Moshe nahm all seine Kraft zusammen und setzte so schnell er konnte einen Fuß vor den anderen. Er rannte und rannte, gefolgt von David, seinem besten Freund aus dem Nachbardorf. Der war jetzt allerdings sein erbittertster Gegner, denn die beiden Jungen waren in die jeweils konkurrierende Fußballmannschaft gewählt worden. Moshe hatte noch eine Körperlänge Vorsprung vor seinem ebenfalls sehr flinken Freund, war aber schon in Schussweite vor dem gegnerischen Tor angekommen. Zwei Laufschritte noch. Dann zog Moshe voll durch. Sein rechter Fuß traf den blauweißen Lederball bilderbuchmäßig mit dem Spann. Der Ball flog einen leichten Bogen und beendete seinen Flug erst, als ihn das Netz abrupt abstoppte.
„Tor! Tor!“ schrie Moshe mit breitem Strahlen auf seinem hübschen Jungengesicht. Moshe hatte zwar stark abstehende Ohren, aber diese umrahmten seine feinen Gesichtszüge, aus denen vom Herzen aus geöffnete, schwarze Augen herausstrahlten. Noch dazu trug Moshe meist ein Lachen in die Welt. Seine Mutter nannte ihn oft „meinen Leuchtstern“. Als Mutter war sie natürlich mehr als parteiisch. Aber auch viele andere Erwachsene im Dorf hatten den Jungen gerne um sich, da sich sein lebendiges Strahlen in jedem Raum ausbreitete, den er betrat.
Nur sein Vater behandelte ihn anders. Anders als alle anderen Menschen, denen er in seinen elf Jahren bislang begegnet war. Sein Vater war Rabbi Joshua Levy, zwar kein orthodoxer Jude, aber ein tiefgläubiger und sehr ernster Mann. Wenn man als Fremder Moshe und den Rabbi zusammen sah, wäre man niemals auf die Idee gekommen, Vater und Sohn vor sich zu haben. Selbst Joshua Levy blickte oft erstaunt auf den Fröhlichkeit und lebendige Leichtigkeit verbreitenden Jungen neben sich. Doch das waren seltene Momente. Meist war der Rabbi in seinem vollen Tagesplan mit zahlreichen Riten gefangen.
Moshe wurde von seinen vor Freude taumelnden Mannschaftskameraden einer nach dem anderen angesprungen, bis der Jungenpulk umkippte und die johlenden Jungen ihren Helden unter sich begruben. Es waren noch zwei Minuten zu spielen und Moshe hatte gerade die 3:1 Führung geschossen. Damit hatten sie so gut wie sicher den Einzug in das große Jugend-Turnier in Hebron in der Tasche. Zum ersten Mal in der Geschichte des Dorfes Sika.
Die ausstehenden zwei Minuten hielt Moshes Mannschaft den Ball flach. Sie gaben ihn tatsächlich bis zum Abpfiff nicht mehr ab. Der Jubel einer Handvoll Zuschauer und schließlich auch von Moshes Siegermannschaft schwoll bereits an, als der Schiedsrichter noch tief Luft holte, um in seine Pfeife zu pusten.
Moshe strahlte, befreite sich aber mit freundlichem Nachdruck von Händen und Armen, die sich ihm entgegenstreckten. Er musste sich nun sehr beeilen. In zehn Minuten musste er bei seinem Vater sein. Nachdem er sich losgerissen hatte rannte er in dem gleichen Affenzahn, wie noch vor wenigen Minuten zum gegnerischen Tor, in die Umkleidekabine. Er duschte sich nur kurz den Schweiß ab. Zum shampoonieren hatte er keine Zeit mehr. Flüchtig abgetrocknet schlüpfte er noch etwas klamm in seine Kleidung. Dann rannte Moshe mit seiner Sporttasche auf dem Rücken, die er wie einen Rucksack über seine Schulter gezogen hatte, so schnell er konnte zum Gemeindehaus.
„Wir haben gewonnen, Papa. Wir dürfen nun am nächsten Wochenende zum großen Turnier nach Hebron.“ platzte es aus aus dem vor Glück leuchtenden Gesicht des Jungen heraus.
„Das freut mich, Moshe.“ erwiderte sein Vater trocken. „Holst du bitte den Jad*1, die Menora*2 und meinen Sohar*3aus dem Schrank.“
Ohne seinen Sohn weiter anzuschauen reichte er ihm den Schlüssel und vertiefte sich wieder in sein Gebet, das von rhythmischen Vor- und Rückwärtsbewegungen seines Oberkörpers begleitet war. Der Rabbi hatte die heilige Thorarolle, die nur er anfassen durfte, bereits auf den Tisch gelegt.
Das Dorf Sika hatte keine eigene Synagoge. Es war eine der zahlreichen Ortschaften, die ab 1967 im Zuge der israelischen Besiedlungsmaßnahmen nach der Besetzung des Westjordanlands aus dem Boden gestampft worden waren. Der schmucklose Ort bestand aus überwiegend sandfarbenen, nüchtern-zweckmäßig errichteten Gebäuden, umgeben von Oliven- und Orangenplantagen. Sika lag im biblischen Judäa, knapp zwanzig Kilometer südwestlich von Hebron. Es befand sich unmittelbar an der so genannten Grünen Linie, der ehemaligen Waffenstillstandslinie zwischen Israel und dem Westjordanland aus dem Jahr 1949, heute ein Grenzstreifen oder eher eine Sperranlage mit Zaun und Militärpatrouillen.

Aber immerhin wohnte in Sika ein Rabbi. Und Joshua Levy nutzte mit unprätentiösem Selbstverständnis einfach einen Raum im Gemeindezentrum, um sich hier mit Gläubigen zum gemeinsamen Gebet und dem Lesen der Heiligen Schriften zu treffen.
Moshe platzierte den schweren silbernen Thora-Zeigestab mit dem ausgestreckten Zeigefinger zwanzig Zentimeter parallel zu den beiden großen Holzrollen, wie es ihn sein Vater gelehrt hatte. Hier würde sein Vater nachher aus den fünf Bücher der hebräischen Bibel, der Thora, lesen. Die Menora stellte Moshe ebenfalls an ihren Platz und zündete mit den langen Streichhölzern, die er so gerne mochte, die sieben Kerzen an. Den Sohar seines Vaters, das Heilige Buch der Kabbala, in dem weise Rabbiner Auszüge aus der Thora erläuterten, legte der Junge etwas abseits auf dem Tisch ab. Nach dem Lesen der Thora veranstaltete sein Vater einen meist einstündigen kabbalistischen Diskurs über das zuvor Gelesene. Meist wurde dazu auch ein Kapitel aus dem Sohar vorgelesen. Moshe verstand zwar nicht, was die Erwachsenen sprachen, aber er möchte die klare Energie so gerne, die sich dann zwischen den Menschen und auch bei seinem Vater ausbreitete. Außerdem war dies eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen der Junge einmal der Stimme seines sonst so wortkargen Vaters lauschen konnte.
Heute war Moshe aufgedreht, so glücklich, dass er es kaum aushalten konnte. Sie durften zum Turnier. Das hieß, ein Ausflug nach Hebron. In die Stadt. Er wusste gar nicht, wohin mit all seiner Freude, seiner überschüssigen Energie. Moshe war noch gar nicht wirklich in diesem Raum seines Vaters mit all der Getragenheit und rituellen Ernsthaftigkeit angekommen. Übermütig nahm der Junge den silbernen Jad in die Hand und tippte selbstvergessen mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Tisch. Aber das machte ein klopfendes Geräusch. Das würde seinen Vater in seinem Gebet stören. Also suchte der Silberfinger einen dämpfenden Untergrund für sein Auftippen. Moshe schob den Jad ein wenig vor, sodass er auf dem Pergament der bereits ein Stück entrollten Thora-Rolle landete. Spiel mit den heiligen Worten der Thora – ein Sakrileg. Doch Moshe war noch derart in den Nachwehen seines Freudentaumels gefangen, dass er das gar nicht bemerkte. Und Moshes Vater war durch sein tiefes Gebet auch nicht wirklich in dem Gebetsraum anwesend, sondern in anderen Dimensionen unterwegs.

Als der Silberfinger schließlich auf einem א, „aleph“, dem ersten Buchstaben des bebräischen Alphabets, landete, ging plötzlich von der Thorarolle ein gigantischer Lichtstrahl durch den Raum, zog sich aber augenblicklich wieder in das Heilige Pergament zurück. Von da ab sah Moshe irgendwie zugleich in Zeitlupe und rasent schnell den Gebetsraum mit dem in ein Gottesgespräch vertieften Vater und die Thora unter sich verschwinden.
- Thora-Zeigestab oder Torafinger, der vermeiden soll, dass beim Lesen die teils jahrhundertealten, handgeschriebenen Schriftrollen mit den Händen berührt, verschmutzt oder beschädigt werden, da die Thorarolle als heilig gilt ↩︎
- traditioneller jüdischer siebenarmiger Leuchter ↩︎
- das bedeutendste Schriftwerk der Kabbala, wörtl.: „strahlender Glanz“; enthält im Wesentlichen Kommentare zu Texten der Tora in Form von Schriftexegesen, Erzählungen und Dialogen, aber auch zur Weltenentstehung und mystischer Psychologie, einschließlich Diskussionen um das Wesen Gottes, Ursprung und Struktur des Universums und der Natur der Seele. Für bereits spirituell wahrnehmende Menschen dient der Sohar als spiritueller Führer, mit dem sie zum Ursprung ihrer Seelen gelangen können. ↩︎
Fortsetzung: Protagonisten „Sphärenspringer“