgründe sind meine Gründe…“ hatte André Heller in Maries Jugend gesungen. Wohl auch ihre, denn wer tat sich sonst schon freiwillig solche Anblicke und die Beschäftigung mit den finstersten Seiten der menschlichen Gesellschaft an…

Doch was Marie nun hier in der Aalkate begegnete, drehte ihr erst einmal unwiederrufbar den Magen um. Sie rannte aus der Halle heraus und übergab sich kaum eine Handbreit vor dem Eingangstor. Dann holte sie tief Luft, murmelte wieder ihre unverständlichen Worte vor sich hin und ging sehr aufrecht zurück in die Großmarkthalle, Abteilung Südfrüchte.

Herr Dr. Möller, der für Rendsburg zuständige Gerichtsmediziner aus Kiel, sah Marie verständnisvoll an. Die übrigen Polizisten standen wenigstens zehn Meter von der Obstkiste entfernt und wandten ihr ihre Rücken zu. Keinerlei Anzeichen der sonstigen Neugierde oder Lust an der Sensation des Grauens. Niemand sagte etwas. Diese seltsame Stille brachte die gesamte graue Luft in der großen kühlen Halle völlig zum Stehen. Nur das regelmäßige Scheppern des Kühlungsventilators zerschnitt die eiskalte Stille in der Kühlhalle.

Marie gab sich einen deutlichen Ruck und warf erneut einen Blick auf die beiseite gestellte Pappkiste. Zwischen grünen Bananen lag ein Baby, winzig, so verletzlich, so porzellanfarben, so porzellanzerbrechlich, so tot. Kein Blut an den unreifen Bananen ringsum und an diesem unreifen Menschenkind aus Porzellan. Doch es streckte Marie, als wollte es wenigstens noch einmal hochgenommen werden, seine winzigen Porzellanärmchen entgegen. Zwei Ärmchen mit den kleinen Händchen, die Erwachsene mit ihren poussierlichen winzigen Babyfingerchen fast ausnahmslos dahinschmelzen ließen. Doch dieses Baby lag wie eine gestrandete Puppe in seinem letzten Pappbettchen und streckte seine Ärmchen wie den Weg weisend für die Seele in den Himmel. Ein Engel mit gebrochenen Flügeln. Dem linken und dem rechten Händchen fehlten jeweils der winzige Ringfinger und der kleine Finger.

Marie wendete ihre Augen ab und warf einen fassungslosen Blick zu Dr. Möller. Der zuckte seinerseits mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck seine Schultern: „Keine Ahnung, was hier passiert ist. Geben Sie mir etwas Zeit, Frau Johannsson. Ich muss auch erst einmal an die frische Luft.“

Marie hörte auf einmal Trommeln, durchdringende starke Rhythmen. Sie stieß einen der Polizisten in der Fruchthalle an: „Hören Sie das auch?“

„Was?“

„Das Trommeln.“

Der Polizist sah sich um: „ Nein, ich höre hier gar nichts. Ich finde es hier völlig still, unheimlich still. Bis auf den da…“ und zeigte auf den großen Ventilator, der die gekühle Luft in die Halle blies.

Marie horchte kurz hin. Nein, der war es nicht. Sie warf noch einen verwirrten Blick in die Halle, ging dann aber zügig zum Hallentor und stellte sich stumm neben den tief durchatmenden, noch blasser als sonst wirkenden Gerichtsmediziner.

„So etwas habe ich noch nicht gesehen…“ brachte Dr. Möller mit einem geflüsterten Hauch heraus.

3

Wie aus dem Nichts tauchen sie plötzlich auf. Wenn die Menschen Blut vergießen, lecken sie sich ihre drachenähnlichen Mäuler. Dann fährt die schmale, lange Zunge peitschenartig aus dem schuppigen Maul hervor und riecht und leckt zugleich den roten Lebenssaft.

Der winzigste Tropfen Blut, der auf den Erdboden fällt, bringt die gewaltigen Wesen zum Erwachen. Das Ausbluten der Menschen ist ihr Lebenselixier. Je mehr Blut fließt, desto mehr von ihnen werden wach, desto mehr von ihnen kommen aus dem Erdreich hervorgekrochen. Nichts anderes brauchen diese vieldimensionalen Echsen, um auf der Erdoberfläche zu erscheinen: Menschliches Blut als Nahrung für ihre Existenz.

Sie bleiben jedoch stets hinter dem Schleier, deshalb können die wenigsten von uns sie sehen. Ihre Energie ist allerdings sehr stark und sehr präsent – auch wenn wir sie nicht anfassen könnten, selbst wenn sie in ihrer vollen Größe vor uns stünden. Unsere Hand würde durch die Echsen schlicht nur hindurchgreifen.

Neben ihrer Blutrünstigkeit schürt ihre seltsame Erscheinungsform, die in bestimmten Gegenden der Erde – etwa jenseits des Ural und in Afrika – zu wahrlich finsteren Energielöchern führt, nicht nur die Fantasien der Menschen, sondern vor allem auch die Ängste der Menschen. Und hier liegt die zweite, fast ebenso wichtige Nahrungs- beziehungsweise Energiequelle der Wesen: Angst. Wo Menschen getötet werden, fließt und steht Angst. Und wo die seltsamen Echsen, angelockt und gestärkt durch menschliches Blutvergießen, in ihre mehr als geisterhafte Erscheinung treten, schüren sie noch mehr die Angst der Menschen, die sich hier befinden. Blut und Angst…

4

Marie saß zusammengesunken an ihrem Schreibtisch. Ihre Augen starrten auf das Meer aus Teeflecken hinter ihrer PC-Tastatur. Das Bild ging ihr nicht aus dem Kopf: Diese aus der Bananenkiste nach oben gestreckten Porzellan-Ärmchen, die sie nicht einmal greifen mochte, weil sie so verletzt wirkten mit ihren zum Greifen und Begreifen fehlenden vierten und fünften Fingern. Fast wie um die Menschen zu beschwören hatten sich die verbliebenen drei Finger jedes Händchens in den Himmel gestreckt. Wie ein winziges Schwurhändchen.

In was für einer absurden Welt leben wir nur. Alles was machbar ist, wird auch irgendwann irgendwo von irgendwem einmal getan.

Doch Marie beschlich das Gefühl, dass diese Regel wohl mehr noch für die bösen Seiten des Menschen galten als für seine guten.

Die gibt es doch auch. Der Mensch ist doch auch gut. Jeder kann sich doch jederzeit für das Gute entscheiden. Na gut, er muss es auch jederzeit und immer wieder neu, in jedem Augenblick tun.

Die Vibrationssalsa holte Marie schlagartig aus ihren Gedanken.

„Johannsson.“

„Frau Johannsson, hier ist Wilfried Möller, Gerichtsmedizin Kiel. Können Sie bitte bei mir vorbeikommen. Ich habe erste Informationen für Sie.“

„Ja, ich bin schon unterwegs,“ erwiderte Marie, sprang gleich auf, zog sich ihre Jacke an und machte sich mit ihrem Dienstfahrzeug auf den etwa fünfunddreißig Minuten dauernden Weg in die Nachbarstadt Kiel. Rendsburg hatte mangels Masse keine eigene Rechtsmedizin. Aber Kiel war nur einen Katzensprung entfernt und lief bei Marie schon fast unter „Außenstelle“.

Marie fand gleich einen Parkplatz im Parkhaus der Kieler Universitätskliniken und ging im Gebäude des Instituts für Rechtsmedizin schnellen Schrittes die Treppe hinunter in die Kellergewölbe der Pathologie.

Ehe Marie die Stahltür zum Präparationsraum öffnete schoss ihr durch den Kopf: Hoffentlich liegt das Kleine jetzt nicht in seinem entsetzlichen Zustand so offen bei Möller rum…

Als sie durch die Stahltür eingetreten war, schaute sich Marie zunächst mit unruhigem Blick in dem großen neonbeleuchteten kühlen Raum um. Gott sei dank – nirgends lag irgendetwas, dass sie an das tote Baby erinnerte.

Dankbar sah sie zu Dr. Möller.

„Ich hab´s weggelegt. Ist wirklich kein schöner Anblick. Ich kann Sie verstehen. Ich bin auch froh, dass ich jetzt erst einmal mit den gröbsten Untersuchungen durch bin.“

Marie war immer wieder aufs neue berührt von Möllers Achtsamkeit. Vor allem die unzähligen Fernsehkrimis haben den Gerichtsmedizinern einen derart schlechten, beziehungsweise kaltschnäuzigen oder extrem skurrilen Ruf eingebracht, so dass Marie sich gerne von der einfühlsamen Wirklichkeit des Dr. Möller über die ersten Untersuchungsergebnisse aufklären ließ.

„Das Baby ist keine vier Monate alt geworden,“ begann Möller. „Es ist wohlgenährt, eher kräftig als zu dick, hat also anscheinend gute Nahrung bekommen. Bis auf das…“ Möller stockte, „ist es auch sonst wohl gut behandelt worden. Keine blauen Flecken, keine Wunden, keine Abschürfungen und erst recht keine gebrochenen oder sonstwie malträtierten Körperteile. Herz und innere Organe – alles gesund. Das Kleine wirkt erstaunlicherweise sogar eher gepäppelt als in irgendeiner Weise vernächlässigt. Das Einzige was seltsam ist: Es scheint so gut wie kein Sonnenlicht gesehen zu haben. Ich habe selten ein derart blasses Kind gesehen. Extrem rosafarbene Haut. Fast weiß. Weißblonder Haaransatz, schon sehr norddeutsch. Ach ja, und es wäre wahrscheinlich ein sehr blonder Hans geworden, mit grau-blauen Augen. Ich weiß nicht, ob Sie in der Halle darauf geachtet haben, Frau Johannsson: Es ist, es war ein Junge.“

Marie hatte sich die Schilderungen des Gerichtsmediziners stumm angehört. Auch jetzt fiel ihr nichts ein. Ihr Kopf war leer und füllte sich nicht einmal mit Möllers Worten.

Seltsam das alles. Weshalb sollte man ein Baby besonders gut behandeln und päppeln, um es dann zu entstellen und einfach in einer Obstkiste wegzuwerfen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken bei der Vorstellung, welche Dramen sich hinter diesem grausigen Fund verbergen mochten, in die sie sich nun zu stürzen hatte, Dramen und Schicksale, die sie nun offenlegen sollte. Sie hatte sich schon für einen äußerst merkwürdigen Beruf entschieden: Unter der geschwungenen Fahne der Gerechtigkeit ihre Nase tief in die Seelenabgründe von anderen Menschen zu stecken. Wäre irgendetwas anders gelaufen, wenn ihr in solchen Situationen oder Gedankengängen nicht stets André Heller das abgründige Stichwort liefern würde? Wohl nicht.

„Und das, was fehlt?“ stammelte Marie und schaute Möller direkt an.

„Ganz sauber abgetrennt.“ Möller erwiderte ihren Blick. „Da wusste einer sehr genau, was er zu tun hatte. Sehr professionell amputiert, die Wunden gut versorgt, gut vernäht. Wer das gemacht hat, muss wenigstens medizinische Kenntnisse oder Praxis haben oder eben selbst ein Arzt sein. Die vier Amputationen sind übrigens zu verschiedenen Zeiten durchgeführt worden. Erst die kleinen Finger vor etwa drei, vier Wochen und die Abnahme der Ringfinger ist erst acht bis zehn Tage alt. Was überhaupt keinen Sinn macht. Erst hat sich jemand sehr große Mühe mit dieser Operation gegeben oder sie – was sicherlich einiges kostet – in Auftrag gegeben, und dann schmeißt er das Kind quasi einfach so weg. Das ist alles so absurd. Ach ja – und der Kleine ist zwischen 24 und 28 Stunden tot. Jetzt ist Dienstagnachmittag. Das heißt, der Tod muss gestern, am Montag zwischen 12 und 16 Uhr eingetreten sein.“

„Ich weiß auch nicht,“ entgegnete Marie.

Nach kurzem Schweigen fragte sie: „Missbrauch können Sie dann wohl auch definitiv ausschließen, Dr. Möller?“

„Ja, nichts dergleichen. Gott sei dank.“

Wieder Schweigen.

„Und die Todesursache ist auch reichlich mysteriös. Wie das Kleine zu Tode gekommen ist, ist mir bislang noch nicht klar. Herzversagen, sehr wahrscheinlich, um nicht zu sagen: ziemlich sicher. Aber dieses junge und kräftige Herz hat sicherlich nicht von allein aufgehört zu schlagen. Ich habe einige toxikologische Untersuchungen angefordert – aber mein Instinkt sagt mir, dass das nicht die richtige Fährte ist. Ich habe da so eine Idee im Kopf. Dazu muss ich aber noch einige Untersuchungen durchführen. Deren Ergebnisse kann ich Ihnen frühestens morgen liefern.“

„Also Tod durch Fremdeinwirkung?“ fragte Marie.

„Ziemlich sicher. Aber im Moment noch mehr gefühlte als bewiesene Sicherheit.“

„Ja, danke dann auch, Dr. Möller. Ich werde mich nun erst einmal um die Vermisstenmeldungen kümmern. Soll ich Sie auf dem Laufenden halten?“

„Ja, Frau Johannsson. Ich würde schon gerne um die Umstände dieses armen Würmchens wissen.“ entgegnete Möller.

„Dieses Bild von dem Kleinen in der Bananenkiste – ich krieg das gar nicht aus meinem Kopf…“

„Ja, das war ein grausiger Anblick. Deshalb – machen Sie nicht mehr zu lange heute, Frau Johannsson. Und machen Sie etwas Schönes heute Abend.“

„Ich gehe heute noch mit meinem Sohn zur Kieler Woche. Vielleicht vertreiben die Windjammer etwas von dem Grauen aus meinem Kopf. Und es weht ja auch eine gute Brise. Das tut mir immer gut, pustet den Kopf frei,“ antwortete Marie.

„Dann erst Mal tschüs und einen schönen Abend mit Ihrem Sohn.“

„Jow, tschüs auch. Ihnen auch einen guten Abend.“

Wieder zurück in ihrem Rendsburger Büro ließ sich Marie auf ihren Drehstuhl fallen.

Ein ermordeter Säugling in einer Bananenkiste, und vier fehlende Fingerchen.

Es klopfte und Mochita trat ein.

„Nichts, Chefin. Ich habe in Schleswig-Holstein angefangen. Hier wird gar kein Baby vermisst. Dann Hamburg. Nichts. Berlin, Ruhrgebiet. Nichts – alle Vermissten sind älter. Köln, Frankfurt, Stuttgart alles runter bis München – kein vermisster Säugling. Soll ich noch bei Interpol nachfragen?“

„Ja, bitte, Mochita, machen Sie das. Der Kleine war gut drei Monate alt, weißblondes Haar, wasserblaue Augen und er hat, laut dem Doc, so gut wie kein Sonnenlicht gesehen, also sehr heller Teint.“

„Wird erledigt,“ und im Hinausgehen warf Mochita noch über ihre Schulter Marie entgegen: „Übrigens hat Otto jetzt die Funde und Fotos fertig. Sie werden in der Kammer schon von ihm erwartet.“

Marie nahm noch einen Schluck Tee, der allerdings trotz Thermotasse widerlich lauwarm geworden war, und machte sich auf den Weg in die Kriminaltechnische.

In Rendsburg hieß das, auf den Weg zu Otto Storm. Otto, das Rendburger CSI, war der Mann fürs Grobe und fürs Feine. Ein kleines Genie. Er nahm nicht nur die klassischen Spuren eines Verbrechens auf wie Haare, Fingerabdrücke, DNA-Proben oder Blutspuren, sondern Otto konnte auch Chemie, kannte sich mit Insekten und anderen Tieren und auch vielen Pflanzen aus, war pfiffig und vor allem dachte er immer mit. Er konnte fast alles, und was er nicht konnte versuchte er zu lernen, scheute sich aber auch nicht, abzugeben. Otto war die Seele der Spurensicherung und der Joker eines jeden Indizienprozesses. In einer größeren Stadt mit spektakuläreren Fällen wäre Otto sicherlich eine lokale Berühmtheit geworden. Doch er liebte die sutsche Art hier in der norddeutschen Kleinstadt und war auch mehr als gerne sein eigener Chef. Dazu muss man wissen, dass eine menschliches Qualität bei Otto mehr als unterbelichtet war: der Drang zu sprechen. Das Gros seiner Äußerungen bestand aus „mmh“ , „jow“ und „nee“. Da hatte wohl seine norddeutsche Erblinie komplett zugeschlagen und jegliches nicht der minimalistisch-korrekten Informationsweitergabe dienende Wortfindungsprogramm aus seinem Sprachzentrum gelöscht. Von Worten wie „freuen“, „lieben“, „fühlen“ oder „aufregen“ ganz zu schweigen kam Otto kaum je der kleine Einsilber „ich“ über die Lippen. Etwas war. Etwas geschah. Etwas deutete hin. Aber er als Person spielte dabei keine Rolle. Er war im buddhistischsten Sinne ein Diener, ein ausführender Diener seines Jobs, beständig und mit allen geöffneten Sinnen auf der Suche nach der Wahrheit. Der belegbaren Wahrheit. Seine Belege waren dementsprechend exzellent. Seine Berichte waren stets detailliert, sehr klar und ohne jeglichen Anflug einer verstörenden Prosa.

Marie arbeitete gerne mit dem Eigenbrödler zusammen. Wortkargheit war sie von Kindesbeinen an gewohnt: „Wer so im Wind wohnt wie wir, dem fliegen die Worte doch nur davon. Nur was du schaffst, bleibt und zählt.“ Das sagte ihre Mutter Klara noch heute. Und Klara Johannsson hatte diese windige Weisheit schon von ihrer Mutter gehört und diese von ihrer. Bei Johannssons schien die Wortkargheit über die weibliche Linie vererbt zu werden. Nur Marie schlug aus der Reihe. Sie war zwar nicht geschwätzig, aber im Vergleich zu ihrer Mutter redete sie in Romanform, wenn auch eher als kleine Taschenbuchausgabe.

Otto hatte alle Utensilien in der ihm eigenen Art übersichtlich auf den Tischen geordnet.

Da war zunächst die Bananenkiste, drumherum die Fotos vom Fundort und Detailaufnahmen. Der Bananenkarton: feste Pappe mit großen Luftlöchern. Otto hatte den großen Pappdeckel neben das offene Bodenteil gelegt. Ein paar Strunke grüne Bananen lagen auf dem Pappboden. Kein sichtbares Blut, wie Otto auf seinem KTU-Bogen bemerkt hatte. Er hatte auch kein für das bloße Auge unsichtbares Blut innen oder außen am Karton gefunden. Blutleer – wie auch das kleine Würmchen auf Marie gewirkt hatte.

Die Adresse auf dem Speditionsaufkleber lautete: Hamburger Fruchtkontor, Oswaldkai – Freihafen, Kleiner Grasbrook, Schuppen 46, D-20457 Hamburg. Von Rendsburg stand da gar nichts. Das musste sie gleich mit der Aalkate klären. Der Leiter der Großmarkthalle, wie hieß er gleich – Schöning. Irgendwo hatte Marie sich doch seine Durchwahl aufgeschrieben. Maries klassisches Notizbuch war meist unerschöpflich.

„Guten Tag, Herr Schöning, hier Kriminalhauptkommissarin Johannsson. Schön, dass ich Sie noch erreiche. Eine kurze Auskunft von Ihnen würde mir jetzt sehr weiterhelfen.“

„Guten Tag, Frau Johannsson. Fragen Sie, ich würde diesen Vorfall gern so schnell wie möglich aus der Welt räumen. Ich sehe schon morgen die Presse: Missbrauchte Babyleiche in Bananenkiste. Solch eine Räuberpistole können wir gar nicht gebrauchen. Ist nur schlecht fürs Geschäft. Also los, fragen Sie!“ antwortete Schöning leicht gereizt.

„War diese Bananenkiste überhaupt für Sie bestimmt? Ich kann nämlich nirgends Ihre Adresse oder auch nur den Ortsnamen Rendsburg erkennen.“

„Nein, das ist es ja. Da muss etwas schief gelaufen sein. Solche unreifen Bananen bekommen wir normalerweise gar nicht. Wir haben überhaupt nicht die räumlichen und personellen Kapazitäten, um die Bananen in der Halle noch auf den richtigen Punkt nachreifen zu lassen. Es ist eben noch dazu ein Fehler in Hamburg, der uns nun solche Scherereien macht. Die haben aus was weiß ich für Gründen den ganzen grünen Container zu uns geschickt. Meine Leute haben den Inhalt gecheckt und sind gleich bei der ersten Kiste, die sie geöffnet haben zufällig auf dieses unglückselige Kind gestoßen.“

„Nun ja,“ murmelte Marie leise vor sich hin, aber dennoch in den Hörer. „Zufälle gibt es ja nun eher nicht auf dieser Welt. Aber was das zu bedeuten hat…“

„Mmmh…?“ raunte es am anderen Ende.

„Ja, vielen Dank für die Auskunft, Herr Schöning. Sie haben mir sehr geholfen. Auf wiederhören, Herr Schöning,“ verabschiedete sich Marie.

Nun ja, bestätigt hatte diese Information Maries Vermutung, aber geholfen hatte sie ihr in keinster Weise. Aus Versehen hatte man ihr eine anscheinend von niemandem vermisste Babyleiche vor die Tür gelegt. Und das sollte kein Zufall sein…

Marie ging die von Otto aufbereiteten Spuren weiter durch. Was sehr schnell ging, denn viel mehr war nicht. Der Karton mit der Leiche war angeliefert – falsch angeliefert worden, und unmittelbar daraufhin kontrolliert und geöffnet worden und eine halbe Stunde später hatte sie schon mit Möller schluckend neben dem Fund gestanden. Was immer passiert war, war nicht in Rendsburg geschehen. Entweder war das Baby in Hamburg in den Karton gelangt oder – wo kamen eigentlich die Bananen her, aus Costa Rica – oder in Costa Rica, das war aber doch eher unwahrscheinlich, auch wenn die Bananen sicher immer gut kühl gehalten werden. Dazu musste sie noch Möller befragen, aber sie glaubte nach all ihrer bisherigen Erfahrung nicht, dass das Baby in diesem Zustand eine Passage von Mittelamerika aus überstanden hätte. Zudem war es ja rund 24 Stunden vor seinem Auffinden ums Leben gekommen.

Also würde dieser Fall höchstwahrscheinlich auf eine Zusammenarbeit mit den Hamburgern hinauslaufen. Dann würde sie womöglich den gutaussehenden smarten Robert wiedersehen und seine Chefin, zugleich sein äußerliches Gegenstück, die kleine dicke Gabi Schlieper, die aber so viel Verstand im Kopf hatte wie kaum sie beide zusammen.

Die Salsavibrationen in ihrer Hosentasche erinnerten Marie an ihre Verabredung mit ihrem Sohn: „Ja mein Schatz, ich bin schon unterwegs.“

Oh je, das war einer ihrer Standardsätze als alleinerziehende Mutter. Lukas konnte des bestimmt nicht mehr hören. Aber Marie machte sich ja nun augenblicklich auf den Patt.

Nach einem kurzschweifenden Blick über Ottos Indizientische steckte Marie ihren Kopf in Ottos Kammer: „Tschüs Otto. Bis morgen.“

„Jow, meen Deern. Man tau!“ brummte es zwischen Mikroskop und diversen anderen, für Marie mysteriösen Gerätschaften zurück.

Otto war noch mit irgendetwas beschäftigt. Aber es machte keinen Sinn, ihn jetzt danach zu fragen. Otto würde nicht eher ruhen, bis er dieses Indiz, das er in den Fingern hatte, untersucht und abgeklärt hatte. Marie erhielt dann Bescheid, sofort und präzise. Vielleicht war doch noch ein Haar oder eine Textilfaser an der Leiche gewesen oder irgendetwas anderes.

Marie schaute noch rasch in ihrem Büro vorbei und nahm ihre Jacke vom Haken. Das Polizeigebäude war bereits verwaist. Die ersten Bodenreinigungsgeräte der Putzkolonne eroberten ihr Terrain. Marie schloss die Tür hinter sich und ging zu ihrem Wagen.

Die Windjammerparade war ein voller Erfolg. Lukas Augen leuchteten bei all den prachtvollen Segelschiffen: die majestätischen Viermaster „Gorch Fock“ und „Christian Radich“ und etwa die „Alexander von Humboldt“ mit ihren grünen Segeln. Lukas erklärte ihr Vollschiffe und Barken, Takelung mit Rahsegeln und wie viele Bruttoregistertonnen die eleganten Kolosse aus Holz und Stahl hatten. Unzählige Schoner, Fregatten, Koggen und natürlich auch kleine moderne Segelschiffe zogen ihre Linien durch das Wasser.

Marie reichte die oberflächliche Faszination der ruhig dahinsegelnden Schönheiten. Sie bewahrte sich ihre cineastische Seglerromantik mit Errol Flynn als Freibeuter der Meere. Ihr reichte das völlig aus. Und bei der Vorstellung, dass sich der junge Flynn durch die Takelage des Viermasters vor ihnen schwang, zog ein Schmunzeln kurz über Maries Gesicht.

Lukas hingegen vertiefte sich in jedes erkennbare Detail. Er hatte seine absolute Schiffsphase. Keine romantischen Kapitänswünsche, sondern die technischen Details und Raffinessen faszinierten den aufgeweckten Jungen.

Es war die dritte Technikphase, die Marie bei Lukas mitbekommen hatte. Als kleiner Dötz liebte er Autos in jeglicher Form, Matchbox, Bagger, ferngesteuerte Polizeiautos mit Sirene und schließlich sein Gocart. Dann kam die Eisenbahnphase mit einer raschen Entwicklung von der Holzeisenbahn über Lego bis zur kleinen Märklinausgabe. Nun waren die Schiffe dran. Würden dann Flugzeuge und später Raumschiffe folgen und Lukas dann doch als erwachsener Verwaltungsangestellter enden? Na ja, weder wusste das Marie, noch ging sie das wirklich was an. Es sollte schon was aus ihm werden, gerade in diesen wirtschaftlich und beruflich so ungewissen Zeiten.

Bei solchen Gedankengängen fiel Marie immer wieder die Geschichte einer sehr guten Freundin ein. Sie hatte einen 16jährigen Jungen aus so genannten schwierigen sozialen Verhältnissen bei der Erörterung seiner Schulprobleme gefragt, was er denn werden wolle, wenn ihm die Schule so egal sei. Der Junge hatte ihr ganz klar und selbstbewusst geantwortet, dass er Penner werden wolle, dass er sobald er es selbst entscheiden könne, auf der Straße leben wolle. Und Maries Freundin hatte ihm das in all seiner Ernsthaftigkeit zusammen mit der ihm eigenen hohen Intelligenz abgenommen. Er hatte keinen Bock auf den gesellschaftlichen Firlefanz, wollte in keinem System funktionieren müssen und erklärtermaßen nur seine Ruhe haben. Die Freundin war nach einigem inneren Ringen – mit ihren eigenen gesellschaftsmoralischen Vorstellungen – mit der Entscheidung des Jungen in friedliches Einverständnis gegangen. Von da ab hatten die beiden ein sehr respektvolles gutes Verhältnis miteinander.

Marie hatte für sich entschieden, so gut sie es als Mutter konnte, ihre eigenen Vorstellungen hinsichtlich der so genannten Entwicklung ihres Sohnes so gut wie möglich draußen vor zu lassen – das alles Entscheidende war doch in ihren Augen sowieso , dass ein Mensch sein Herz öffnet, Achtung, Respekt und Liebe in die Welt gibt. Sie sagte Lukas schon hin und wieder, was sie sich von ihm wünschte oder wie oder wo sie ihn gerne sähe. Aber sie bemühte sich ehrlich darum, es für ihn auch als ihren Wunsch deutlich zu machen, das Ansinnen der Mutter, die das Beste für ihren Sohn möchte. Wichtig war stets, was Lukas selber wollte. Schließlich hatte sich Marie ihrerzeit auch vehement gegen ihren Vater Hein, der sich seine Tochter nur in einer Sparkasse, höchstens einer Bank vorstellen konnte, durchgesetzt. Schwerer noch war es, sich gegen ihre Mutter Klara zu behaupten. Klara war eine abgebrochene Gymnasiastin – ihr eigener Vater hatte sie nach der Realschulreife trotz guter Noten vom Gymnasium genommen, weil er, unausgesprochen natürlich, fürchtete, sie werde ihm sonst intellektuell irgendwann auf den Kopf spucken. Nach ihrem Abitur sollte Marie von Klara aus studieren, unbedingt die akademische Laufbahn einschlagen, am besten noch den „Doktor“ machen. Als Marie dann tatsächlich bei ihrem früh entstandenen Wunsch blieb und zur Polizei ging, brach für Klara tatsächlich eine Welt – ihre Welt – zusammen. Sie brauchte zwei Jahre, ehe sie sich von ihrem „Schock“ erholt hatte. In dieser Zeit war das Verhältnis der beiden Frauen aufs äußerste angespannt. Sie wechselten kaum ein, zwei Worte miteinander.

Nun war Klara Johannsson einigermaßen stolz auf ihr Kind. Ihre Tochter war nun das, was sie laufend im Fernsehen zeigten. Intellektuelle Ideale können über die Zeit sehr blass werden.

Nachdem Marie und Lukas ihre obligatorischen Fritten rot-weiß vertilgt hatten, schlenderten Mutter und Sohn noch gemütlich die Verkaufsstände und Buden am Kai entlang. Lukas begeisterte sich noch für ein Buddelschiff zum Selbstbauen, ein Zweimaster mit voller Takelage in einer Flasche nebst Bastelanleitung. Marie wusste, dass sie ihm damit eine Riesenfreude machte und bezahlte den naturgemäß bei solchen Events stark überhöhten Preis. Alles hat eben seine Zeit, und seinen Preis allemal.

Völlig erschöpft und zugleich angefüllt und aufgewühlt von den sehr unterschiedlichen Eindrücken des Tages kamen die beiden zuhause an. Lukas bekam noch einen heißen Kakao und dann fielen beide nur noch in ihre Betten.

5

Am nächsten Morgen wachte Marie gegen vier Uhr schweißgebadet auf. Sie hatte finsterst geträumt: Eine Art Woodoo-Ritual im Urwald, mit Menschenopfern. Und dazu ekstatische Trommelrhythmen, die sich immer wieder in sich selbst überschlugen. Was genau da vor sich ging, konnte sie nicht sehen. Wollte sie auch nicht wirklich sehen, nicht einmal im Traumschlaf. Marie spürte sehr genau, dass hier eine Grenze überschritten wurde. Ein Medizinmann oder Schamane war am Werk, tanzte zwischendurch in Trance zu den Trommeln und ging immer wieder mit entrücktem Blick in die für Marie uneinsehbare Ecke hinter einer Hütte zurück. Alles war dunkel: Die Menschen, die Nacht und die Atmosphäre.

Marie war dankbar dafür, dass sie aus diesem Traum hochgeschnellt war. Wenngleich sie noch sehr müde war, konnte sie aber trotzdem nicht mehr einschlafen. Nachdem sie sich zwanzig Minuten in ihrem Bett von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, um zu versuchen, ihrem wachen Bewusstsein noch für ein paar Stunden zu entrinnen, stand Marie auf, holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und setzte sich in eine Decke gehüllt zu ihrer Morgenmeditation auf ihren kleinen Rattan-Sessel.

Die Lichtmeditation war heute in der Frühe besonders intensiv. Warmes, fast bronzefarbenes Licht durchströmte ihren Prana-Kanal, die energetische Lichtsäule um die Wirbelsäule. Die Meditation tat Marie sehr gut. Sie fühlte sich verbunden mit der Quelle allen Seins und fühlte sich auf fast wundersame Weise gut aufgehoben in dieser Welt. Und dass ob dieser Ereignisse des gestrigen Tages und justamente nach einem solch bizarren Traum. Ihr Verstand konnte ihre innere Ruhe und Gelassenheit nicht nachvollziehen. Aber es fühlte sich sehr gut an.

Marie war über ihre Freundin Helga zur Lichtmeditation gekommen. Helga brachte ihr sehr unaufdringlich spirituelle Neuentdeckungen oder Entwicklungen nahe. Sie hatte Marie vor gut einem Jahr zu einem Seminar über Lichtarbeit mitgenommen, wo sie verschiedene intensive Meditationsformen kennengelernt hatten. Helga war wohl der einzige Mensch, von dem Marie solche Tipps annehmen konnte und sie tatsächlich auch noch umsetzte. Marie kam zwar aus einer Spökenkiekerfamilie, sodass ihr der Umgang mit Geistern und unsichtbaren Kräften keineswegs fremd war. Doch zum einen war dies in ihrer Sippe – wie sie erst sehr viel später herausfand: ungewöhnlicherweise – Männersache, und zum anderen war Marie seit sie denken konnte, fasziniert vom Jonglieren mit Fakten, Daten und dem, was durch die Wissenschaften präzisierbar ist. Dabei ließ sie ihre Intuition nicht außer acht, vor allem auch nicht in ihrem Job, aber ihr Lebensschwerpunkt lag deutlich auf der anfassbaren Seite des Daseins.

Ihr heimlicher Favorit war die Astrophysik. Nicht dass Marie groß Ahnung davon hatte, aber sobald sie das Foto einer Galaxie zu Gesicht bekam, stieg ihr das Leuchten vom Herzen zu den Augen empor – etwa so wie Lukas in seiner Auto-, Eisenbahn- oder Schiffsphase. Nur, dass Marie ihren Zündfunken für inneres Leuchten schon gefunden hatte.

Nach ihrem Abitur hatte Marie überlegt, Astrophysik zu studieren. Sie hatte sich einen Termin bei einer Physik-Professorin an der Hamburger Sternwarte besorgt und mit der sehr freundlichen Wissenschaftlerin über ihr – wie es ihr in der Situation vorkam – beinahe kindliches Interesse an den Sternen und Welten gesprochen. Den Namen der Wissenschaftlerin hatte Marie vergessen. Es war ihr aber noch heute deutlich in Erinnerung, dass die Frau sie mit ihren im Nachhinein doch reichlich schlicht anmutenden Vorstellungen sehr ernst genommen hatte. Die Quintessenz des Besuchs war, dass die Professorin Marie vom Studium abriet, da die Astrophysiker die wenigste Zeit an einem Teleskop zubrachten, sondern hauptsächlich mathematische Berechnungen durchführten, um meist automatisch durch spezielle Messgeräte aufgenommene Daten und Zahlen zu verarbeiten.

Marie war zwar recht gut in Mathe, aber den ganzen Tag nur herumzurechnen fand sie nun doch nicht so erstrebenswert. Marie war noch heute der Professorin dankbar, hatte sie sie doch vor einer Fehlentscheidung bewahrt. Und der Respekt, mit dem ihr die Frau trotz ihrer kindlich-verträumten und unklaren Vorstellungen begegnet war, hatte sie sehr nachhaltig beeindruckt. In ihrem jetzigen Job konnte Marie in vollem Umfang ihre Kombinationsfähigkeit unter Beweis stellen. Und hierbei musste sie nun nicht mit abstrakten Zahlen jonglieren, die für Materiehaufen im Weltall standen und deren Geschwindigkeit, mit der sie sich von unserem kleinen Erdapfel entfernen.

Wenn sie sich nun in der Meditation einen von irgendwo aus dem Off des Weltalls kommenden Lichtstrahl vorstellen sollte, der ihre Wirbelsäule entlangzog – na gut, dann machte sie das. Maries bildliche Vorstellungskraft war ganz passabel – und es funktionierte. Sie konnte die unzähligen auseinanderdriftenden Galaxien und das universelle Licht, die Energie Prana – wie sie die Hindus in Indien nannten – oder Qi – wie das die alten Chinesen taten – gut nebeneinander stehen lassen. In allererster Linie war sie ja Pragmatikerin. Ein echtes Nordlicht eben.

Noch dazu tat ihr das Lichtdurchströmen sehr gut. Das hatte sie schon bei der ersten Seminarübung gespürt. Marie merkte schnell, dass dies für sie eine Möglichkeit war, das endlose Gedankenkreisen in ihrem Kopf, die nicht enden wollenden Spielfilme und Hörspiele vor ihren inneren Augen und Ohren anzuhalten. Diese Stille und Ruhe in ihrem Kopf waren einfach ein Hochgenuss. Diesen Genuss gönnte sie sich nun fast jeden Morgen. Sie stand extra eine Dreiviertelstunde früher auf, um ihren Tag mit einer Meditation zu beginnen.

Heute war Marie so früh und zugleich derart hell wach, dass sie sich nach ihrer Meditation anzog und eine Runde am Wittenseer Strandweg spazieren ging. Willi, der alte Hovawart, freute sich ob des überraschenden Frühgangs und begleitete Marie schwanzwedelnd.

Marie hatte Willi vor knapp fünf Jahren als schon mittelalten Burschen aus dem Tierheim geholt. Sie und ihre Mutter hatten beide ein Händchen für die bellenden Pelzträger, doch Klara hatte nun die Zeit. Auf ihrem ausgebauten Hof in Sande am Wittensee hatte sich Willi innerhalb von nur einer Woche von einem in sich gekehrten und zutiefst verletzten und traurigen Riesenhund zu einem ausgeglichenen Familienmitglied verwandelt. Nun war der Hovawart zwölf Jahre alt, hatte es nicht mehr mit herumspringen und musste auch nicht mehr überall seine Nase hineinstecken, aber einen Spaziergang mit Marie ließ er sich natürlich nicht entgehen.

Um kurz nach fünf waren nicht einmal andere Hundegänger unterwegs. Seestrand und Stille gehörten den beiden allein. Marie warf einen dicken Ast in den Wassersaum und im gemählichen, darum aber nicht weniger freudigen Althundetempo, sprintete Willi los und holte den Stock aus dem Wasser, ohne sich seinen Bauch nass zu machen. Dann legte er sich mit dem Stock zwischen seinen dicken Pfoten in den Sand und begann mit einer seiner Lieblingsbeschäftigungen: „Stöckchen raspeln“. Nach kaum zehn Minuten würden von diesem fast armdicken Ast nur noch unzählige Zahnstocher übrig bleiben. Marie hockte sich auf einen dicken abgerundeten Stein neben den zufriedenen Hovawart.

Vor ihrem inneren Auge tauchte selbst in dieser stillen Idylle wieder das grausame Bild des toten Babys in der Bananenkiste auf. Sie hatte überhaupt nichts. Keine Hinweise auf die Identität des Kleinen, geschweige denn etwas über die Hintergründe dieser abstrusen Tat. Hoffentlich konnte Dr. Möller noch die genaue Todesursache klären und vielleicht hatte Otto tatsächlich noch etwas Hilfreiches in Arbeit.

Eine feuchte Hundenase, die unter ihren Arm stubste, holte sie aus ihrem Gedankenstrom.

Wieder zuhause angekommen, konnte sich Marie an einen gedeckten Frühstückstisch setzen. Ihre Mutter Klara hatte mitbekommen, dass sie schon unterwegs war und netterweise sogar Eier gekocht. Marie liebte Frühstückseier, schön weich, auf keinen Fall das Gelbe hart, lieber das Weiße noch ein klein wenig flüssig. Ihre Mutter, eine hervorragende Köchin, schaffte die Eier für jeden Spezialwunsch „au point“.

„Was hat dich denn schon so früh umhergetrieben?“ fragte Klara ihre Tochter.

„Ich habe schlecht geträumt. Wird wohl mit meinem neuen Fall zu tun haben. Der ist sehr grausig und merkwürdig.“

„Kind. Ob das wirklich der richtige Beruf ist für dich, immer diese Toten und dich mit dem Bösen beschäftigen.“

Bei dem Wort „Bösen“ schien Klara Johannsson ein Schauer über den Rücken zu laufen. Ihre Mutter war keine Christin im landläufigen Sinn, aber war dennoch auf ihre eigene Art eine sehr gottesfürchtige Frau. Klara nahm sehr aufmerksam das Gute und das Böse in der Welt wahr. Bigotterie war ihr zutiefst zuwider.

„Ach, Mama…“ seufzte Marie nur.

Ei und Toast mit Marmelade taten ihr jetzt gut.

„Danke fürs Frühstückmachen, Mama.“

„Aber da nicht für.“

„Ich weiß, du machst das gerne. Aber du schläfst auch gerne mal etwas länger. Deshalb danke.“

„Ach Marie…“

Vor einem Jahr hatte Marie ihre Mutter zu sich geholt. Nachdem ihr Vater Hein vor anderthalb Jahren gestorben war, hatte Klara, obwohl sie erst 68 Jahre alt war, zusehends abgebaut. Sie konnte nicht allein sein und hatte ohne ihren Hein keine Aufgabe mehr.

Klara war bis zu ihrer Pensionierung Hauptschullehrerin im Dorf gewesen, war es folglich gewohnt, Ansprache und Kontakte zu haben. Marie konnte nicht mit ansehen, wie ihre Mutter allein auf dem Dorf in dem viel zu großen Haus vor sich hin kümmerte und holte sie kurzerhand auf ihren kleinen umgebauten Hof. Zunächst brachte Marie sie in einem ihrer beiden Gästezimmer unter und ließ währenddessen mit einem Durchbruch den ehemaligen Schweinestall zu zwei gemütlichen Zimmern mit eigenem Bad für ihre Mutter ausbauen.

War sie sich zunächst unsicher gewesen, ob ihnen beiden das nicht zu nah sein würde, stellte sich im Alltag heraus, dass Klara eine ideale Ergänzung für ihre kleine Wohngemeinschaft war. Als hervorragende Köchin wickelte sie nicht nur ihre Tochter und ihren Enkel um den Finger. Auch Andreas, der alte Freund Maries, der in der Einliegerwohnung lebte, war von dem Zuwachs sehr angetan. Marie musste bei bestimmten Kommentaren oder Gesten immer mal wieder von den alten Mutter-Tochter-Geschichten zwischen ihnen absehen und fünfe gerade sein lassen. Marie ging ihr Zusammenleben als eine Art Übung an, sich in Gleichmut und Gelassenheit zu trainieren und immer mehr von ihren eigenen Befindlichkeiten, Verletzungen und Mimositäten abzusehen. Das gelang ihr häufig schon ganz gut, auch wenn sie sich schon das eine und andere Mal von der Decke hatte abkratzen müssen, unter die sie gegangen war, wenn sich Klara allzu vehement in ihr Leben eingemischt hatte. Doch beide Frauen übten sich jeden Tag aufs Neue in gegenseitigem Respekt. Es war beiden gleichermaßen wichtig – da waren sie sich einig. An diesen still geschlossenen Pakt durften sie sich auch stets gegenseitig erinnern – das war ein wichtiger Teil ihrer Abmachung die Regeln ihres Zusammenlebens betreffend.

Und Lukas – der Junge liebte seine Oma. Über alles. Sie ihn natürlich auch. Sie verwöhnte Lukas, wo sie nur konnte und er es zuließ, und beide genossen dann das Genießen. Marie musste oft schmunzeln, wenn sie die beiden Arm in Arm tuschelnd oder lachend über den Hof gehen sah. Die übernächsten Generationen hatten es wohl immer etwas leichter miteinander. Marie war ihre Lehrerin-Mutter stets verhalten und etwas streng vorgekommen. Nun wirkte sie so heiter und gelassen im Zusammensein mit Lukas.

„Guten Morgen“, kam es verschlafen vom unteren Treppenabsatz in die offene Küche.

„Moin, moin“, antworteten Mutter und Oma im Duett.

„Meen Jong, was hat dich denn so früh aus dem warmen Bett katapultiert?“ fragte Marie ihren Sohn.

„Ich habe geträumt. Schwarze Männer haben um ein Feuer herum getanzt, zu lauter Musik. Trommeln. Und dann wurde ich wach. Und kam auch noch Willis Waschlappen, voll durch mein Gesicht. Und dann war ich quietschwach. Nass und quietschwach. Und als ich Oma in der Küche gehört habe, bin ich halt aufgestanden.“

„Mein Schätzeken!“ säuselte Marie und strich Lukas zärtlich über den Kopf.

„Machst du mir Pfannkuchen, Oma?“ schäkerte Lukas seine Oma mit gekonntem Augenaufschlag an.

Klara saß schon bei ihrem Toast mit Ei. Dennoch stand sie mit einem selbstverständlichen „Sicher, mein Lieber“ auf und öffnete sogleich den Küchenschrank, um das Mehl aus dem Fach zu nehmen. Klara schlug ein Ei auf, rührte es mit dem Schneebesen auf und gab das Mehl, etwas Salz und Milch hinzu.

„Die afrikanische Puppe weint um ihre große Schwester.“ sagte Lukas abwesend vor sich hin.

Marie stutzte.

„Was für eine afrikanische Puppe, Lukas?“

„Die aus dem Schiff…“

„Lukas, wovon redest du?“

Lukas schaut seine Mutter irritiert an. „Ich habe doch gar nichts gesagt.“ Und hinter sich gewandt: „Oma, machst du mir bitte Rübenkraut drauf.“

„Ja, sollst du kriegen,“ antwortete es vom Herd.

Das war wieder so eine Situation, dachte Marie. Lukas sagte ganz klar und deutlich irgendetwas, aber er selbst wusste von nichts. Seit er sprechen konnte, purzelten immer mal wieder Wörter oder Sätze aus ihm heraus, die sie zunächst nicht verstand und von denen Lukas gar nicht wusste, dass er sie gesprochen hatte. Manches Mal hatte Marie das Gefühl gehabt, dass etwas durch ihren Sohn sprach. Er stellte Verknüpfungen her und benutzte Worte, die er gar nicht kennen konnte. Marie hatte außerdem den Verdacht, dass die Inhalte der Worte oder Sätze aus der Zukunft kamen. Ihr geheimnisvoller, prophetischer Sohn.

Seltsam war nur, dass sie auch heute Nacht etwas von Afrika geträumt hatte und dass Lukas nun zum zweiten Mal von einer schwarzen Puppe oder einem schwarzen Baby erzählte. Hatte sie nicht gestern auch beim Fundort afrikanische Trommelrhythmen gehört? Seltsam. Sie hatte doch mit Afrika nun überhaupt nichts zu tun. Und ihr Fall doch auch nicht.

„Wir schreiben heute eine Mathearbeit.“ holte Lukas Marie in die Gegenwart zurück.

„Und – bist du fit?“

„Ja. Ist doch nur malnehmen und teilen. Das kann ich gut. Nur das Diktat gestern, das war blöd. Das war viel zu schwer. Ganz viele Wörter habe ich noch nie geschrieben.“

„Das hast du ja gestern gar nicht erzählt, Lukas, dass ihr ein Diktat schreibt.“

„Wohl hab ich das gesagt. Hast du nur nicht gehört, Mama.“

„Ach, Schnurzel.“ schmunzelte Marie über den Frühstückstisch zu ihrem Sohn. „Da war ich wohl wieder busy. Sorry. Ich wünsch dir jedenfalls für Mathe heute das Allerbeste, mein Schatz. In der wievielten Stunde geht’s denn los?“

„Erst in der dritten.“

„Gut, Sohnemann, dann schicke ich dir so um elf Uhr gute Gedanken rüber, einverstanden?“

„Gerne, Mama. Oma – krieg ich noch einen Pfannkuchen? Ich hab solch einen Riesenhunger heute.“

Klara warf gleich den Herd an und rührte den Pfannkuchenteig noch einmal durch, ehe sie ihn in die heiße Pfanne schüttete. „Na, die Schiffe gestern waren wohl richtig aufregend, dass du heute morgen so´n Seebärenappetit hast.“

„Oh, ja, Omi. Die weiße „Christian Radich“ war sogar da, voll unter Segel – ein Vollschiff mit doppelten Mars- und einfachen Bramsegeln. Aus Norwegen.“

„Was du wieder weißt, meen Jong.“

„Ach, Omi. Das weiß man doch.“

„Also ich nicht.“

„Und ich auch nicht, Lukas.“ warf Marie ein. „Ich weiß nicht mal, dass der Mars eigene Segel hat. Ich dachte immer das wäre unser roter Planet hier im Sonnensystem.“

„Mama.“ lachte Lukas. „Die Segel sind doch nicht auf dem Mars. Marssegel sitzen an der Rah, am oberen Teil der Masten, über der ersten Saling.“

„Oi-woi. Ich bin beeindruckt. Ich fand dieses weiße Segelschulschiff aber auch sehr beeindruckend, wunderschön, elegant – fehlte nur noch ein smarter Freibeuter in der Takelage.“

„Marie, Marie,“ grinste Klara vor sich hin, „schwärmst du immer noch für Errol Flynn mit dem zarten Oberlippenbärtchen. Der hat dich schon als kleines Mädchen ganz durcheinander gebracht.“

„Wer ist Errol Flynn?“ fragte Lukas.

„Ein Schauspieler – ist aber schon lange tot. Den kennst du nicht mehr, Lukas.“ antwortete seine Großmutter.

„Wir können uns vielleicht mal eine DVD mit ihm holen, vielleicht gibt’s die ja. „Der Herr der sieben Meere“ oder der Piratenfilm mit Olivia de Havilland. Da kommen auch tolle Segelschiffe vor…aber ich glaube, jetzt müssen wir uns sputen.“

Die drei Johannssons verdrückten nun rasch ihr restliches Frühstück. Anschließend warf sich Lukas seinen Anorak über und stieg zu Klara ins Auto, die ihn zur Schule brachte. Marie fuhr nach Rendsburg zu ihrer Dienststelle.

6

Auf ihrem Schreibtisch lag ein Zettel von Otto: Kommen Sie bitte – Neuigkeiten. Typisch Otto: Kurz, knapp, aber alles drin. Und sogar der Dringlichkeit war im Weglassen überflüssiger Worte Nachdruck gegeben. Otto war schon eine präzise Seltsamkeit.

Rasch blätterte Marie ihre Post und hausinternen Notizen durch, die sich jeden Tag, häufig sogar mehrmals, als Loseblattsammlung in ihrem Fach einfanden. Erst Mal nichts für diesen Fall relevantes dabei. Noch schnell den AB abhören: Keine neuen Nachrichten. Dann ging Marie in die Kriminaltechnische.

„Marie, meen Deern. Schauen Sie doch mal durch…“ und Otto rollte mit seinem Schreibtischstuhl ein wenig von der Tischkante weg, stand auf und wies Marie mit einer Handbewegung den Platz an. Marie setzte sich folgsam hin und schaute durch die Okulare des großen Mikroskops vor sich. Das heißt, sie versuchte zu gucken. Sie sah nichts, bis auf ihre eigenen Wimpern.

Es war immer das gleiche. Sie konnte sich nicht merken, was sie beim Mikroskopieren beachten musste, damit sie das, um was es ging, auch tatsächlich sah.

„Entspann dich, meen Deern,“ beruhigte sie Otto. „und den Kopf etwas zurück. Mit beiden Augen gucken.“

Nun sah Marie zwei verschwommene Bilder. Doch mit einigem Hin und Her ihres Kopfes brachte sie die beiden Bilder ihres linken und rechten Auges zur Deckung. Sie sah etwas fast Durchsichtiges, eine Art Faden. Ein durchsichtiger Faden, der sich auf der unteren Seite des Bildes in den Fokus schlängelte und nach einigen Schleifen rechts oben das Bild wieder verließ.

„Otto, ich sehe einen Faden, der sich durch das Bild schlängelt. Was ist das?“

„Ein Haar.“ antwortete Otto.

„Ja, gut. Ein lockiges Haar. War das an der Leiche?“

„Ja.“

„Und…?“

„Es ist vollkommen farblos.“

„Wie? Was meinen Sie mit farblos, Otto?“

„Nicht schwarz, nicht braun, nicht rot, nicht blond, nicht grau.“

„Ja, wie? Eine Haarfarbe muss doch jedes Haar haben.“

„Dies hat keine.“

„Also weiße Haare. Ist der Täter grau- oder weißhaarig?“

„Nein. Pigmente, Farbstoffe machen die Haarfarbe. Eumelanin braun und schwarz und Phäomelanin rot und blond. Graues Haar enthält immer noch die Pigmente der ursprünglichen Haarfarbe, aber altersbedingt eingelagerte Luftbläschen lassen das Haar für unsere Augen grau bis weiß aussehen.“

„OK.“ bedankte sich Marie für die Erklärung des Kriminaltechnikers und schaute ihn fragend an.

„Dieses Haar hier enthält kein einziges Pigment.“

„Was heißt das?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit: Das Haar stammt von einem Albino.“

„Also einem Menschen mit weißer Haut, weißen Haaren und roten Augen. Wie die Kaninchen?“ sprudelte es aus Marie hervor.

„Nein. So ist das beim Menschen nicht. Die Haare sind schon farblos, wie gerade gesehen. Die Haut ist auch sehr hell, muss aber nicht weiter auffällig sein. Die Augen sind zwar meist sehr hell und lichtempfindlich, aber selten rot. Die Körperfärbung des Menschen wird über sehr viele verschiedene Gene geregelt, Haut, Haare, Augen.“

„Das grenzt den Kreis der Beteiligten in diesem mysteriösen Fall ja schon einmal deutlich ein. Wie häufig kommt denn ein Albino beim Menschen vor, Otto? Ich habe noch nie einen gesehen. Und ich hatte schon mit sehr vielen Menschen zu tun.“

„Mmmh,“ brummte Otto Storm vor sich hin und griff den grünen Pschyrembel aus seinem Regal. Nach einigem Blättern antwortet er: „1 zu 20 000.“

„Ist das viel?“

„Das Down-Syndrom kommt 1 zu 650 und Minderwuchs 1 zu 5 000 bis 1 zu 10 000 vor.“

„Also schon ein eher seltenes Exemplar, unser bleiches Opfer. Na, immerhin haben nun etwas.“ bemerkte Marie mit einem saloppen Seufzer.


© Angela Kämper

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