Die verbliebenen hohen Stufen des Zikkurats*1 hoben sich vor dem hellblauen Himmel ab.
‚Wie Treppen für Riesen,‘ dachte Jihane, die manchmal für ihr Alter noch recht kindlich war.
Ihre 15 Jahre sah man dem Mädchen kaum an, was nicht nur an dem Hidschab*2 lag, den sie außerhalb des Hauses tragen musste. Ihre Bewegungen waren eher burschikos, nicht so geschmeidig wie die ihrer Mitschülerinnen. Ihre gleichaltrigen Freundinnen schminkten sich auch sehr stark. Ihre schwarzen Augen vergrößerten sie durch geschickt gezogene Kajal-Linien und Wimperntusche. Und das Lippenstiftrot betonte trotz der Verschleierung ihre Weiblichkeit so, dass ihnen auf der Straße die Männer nachschauten.
Jihane mochte das alles nicht. Weder das stundenlange Schminken noch das Angestarrtwerden. Sie war ein eher sportlicher Typ. Obwohl sie ein Mädchen war.
Das Mädchen aus Isfahan spielte leidenschaftlich gerne Tennis. Und das war nicht immer leicht. Doch Allah sei dank, hatte Jihane eine sehr offen eingestellte Mutter. Anaram Shirvani war eine sehr gebildete Iranerin. Sie hatte noch andere Zeiten im Iran erlebt. Anaram war unter dem Schah in einer wohlhabenen Oberschichtsfamilie aufgewachsen. Klavier- und Ballettunterricht, Theater, Konzerte und Kino, Reisen ins Ausland – für Jihanes Mutter war das alles selbstverständlich gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte Anaram einiges von der Welt gesehen.
Mit der Rückkehr Chomeinis hatte sich alles verändert. Die iranische Revolution hatte den Frauen viele Freiheiten und Jihanes selbstbewusster und unbeugsamer Großmutter das Leben gekostet. Die einst wohlhabene Familie hatte alles verloren: Villen, Geschäfte und Mietshäuser in Teheran und Isfahan ebenso wie ihre Fabriken und Import-Export-Firmen, die unter anderem Geschäftskontakte mit dem jetzigen Erzfeind USA unterhielten. Gewalt und Erniedrigungen, die die Familie Shirvani hatte erleiden müssen, hatten Jihanes Großvater als gebrochenen und leisen Mann zurückgelassen. Er hatte sich aus dem realen Leben zurückgezogen. Nur durch das Ausblenden konnte er den Schmerz über den gewaltsamen Tod seiner so geliebten Frau ertragen. Ein gläubiger Moslem war er immer schon gewesen, auch zu Zeiten des Schahs.
Umso härter traf ihn das Unglück, das ausgerechnet die Mullahs über sein Land gebracht hatten. Die Ereignisse hatten den gläubigen Mann immer mehr in die geistig-spirituelle Welt gedrängt. Er sah die für ihn wahren Zeichen Gottes, war in Kontakt mit Engeln und anderen Wesen, den Gesandten Allahs. Stundenlang saß er da und starrte vor sich hin. Er sprach kein Wort. Nichts Weltliches interessierte ihn mehr.
Nur die Gegenwart seiner über alles geliebten Enkelin konnte sein Gesicht erhellen. Jihane lud er in seine geistigen Welten ein und das aufgeweckte Mädchen folgte ihm begeistert. Sie liebte die feinfühligen Erzählungen ihres Großvaters, in die sie gemeinsam mit ihm eintauchen konnte.
Jihane war acht Jahre alt, als sie gemeinsam den Anahita-Tempel von Bishapur besuchten. Das kleine Mädchen stand mit seinem Großvater im zentralen Becken der einst riesigen Wasseranlage.
Großvater erklärte ihr alles. Dass die Menschen mit Kanälen das Wasser aus dem nahen Fluss hier hinein leiteten. Die vorislamische Göttin Anahita reinigte und energetisierte hier das Flusswasser mit Hilfe des Sonnenlichts. Im Zentrum des Tempels befand sich ein grosses Wasserbecken. Es war so ausgerichtet, dass es die meisten Sonnenstrahlen des Tages auffing. Das Sonnenlicht übertrug seine hohe Schwingung auf das im Becken enthaltende Wasser. Anschließend wurde es über ein ausgefeiltes Kanalsystem an die Menschen in der Umgebung weitergeleitet. Das Wasser sorgte für gute Gesundheit der Menschen und ertragreiche Ernten. Jihane konnte das alles bildlich vor ihrem inneren Auge sehen. Sie stand mittendrin.
Nun ging Jihane neben ihrem Großvater auf die pyramidenartigen Stufen des Zikkurats zu. Der Schotter knirschte unter ihren Schuhen. Plötzlich lief Jihane wie gegen eine Wand. Eine sehr weiche Wand, wie aus Watte. Auch ihr Großvater zuckte an der gleichen Stelle leicht zusammen. Jihane ging ein paar Schritte zurück, dreht sich um und prallte an genau der gleichen Stelle wieder gegen die Wattewand. Zu sehen war nichts.
„Jetzt gehen wir in das Energiefeld des Zikkurats,“ flüsterte ihr der Großvater zu. „Hier genau fängt es an.“ Und der alte Mann tupfte mit seinen Händen ehrfürchtig auf die Stelle, die seine Enkelin als die Wattewand wahrgenommen hatte.
Jihane war aufgeregt. Sie gingen auf einen höchst energiereichen Ort der Erde zu. Ihr Großvater hatte ihr bereits auf der Fahrt erzählt, dass diese Stufenpyramide von Chogha Zanbil zusammen mit anderen Pyramiden auf der Erde ein starkes energetisches Netzwerk bildet. Sie sei verbunden mit der großen Cheops-Pyramide in Ägypten, mit den Pyramiden der Mayas in Lateinamerika und sogar Pyramiden in China.
„Sieh nur!“ sagte der Großvater und zeigte in den Himmel.
Jihane blickte nach oben und sah sofort, was ihr Großvater meinte: Exakt über dem Zikkurat war die Wolkendecke aufgerissen. Aber nicht irgendwie, wie von hohen Winden zerzaust. Nein. Jihane blickte in ein himmelblaues Loch, sehr hell blau, fast weiß. Und der Kreis war genau so groß wie die Grundfläche des Zikkurats. Und in dem hellblauen Himmelskreis spürte Jihane irgendwie eine Bewegung. Als käme durch das Wolkenloch irgendetwas rein.
Ihr Großvater nickte ihr zu. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte. Jihane sah sie nicht wirklich, aber sie spürte ganz deutlich, dass hier Engel und andere Wesen ein und aus gingen. Jihane drückte sich fest an den ruhigen alten Mann neben sich. „Danke, Großvater!“
Kurze Zeit später nahm das aufgeregte Mädchen die Hand ihres Großvaters und versuchte, den alten Mann schneller auf das Zikkurat zu zu ziehen.
Ihr Großvater winkte freundlich ab: „Nicht so schnell. Ich kann nicht schneller, Liebes. Sonst lauf doch schon vor bis zur Mauer. Nur nicht in die Gänge reingehen. Das ist gefährlich….“
Das sportliche Mädchen war bereits lachend losgelaufen, so schnell, dass sie sich ihren Hidschab festhalten musste. Wie sie dieses Ding verabscheute. Das war nur im Weg.
Und natürlich lief Jihane in den ersten Gang hinein, der sich vor ihr auftat.
‚Oh Gott, was ist denn jetzt passiert?‘
Rosa steht kaum eine Armlänge vor Ming Chen. Dicht neben der großen Frau sieht Ming Chen einen weiß leuchtenden, in leichtem violett schimmernden jungen Mann.
Rosa bleibt vor Verblüffung unbeweglich stehen. Der Qigong-Meister muss sich sehr stark konzentrieren, um die neu aufgetauchte Frau weiterhin zu sehen. Dann dreht sich Rosa ein wenig um ihre Achse und schreit auf: ‚Oh Gott! Kevin! Bist du das?‘
Die beiden stehen keine Hand breit voreinander. Rosa weicht einen Schritt rückwärts aus.
‚Ja,‘ antwortet die weiße Gestalt. ‚Ich bin Kevin. Ich bin euch so unendlich dankbar. Ich hing die ganze Zeit da unten irgendwo fest. Mutter hat mich einfach nicht losgelassen. Ich konnte nichts machen. Du hast mich endlich in diese Welt mitgenommen. Meinen tiefen herzlichen Dank…‘
Rosa spürt einen Schwall zartviolettes Licht von Kevin zu ihr kommen, dann ist im nächsten Augenblick sein weiß-violettes Leuchten verschwunden.
‚Keine Angst, du bist nicht allein hier.‘ sagt Moshe und fuchtelt wild mit seinen Armen durch die galertige Umgebung und springt wie aufgezogen umher, um sich für Rosa sichtbar zu machen.
Rosa tritt erneut einen Schritt zurück, diesmal, um auf Abstand vor den blauen tanzenden Schlieren vor sich zu gehen.
‚Bitte nicht erschrecken. Ich stehe hinter Ihnen. Wenn Sie sich auf uns konzentrieren oder wir uns etwas schneller bewegen, dann können Sie uns sehen. Sprechen tun wir hier offenbar alle in der gleichen Sprache. Ich bin übrigens Ming Chen. Und auch noch nicht so lange hier.‘
Mit wedelnden Händen macht der Chinese Rosa auf seinen Standort aufmerksam.
‚Ich bin Moshe.‘ ergänzt der immer noch wild zappelnde Junge.
‚Ach du großer Gott,‘ staunt Rosa, immer noch erschrocken. ‚Bin ich tot? Seid ihr auch tot? Wenn das weiße Wesen da eben tatsächlich Kevin war – der ist schon seit über 7 Jahren tot. Was ist passiert?‘ Rosa ist völlig durcheinander.
‚Ich weiß auch nicht, wo wir hier sind. Der Junge und ich sind auch gerade erst hierhin gekommen. Das einzige, was ich bisher weiß, ist, dass, wenn wir uns auf etwas konzentrieren, dann können wir es blau fluoreszieren sehen. Und man wird auch sichtbar, wenn man sich schnell bewegt. Und ich spüre auch, dass wir hier nicht die einzigen sind.‘ antwortet Ming Chen ruhig.
‚Wir sind offenbar in Yetzirah. Das ist die erste feinstoffliche Welt über Assiah. Und der leuchtende Mann konnte sich offenbar endlich aus dem Zwischenreich befreien, wo die Seelen der Verstorbenen manchmal gefangen sind.‘
Moshe spricht so ernst wie sein Vater.
‚Woher weißt du das, Moshe?‘ fragt Ming Chen den Jungen verblüfft.
‚Keine Ahnung. Ich weiß so was gar nicht. So was weiß mein Vater. Der ist Rabbi in unserem Dorf.‘
Der Gedankenaustausch wird jäh durch das Auftauchen einer weiteren Person unterbrochen. Jihane fällt mitten zwischen die drei.
Sie werden immer geübter im Umgang mit dieser Welt. Moshe und Ming Chen fuchteln mit ihren Armen und Händen durch die Galerte und stampfen mit ihren Füßen auf, um sich für den Neuankömmling sichtbar zu machen. Rosa fällt schnell in das eigentümliche, aber offensichtlich sinnvolle Gebaren mit ein. Ming Chen erklärt dem iranischen Mädchen ruhig und freundlich die Situation, so weit sie sie verstanden haben, und alle vier stellen sich einander vor.
Nature (The world’s leading multidisciplinary science journal)
Ist die Magnetuhr verstellt?
Hunderte ertrunkene Störche sind an den Küsten der Äußeren Hebriden (Schottland) angeschwemmt worden. Die großen Zugvögel müssen von ihrer Jahrhunderte alten Route über die Meerenge von Gibraltar abgekommen und weit auf den Atlantischen Ozean hinaus geflogen sein. Ohne Rastmöglichkeiten und unter den harten Wetterbedingungen über dem freien Ozean haben die Störche die Kräfte verlassen. Seeleute berichteten Tage zuvor, dass sie beobachteten, wie Scharen großer Vögel plötzlich wie Steine vom Himmel in die Wogen des Atlantiks fielen. Nun wurden ihre toten Körper an den nördlichsten Küsten Großbritanniens angespült. Ornithologen, Meteorologen und Klimaforscher stehen vor einem Rätsel…
Daily Mirror (britische Boulevard-Tageszeitung aus London)
Fallen uns bald Satelliten auf den Kopf?
Neueste Meldungen aus Sidney und Brisbane, Australien: drei Satelliten im Outback vom Himmel gefallen. Letzte Woche berichteten wir bereits von abgestürzten Satelliten in Sibirien und der Sahara…
- ein mesopotamischer pyramidenartiger Stufentempel ↩︎
- islamische Verschleierung der Frau durch ein kapuzenartiges Kopftuch ↩︎
Fortsetzung: Protagonisten „Sphärenspringer“