Zauberjäger – Teil 8 (Ende)
31
Diesmal öffnete Frau Soselo höchstpersönlich die Tür.
„Guten Tag, Frau Soselo. Vielen Dank, dass Sie noch einmal Zeit für mich haben,“ begrüßte Marie die dunkelhäutige Frau, die nur unwesentlich jünger war als sie selbst.
„Treten Sie ein, Frau Johannsson. Guten Tag. Ich weiß, Sie machen ja auch nur ihre Arbeit. Lassen Sie uns ins Esszimmer durchgehen. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
Auch jetzt von Angesicht zu Angesicht schien Frau Soselo wie ausgewechselt im Vergleich zu den vorherigen Begegnungen. Sie war ausnehmend freundlich. Und Marie hatte nicht im geringsten das Gefühl, dass dies gestellt oder von ihr aus irgendwie taktierend war. Im Gegenteil, Marie kam die Frau nun zum erste Mal authentisch vor. Ja, das war das richtige Wort, authentisch. Die bislang gezeigte abweisende Haltung und Härte erschien Marie nun im Rückblick wie aufgesetzt vor. Irgendetwas war nun vollkommen anders. Vielleicht hatte dies sogar mit dem Fall zu tun. Sie würde das herausfinden. Marie nahm es sich fest vor, all ihr Geschick einzusetzen, um sich nicht mehr abwimmeln zu lassen, sondern endlich Klarheit in die ganze Angelegenheit zu bringen. Marie fand, dass die Zeichen dafür gut standen.
„Gerne,“ nahm Marie Frau Soselos Angebot auf. „Einen Tee fände ich wunderbar.“
„Schwarz, grün oder Roibosch?“
„Am liebsten schwarz, danke.“
„Ist ein Darjeeling recht?“
„Sehr.“
Frau Soselo füllte geschickt die getrockneten Teeblätter in zwei Papierfilter und goss das bereits heiße Wasser darüber. Nach dem Austauschen der Höflichkeiten setzten sich die beiden Frauen mit je einer dampfenden Teetasse an dem großen langgestreckten Esstisch gegenüber hin.
„Haben Sie Samuel Kojo jemals persönlich kennengelernt, Frau Soselo?“ Marie versuchte die Tür-ins-Haus-fall-Technik.
„Ja, leider ja.“ Frau Soselo antwortete einsilbig, aber weiterhin freundlich.
„Können Sei ihn mir näher beschreiben? Was für ein Mensch ist er?“ Marie wählte bewusst die Gegenwartform.
„Nun ja, die meisten Menschen, einschließlich meinem Mann, sind ja durchweg begeistert von ihm. Er gibt sich hilfreich, als Menschenfreund und Gönner.“
„Aber das entspricht nicht ihrer Wahrnehmung, sehe ich das richtig?“ Marie versuchte vorsichtig in die weibliche Solidarität des Bauchgefühls hineinzugehen.
„Nein, ganz und gar nicht. Ich fand den Mann immer ausgesprochen unangenehm. Er war ein paar mal hier bei uns. Sie werden sicher schon wissen, dass mein Mann Herrn Kojo seine Karriere, oder zumindest den Einstieg da hinein zu verdanken hat. Oder zumindest glaubt mein Mann dies. Sokwe lässt gar nichts, aber auch gar nichts auf Samuel Kojo kommen.“
„Und was ist Ihre Einschätzung, Frau Soselo, wenn ich fragen darf?“ Marie merkte, dass sie ihrem Gegenüber gegenüber sehr viel weicher bleiben konnte, als sie es sich vorgenommen hatte.
„Meine Einschätzung?“ Frau Soselo nestelte an dem Blumengesteck zwischen ihnen und entfernte ein angewelktes Blatt.
„Der Mann ist dunkel. Und das nicht nur auf seine Hautfarbe bezogen. In ihm liegt etwas Böses. Und das ruht nicht tief vergraben in ihm, sondern das wird immer mal wieder wach und kriecht wie ein gefäßiges Raubtier aus seiner Höhle hervor. Und das geschieht gar nicht so selten.“
„Was meinen sie damit, Frau Soselo?“
„Der Mann ist kalt und hart wie Stein. Er ist bekannt als großartiger Gönner und Wohltäter. Doch alles, was er gibt, gibt er aus Kalkül. Was er eigentlich macht, ist, dass er alle benutzt. Sogar meinen Mann. Sokwe ist für solch durchtriebene Menschen viel zu gutmütig, fast naiv. Er kann sich gar nicht vorstellen, wie schlecht Menschen sein können – und zwar weil sie es wollen. Sie haben sich so entschieden. Kojo hat sich entschieden. Er hat sich für Macht und Geld und Ansehen entschieden, und zwar ganz bewusst und eindeutig. Und dafür geht er über Leichen.“
„Sie meinen, er hat schon Menschen getötet?“
„Nein, nicht so direkt. Dafür ist er viel zu klug. Das lässt er andere tun. Kojo zieht die Fäden im Hintergrund.“
Marie sah jetzt den Moment als günstig an, sich mit einem zweiten Detail vorzuwagen: „Hat Kojo schon als junger Fischer mit Albino-Haar und anderem Albinozauber gearbeitet?“
Kurz huschte ein Überraschungsausdruck über Johana Soselos Gesicht. Aber sie blieb offen und nahm tatsächlich Maries Vorlage auf.
„Ja, das hat er. Er hat Albino-Haar in seine Netze eingesponnen und er trägt immer ein Utensil bei sich.“
Marie sah vor ihrem inneren Auge, um was es sich handelte. In einer kleinen Holzschachtel. Sie musste es nicht mehr laut benennen oder gar Frau Soselo danach fragen, um es sich bestätigen zu lassen.
„Und er hatte Erfolg – keine Ahnung, worauf das zurückzuführen war. Seine Netze waren stets randvoll und noch als sehr junger Mann, er kann kaum zwanzig Jahre alt gewesen sein, wurde er der reichste Mann im Ort. Und sein Erfolg setzte sich gnadenlos fort. Alles was er anfasste, wurde zu Gold. Zunächst übernahm er den Fischhandel im Ort und dann den überregionalen Großhandel. Mit gerade mal 23 Jahren war er der Fischkönig vom tansanischen Teil des Viktoriasees.
Doch dann begann sein Machthunger erst richtig. Kojo war in den 1960er Jahren maßgeblich an der Aussiedelung des Nilbarsches im Viktoriasee beteiligt. Das ganze Projekt wurde unter anderem auch von der EU gefördert. Wir Industrienationen mischen uns ja gerne in die Belange der so genannten armen Länder ein. Alle wollten einen kommerziell gut verwertbaren Speisefisch haben. Vor allem wollten aber alle Entscheidungsträger daran verdienen. Und beides bekamen sie ja bekanntermaßen auch. Dass der Preis dafür der Zusammenbruch der kleinen heimischen Fischer war, das interessierte niemanden. Mit dem Verdrängen der unzähligen heimischen Buntbascharten im See durch den Eindringling brach nämlich die gesamte lokale Trockenfischindustrie zusammen. Ein Fiasko für die heimischen kleinen Fischer und die weiterverarbeitenden Betriebe vor Ort. Doch weder die EU und natürlich auch Samuel Kojo kümmerte das. Kojo wurde immer reicher und mächtiger. Er hat reichlich Schmiergelder eingesteckt und verschoben, um das ganze Projekt durchzusetzen. Seine Fäden spann er bis nahe an den ersten tansanischen Staatspräsidenten Nyerere. Kojo besaß natürlich die großen Fischkutter für den Fang des Viktoriabarschs und hat ebenso für die Weiterverarbeitung des Fisches in seinen Fabriken gesorgt. Und wie ich heute weiß, hat er sich immer seinen Glücksbringernachschub besorgt. Je reicher er wurde, desto mehr. Mir wird jetzt noch übel, wenn ich daran denke. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso ausgerechnet ein solcher Menschenjongleur und Menschenverächter so hoch hat kommen können.“
Marie merkte, dass Frau Soselo sehr um ihre Fassung ringen musste.
„Ein Packt mit dem Teufel setzt große Kräfte frei.“ Marie hörte sich diesen Satz sagen und stand dabei mal wieder verwundert neben sich selbst.
Frau Soselo blickte Marie ernst in die Augen: „Ja, das stimmt wohl. Dieser Mann hat einen Pakt mit dem Bösen geschlossen. Er selbst kommt mir auch immer so leer vor. Als Preis für all die Macht und den Erfolg hat er faustisch seine Seele verkauft.“
Die beiden sich gegenübersitzenden Frauen schwiegen eine ganze Weile zusammen und sahen sich immer wieder einmal für Augenblicke mit ernsten und etwas fassungslosen Augen an.
Frau Soselo durchbrach das Schweigen: „Und schon früh hat Kojo gelernt, dass es klug ist, immer einen kleinen Anteil von dem eignen Gewinn abzugeben. Ganz sicher nicht aus Nächstenliebe, sondern aus purer Berechnung. Daher seine ganzen Wohltätigkeiten, Spenden, Stipendien und Hilfsorganisationen. Denn das mindert den Neid auf ihn. Er wollte nicht mit einem Messer zwischen den Rippen enden.“
Das hat ihm letztlich auch nichts genutzt, dachte Marie, wollte aber ihre Karten noch nicht offenlegen. Wenn sie alles erfahren hatte, was sie brauchte, dann konnte sie das immer noch nachholen.
So schloss Marie eine professionelle Frage an: „Sie sagten, dass Sie Samuel Kojo persönlich kennen. Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?“
Diese nüchternde Frage brachte Johana Soselo aus ihrer Gedankenversunkenheit heraus.
„Das ist gar nicht lange her. Das muss am vorletzten Wochenende gewesen sein, nein es war der Freitag davor. Mein Mann war nämlich nicht zuhause.“
Marie rekapitulierte blitzschnell: Das war das Wochenende beziehungsweise der Freitag vor dem Tod des Kleinen. Der kleine Albino war am darauffolgenden Montag gegen Mittag – frühen Nachmittag zu Tode gekommen.
Möglicherweise hatte Kojo doch unmittelbar etwas mit dem Tod des Jungen zu tun. Bloß – weshalb hätte er das tun sollen. Er war ja lebend für ihn viel kostbarer, als Lieferant, als Garant für seine Macht. Jedenfalls aus Kojos Sicht. Marie konnte nicht umhin, bei diesen Gedanken wieder zu schaudern.
„Darf ich fragen, was der Anlass seines Besuches war?“
„Kojo war noch unangenehmer als sonst.“
Aha, dachte Marie, er hat die Soselos sogar häufiger besucht.
„Er hat sich diesmal sogar bei mir versucht einzuschmeicheln und mich so offensichtlich umgarnt. Sonst hat er mich bei seinen Besuchen ja kaum eines Blickes gewürdigt. Ich war ihm zwischen all seinen Gefolgsleuten sicherlich immer zu renitent gewesen. Aushorchen wollte er mich. Er fragte immer wieder nach Ismael Murundi, einen guten alten Freund meines Mannes, und nach dessen jüngerem Bruder. Ziehmlich penetrant war er. Aber der sonst derart selbstsicher auftretende Mann war auffallend nervös. Diese Eigenschaft war mir an diesem Baum von einem Kerl niemals zuvor aufgefallen. Er machte auf mich den Eindruck, als sei er kurz davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein wenig, wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Obwohl so ein Koloss von einem Mann – na-ja. Fertig war er. Aber von mir hat er natürlich nichts erfahren. Im Gegenteil – ich habe ihn ziehmlich schnell wieder vor die Tür gesetzt.“
Marie fasste still in ihrem Kopf das Gehörte zusammen. Johana Soselo kannte natürlich doch einen Murundi, sogar zwei: die beiden Brüder nämlich. Sie verwarf den Gedanken, Frau Soselo darauf aufmerksam zu machen, dass sie vor ein paar Tagen abgestritten hatte, einen Mann namens Murundi zu kennen. Die Frau schien heute alles erzählen zu wollen. Fast hatte Marie das Gefühl, dass sich Frau Soselo eine Last von der Seele reden wollte.
Marie hakte nach: „Wissen Sie, was Kojo von den Murundis wollte?“
Johana Soselo sprang auf. Ihre Reaktion war so heftig, dass sie dabei sogar den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, umwarf.
„Entschuldigen Sie bitte, ich bin gleich wieder da.“
Und ohne eine Reaktion Maries abzuwarten war Frau Soselo in Windeseile die Freitreppe in den ersten Stock hinaufgespurtet. Marie hörte eine Tür zuschlagen.
Marie ging mental durch die Fassungslosigkeit, die die gehörten Informationen in ihr auslösten, hindurch. Dieser Kojo scheute sich also tatsächlich nicht, seinem Glücksbringeropfer hinterherzujagen – bis nach Deutschland. Der Mann muss ja wirklich vollkommen besessen gewesen sein.
Marie stand auf und hob den umgefallenen Stuhl wieder auf.
Die Frau hatte einiges mitgemacht. Ihr eigener Sohn selbst ein Albino, wurde sie permanent mit diesem grausigen Ritual der Verstümmelung eines Menschen, eines neugeborenen Babys, aufgrund von abergläubischen Vorstellungen konfrontiert. Diese Frau besaß eine ungeheure innere Stärke, sonst hätte sie all das gar nicht aushalten können. Und das ganz ohne ihren Mann, den sie noch geschont hatte. Sie musste doch eine unglaubliche Angst um ihren Sohn gehabt haben, als sich dieser Kojo in ihrem Haus aufhielt. Ob sie den Jungen vor ihm versteckt, geheimgehalten hatte? Möglicherweise hatte sie fluchtartig mit ihren Kindern das Haus verlassen. Gleichzeitig musste sie aber auch ein Auge auf ihren Mann haben. Und sie durfte, oder zumindest hatte sie es sich selbst auferlegt, ihren Mann nicht über den Gast aufklären. Diese Situation musste die Frau doch fast zerrissen haben.
Marie hatte keine Ahnung, wie Frau Soselo diese Situation gemeistert hatte. Johana Soselo hatte jedenfalls Maries ganze Hochachtung gewonnen. Sie zog innerlich den Hut vor ihr. Sie hatte es ja auch geschafft, sie, die Polizei, auf Abstand zu halten. Es waren eigentlich einige Worte ihres Mannes, die Marie auf die Spur gebracht hatten.
Es war ungewöhnlich still in dem großen Holzhaus, stellte Marie mit einem Mal fest. Außer ihnen beiden schien niemand sonst anwesend zu sein. Wahrscheinlich hatte Frau Soselo ihre Kinder mit dem Kindermädchen weggeschickt, damit sie ungestört und sicherlich auch emotional unbeeinträchtigt waren.
Marie ging in die hochmoderne Edelstahlküche und setzte Teewasser auf. Sie füllte die Papierfilter mit den schwärzlichen Darjeeling-Blattröllchen und goss erneut Tee auf. Gerade als sie mit den beiden Teebechern zurück ins Esszimmer kam, tauchte auch Johana Soselo auf leisen Sohlen im Türrahmen auf. Ihre Augen waren gerötet. Sie schien geweint zu haben.
„Entschuldigen Sie, Frau Johannsson. Aber das Ganze ist derart unfassbar. Doch ich will jetzt reinen Tisch machen. Das Verschweigen hilft niemandem. Und ich werde sonst daran ersticken!“
Die beiden Frauen nahmen wieder einander gegenüber Platz.
„Wo waren wir stehengeblieben?“
„Was Kojo von den Murundis wollte…“ antwortete Marie mit weicher Stimme.
„Kojo war auf der unerbittlichen Suche nach Murundis Sohn. Ein Albino, wie mein kleiner Jumo. Jumo ist jetzt 121 glückliche Tage alt. Der Kleine von Imbakwe wäre jetzt 118 Tage alt, er war drei Tage jünger als Jumo. Kojos Leute hatten den kleinen Jowelo Samuel…“
Jetzt hatte der Kleine zwischen den grünen Bananen endlich einen Namen.
„…kurz nach seiner Geburt ausgemacht. Kojo brauchte wohl eine neue Glücksquelle. Jowelo war kaum drei Monate alt, da wurde er entführt und tauchte zwei Tage später wieder vor der Haustür seiner Eltern auf – fein säuberlich abgelegt und die Wunden an den Händen medizinisch einwandfrei versorgt.“
Johana Soselo musste schlucken. Ihr liefen einige Tränen übers Gesicht. Auch Marie konnte kaum Luft holen bei der Vorstellung, was dort abgelaufen war.
„Die beiden kleinen Babyfinger reichten Kojo wohl erst einmal.“
Kurzes Schweigen.
„Aber nur für nur eine gute Woche.“ In Johana Soselos Worten und Augen flammte für einen Augenblick ein unbändiger Hass auf. „Der wird immer gieriger, unglaublich!“
„Unfassbar – das!“ Der Ausruf ließ den Hass wieder aus Frau Soselos Gesicht weichen. Statt dessen machte sich Betroffenheit breit.
„Jowelos Vater wusste natürlich sofort was das zu bedeuten hatte, als er seinen Sohn nach den zwei Tagen mit der Verstümmelung vor seiner Haustür wiederfand. Über seinen Bruder Ismael suchte er sofort Kontakt zu uns, um mit seinen Kindern aus dem Land zu fliehen, wo eine solche Barberei möglich war und kaum geahndet wurde. Ismael, der um die enge emotionale Bindung meines Mannes zu Kojo wusste, sprach mit mir über den Vorfall. Sokwe, meinem Mann, erzählten wir, dass Imbakwe aus politischen Gründen aus dem Land fliehen müsse. Verfolgter Oppositioneller und so. Wir besorgten ihm natürlich gleich die Schiffspassage für sich, seinen kleinen Sohn Jowelo und seine Tochter Laima – aber das wissen Sie sicherlich längst.“
„Schon, dass Imbakwe Murundi jemand diese für tansanische Verhältnisse vergleichsweise teure Überfahrt bezahlt hat. Aber nicht, dass das Geld von Ihnen kam.“
„Wir glaubten alle, dass der Kleine hier in der wohlgeordneten Hansestadt sicher sein würde. Hier in Othmarschen, später in Blankenese! Wir hatten ihn die ersten Tage bei uns aufgenommen, dann aber aus weiteren Sicherheitsgründen bei sehr guten Freunden in Blankenese untergebracht.“
Johana Soselo brach in Tränen aus.
„Sie können sich das nicht vorstellen. Alle atmeten auf,“ brachte Johana Soselo unter heftigem Schluchzen hervor.
„Sokwe hatte Imbakwe ein Zweimonatsvisum besorgt. Und er bemühte sich, für den jüngeren Brüder seines besten Freundes eine Arbeit zu finden. Alles sah ganz erfolgversprechend aus. Da verschwand Jowelo erneut. Mitten in der Nacht einfach aus seinem Bettchen – weg! Mitten in Deutschland, in Blankenese.“
Frau Soselo schneuzte ihre Tränen weg. Es gelang ihr kaum, um Fassung zu ringen. Marie blieb sprachlos.
Nach einigen atemlosen Minuten fuhr Frau Soselo fort: „Und wieder lag der Kleine mit frisch verbundenen Händen zwei Tage später vor der Tür. Das muss vor gut drei Wochen gewesen sein. Und dann wagt es dieser Kerl doch tatsächlich, bei mir hier aufzulaufen. Er glaubt tatsächlich, weil er das Geld hat und es machen kann, darf er alles tun.“
Johana Soselos gerötete Augen blitzten wieder hasserfüllt auf.
Immerhin wird Kojo nun nichts mehr tun, ging Marie durch den Kopf.
„Entschuldigen Sie die Frage, Frau Soselo. Aber wieso all dieser Aufwand. Hätte Kojo nicht in Tansania viel leichter weitere Opfer finden können?“
„Im Grunde schon. Doch Samuel Kojo ist inzwischen wohl derart besessen von seinem Zauberglauben, dass er das Gelingen eines großen Projektes an nur eine einzige Quelle bindet. Das heißt, die Glücksbringer müssen unbedingt von ein und demselben Albino stammen. Deshalb war er auch an meinem Jumo nicht im geringsten interessiert. Gott sei dank.“ Frau Soselos Blick erhob sich mit absinkenden Augenlidern kurz himmelwärts.
„Ich verstehe. – Der Mann war ja durch und durch krank.“
„Nein-nein, nicht krank. So etwas geschieht nicht mit einem, so einfach so. Das ist kein Virus, der einen anfällt. So etwas macht man selbst. Da steckt eine eindeutige Entscheidung hinter. Kojo hat sich so entschieden. Allein für seine persönliche Macht, für seine unersättliche Gier. Er ist durch und durch böse. Er hat das Böse in sich hineingelassen und wird nun von dem Dunklen bestimmt. Wie Sie schon sagten, Frau Johannsson, einen Pakt mit dem Teufel hat er geschlossen. Und die Entscheidung hat er selbst getroffen, niemand sonst.“ Frau Soselos frühere Vehemenz flammte auf.
„Was geschah weiter, Frau Soselo – nur wenn Sie noch können?“
„Ich kann, ich will. Das alles muss endlich öffentlich werden. Es war ein Fehler, alles unter der Decke zu halten, alles zu verheimlichen. Auch vor meinem Mann, den ich meinte schützen zu müssen,“ antwortete Frau Soselo.
„Sie bekommen jetzt von mir die ganze Geschichte, das heißt, alles was ich weiß. Das ist allerdings nicht mehr viel. Denn an dem Sonntag, zwei Tage nachdem Kojo bei mir gewesen war, verschwand Jowelo spurlos aus seinem Versteck. Sein Vater, seine Schwester und er waren irgendwo auf dem platten Land in Dithmarschen, oder wie das heißt, noch weiter im Norden untergeschlüpft. Mein Mann hatte das organisiert. Ich selbst wusste nicht, wo die Murundis waren. Zwei Tage später haben Sie dann seinen kleinen geschundenen Körper in Flensburg…“
„…Rendsburg…“
„…gefunden. Das ist meine Geschichte. Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich die Polizei nicht früher eingeschaltet habe. Vielleicht hätte ich damit das Leben des Jungen retten können. Ich habe mich bislang nicht einmal getraut, meinem Mann die ganze Wahrheit zu sagen. Ich wollte alle beschützen und habe sie doch nur ausgeliefert.“
Johana Soselo starrte mit leeren Augen vor sich hin.
Dann fixierte sie plötzlich Marie mit einem Nachdruck und einer Unnachgiebigkeit, die der Kriminalkommissarin wohl bekannt war: „Finden Sie den Kindsmörder. Sie müssen den Samuel Kojo jetzt endlich festnehmen. Wo immer der jetzt ist. Setzen Sie Ihre internationalen Hebel in Bewegung. Aber der Kerl muss endlich für seine Menschenverachtung bezahlen. Wenn auch wahre Gerechtigkeit auf anderer Ebene gesprochen wird.“
Nun war für Marie der richtige Moment gekommen: „Er hat bezahlt, Frau Soselo. Er hat schon bezahlt.“
Frau Soselo blickte Marie fragend an.
„Kojo ist tot. Er hatte ein Messer im Bauch, als man ihn am Mittwoch letzter Woche tot in Tansania aufgefunden hat, in seinem Büro in Daressalam.“
„Danke!“ Johana Soselo schickte einen weiteren Stoßblick gen Himmel.
„Hat er wenigstens leiden müssen?“ entlud sich Frau Soselos Hass in dieser scharfen Frage, die sie in entsprechendem Tonfall herausbrachte.
„Er ist verblutet.“ Marie bemühte sich, so neutral wie möglich zu antworten.
Die beiden Frauen sahen sich schweigend an. Sie überlegten – jede mit ihrem Erfahrungshintergrund und Vorstellungsvermögen – ob dies wohl ein schmerzhafter Tod war. Doch jede blieb in ihren eigenen Bildern. Es fiel kein einziges Wort mehr darüber.
„Hat Kojo dann, kann er überhaupt…“
„Rein theoretisch schon. Aber er hätte keinerlei Interesse an dem toten Jungen gehabt. Ich glaube nicht, dass er direkt etwas mit dem Tod von Jowelo zu tun hatte. Ich gehe auch nicht davon aus, dass er etwa von Daressalam aus den Auftrag dazu gegeben hat, wie zuvor die Sache mit der Entführung des Jungen aus Blankenese. Da steckt er ganz sicher dahinter, auch wenn er zu dem Zeitpunkt nicht selbst in Hamburg war. Für Geld bekommt man heute für alles nur Denkbare irgendwelche schmutzigen und skrupellosen Handlanger.“
„Aber wer sollte sonst…?“
Die beiden Frauen schauten einander kurz an und dann ratlos, aber dennoch in einem inneren Gedankenrad versunken, aneinander vorbei.
„Ismael war am Wochenende da.“ Frau Soselo schlug entsetzt ihre Hände vor dem Gesicht zusammen, wobei ihr sogar ein kleiner Aufschrei entglitt.
Maries professionelle Nachfrage: „Ismael Murundi?“ half Johana Soselo, sich sofort wieder zu fassen.
Sie besann sich kurz, wollte aber nun nicht mehr zurückrudern: „Ja, Ismael Murundi, der Freund meines Mannes und Onkel von Jowelo.“
Frau Soselo dachte kurz nach und fuhr dann fort: „Das Wochenende war er bei uns. Er und Sokwe haben viel miteinander gesprochen. Sie haben mich nicht an ihren Gesprächen und Unternehmungen beteiligt. Das schien eine Männerangelegenheit zu sein. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht und da auch nicht weiter nachgehakt. Es sind je schließlich alte Freunde. Sokwe wird doch nicht…?“ Den letzten Satz sprach Johana Soselo geflüstert leise eher zu sich selbst. Doch Marie hatte ausgezeichnete Ohren.
„Nein, Frau Soselo. Ich denke nicht, dass Ihr Mann etwas damit zu tun hat. Ich kann´s mir nicht vorstellen. Er ist ein sehr weicher Mann. Ich denke nicht, dass Ihr Mann zu so etwas fähig wäre.“
„Nein, das kann auch nicht sein!“ beruhigte sich Johana Soselo selber.
„Und Ismael Murundi? Würden Sie ihm so etwas zutrauen?“ Marie kam sich ein bißchen schäbig vor, die aufgekommene Betroffenheit, die sie beide ereilt hatte, nun für ihre kriminalistische Befragung ausnutzen zu wollen.
Johana Soselo schaute die Kommissarin mit einer Mischung aus Entsetzen und Resignation an: „Ich weiß nicht. Ich verstehe die Menschen nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wer hier gut und wer böse ist, und wem ich was glauben oder zutrauen soll. Mir schwirrt nur noch der Kopf. Das ist doch alles der schiere Wahnsinn. Ich muss mal raus hier.“
Johana Soselo stand abrupt auf, öffnete die untere Schublade des Sideboards und kramte eine Schachtel Zigaretten und kurz darauf eine Schachtel Streichhölzer hervor. Sie öffnete die Glasschiebetür des Esszimmers und trat auf die Veranda heraus. Mit bebenden Fingern holte sie eine Zigarette aus der Schachtel hervor und zündete sie sich mit zitternder Flamme an. Marie war neben sie aus dem Haus auf die Terrasse herausgetreten.
„Möchten Sie auch eine?“
„Nein, danke. Ich rauche nicht mehr.“
„Wissen Sie, ob Ismael seinen Bruder Imbakwe getroffen hat?“
„Ich denke schon. Aber wissen tue ich´s nicht. Die beiden Brüder haben trotz des großen Altersunterschiedes eine sehr enge Bindung.“
Im Haus waren mit einem Mal Geräusche zu hören. Ein Schlüsselbund wurde abgelegt und kaum hörbare Schritte bewegten sich auf sie zu. Wenige Augenblicke später füllte die große und elegante Erscheingung Sokwe Soselos den Rahmen der geöffneten Verandatür.
„Guten Abend, die Damen,“ begrüßte der Afrikaner die beiden Frauen, betont freundlich seine Überraschung über die erneute Anwesenheit der Rendsburger Kriminalkommissarin überspielend.
Die beiden Frauen schauten nur stumm in seine Richtung. Sie starrten ihn aus fragend-ungläubigen Augen an.
Die Silhouette Soselos begann sich im Türrahmen unruhig zu bewegen.
Nach Minuten erstarrter Zeit brach es aus Johana Soselo hervor: „Was habt ihr beide getan, Ismael und du? Was hast du mit dem Tod des Jungen zu tun?“
Trotz ihres Gefühlsausbruchs blieb Johana Soselo wie versteinert auf der Terasse stehen.
Der in der ansteigenden Dämmerung immer dunkler werdende Schatten wand sich zur Seite und rutschte langsam den Türrahmen herunter. Der Schatten machte erst Halt, als er den Boden erreicht hatte und der Kopf auf die gebeugten, angezogenen Knie fallen konnte. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr den Beweis für die hereinbrechende Dunkelheit in das hilflose Schweigen zwischen den drei Menschen an: vier plus acht Glockenschläge. Jeder der drei zählte die Schläge mit, um seinen Verstand mit irgendetwas zu beschäftigen. Und gleichzeitig suchten drei Augenpaare in den umgebenden Schatten Halt. Doch die immer mehr ineinander übergehenden Grautöne konnten keinem der Augenpaare ihren Wunsch erfüllen. Sie schweiften verloren umher, ohne sich zu begegnen.
Es dauerte eine gefühlte Unendlichkeit ehe ein tiefer Seufzer aus dem Türrahmen die Stille durchbrach, auf die die klerikale Zeitansage mit ihrer eindringlichen Numerologie erst so massiv aufmerksam gemacht hatte.
„Ich konnte nicht anders! Ismael ist mein Freund! Wir sind auf ewig durch MPUANNUM verbunden!.“
Johana Soselo schaute entsetzt auf ihren Mann herunter, dann zu Marie und wieder zu ihrem Mann. „Nein, Sokwe, du kannst doch nicht…“
Doch ehe Frau Soselo weitersprechen konnte, war Marie einige Schritte auf sie zugegangen und fasste sie am Arm: „Nein, es ist nicht so, wie Sie denken. Lassen Sie ihn. Bitte!“
Marie schaute ihr Gegenüber eindringlich an, während Johana Soselos Gedanken und Worte mit ihrem Blick in die dunkle Ferne verschwanden.
Marie blieb auf Höhe der Frau, hockte sich jedoch im Schneidersitz auf den Holzboden der Terrasse, um dem Mann eine Tür aus Beistand zu öffnen.
Es dauerte dennoch eine Weile, bis die nachdunkelnde Silhouette zu sprechen begann.
„Wir waren noch Kinder, so zehn oder elf Jahre alt. Da haben wir uns bei MPUANNUM Treue und ewige Freundschaft geschworen. MPUANNUM ist das Adinkra für die fünf Priesterhaare. Ein machtvoller Bund fürs Leben. Das hatte damals schon unsere Großmutter gesagt. Ismaels Laima hatte uns vorsichtig gewarnt, dass dieses Zeichen sehr viel Macht habe, weil es eigentlich in den hohen und geweihten Stand der Priester gehöre. Doch wir wollten uns Freundschaft und Treue schwören, so dick und fest wie nur irgend möglich.“
Marie erinnerte sich. Die Adinkra-Symbole aus dem Schaft des Wedels, den sie bei dem toten Jungen gefunden hatten. Die fünf Kreise, die sich berührten.
„Deshalb hatte uns Laimas Warnung nur darin bestärkt, die fünf Kreise zu nutzen. So wussten wir fünf Freunde, dass wir immer füreinander da sind. Ergebene Loyalität. Und die unverbrüchliche Verpflichtung – im Sinne eines Priesters oder, ihr versteht vielleicht besser Medizinmannes – Leid und Dunkles von uns, unseren Familien und unseren Seelen fernzuhalten. Und Ismael wusste, dass er sich auf mich verlassen konnte. Auch bei seinen Familienangelegenheiten. Auch jetzt.“
Die Silhouette von Soselos Kopf löste sich von den angezogenen Knien und lehnte sich, ohne den Blick ins Nichts zu ändern, aufrecht an den Türrahmen.
„Ich habe Ismael das Flugticket besorgt, so dass er herkommen konnte, und auch für seinen Rückflug gesorgt.“
Nach einer kurzen Pause: „Ismael ist wieder weg. Er ist nicht mehr in Hamburg, er ist wieder zurück in Tansania. Es ist alles vorbei jetzt.“
Marie stand auf und drehte sich so Soselos Frau: „Gehen Sie hin zu ihm. Stehen Sie zu ihm. Jetzt sind Sie dran, Ihrem Mann Ihre Loyalität, Ihr MPUANNUM zu zeigen.“ Behutsam schob Marie den schlaffen Körper der Frau auf das Haus zu.
„Zeigen Sie Ihm, dass Sie nun für ihn da sind. Sie sind stark genug,“ flüsterte Marie ihr noch hinterher.
Johana schaute sich noch einmal zu Marie um und spannte dann ihre Muskeln an. Als sie sich neben ihren Mann hockte, schmiegte sich der Schattenkopf an die ausgetreckte Hand Johana Soselos an.
„Ich konnte nicht anders, meine Liebe. Ich musste Ismael helfen. Und ich konnte dir auch die ganze Zeit nichts erzählen. Eigentlich sollte ich es jetzt auch nicht…“
Die Hand legte sich sanft auf den Schattenmund.
„Sokwe, ich glaube nicht, dass du etwas Unrechtes getan hast. Und Frau Johannsson hier auch nicht. Du muss das ganze nun nicht mehr allein tragen. Du weißt, ich bin bei dir, und ich stehe zu dir, egal was ist. Und wenn´s schwierig ist, doppelt so stark.“
Johana redet ein wenig mit ihrem Mann wie mit einem kleinen Jungen, ging es Marie durch den Kopf. Aber was macht das schon. Das gehört manchmal eben auch dazu. Und sie ist die Stärkere von den beiden. Wahrscheinlich jedenfalls. Er schien ja nun auch einiges durchgestanden zu haben.
„Willst du wirklich alles wissen, meine Liebe?“ fragte der Schattenmann.
„Ja, alles. Und ohne Verschweigen und ohne Beschönigung. Ich will endlich Klarheit,“ antwortete seine Schattenfrau. „Und denk immer an unseren Jumo.“
„Ich habe immerzu an unseren Jungen gedacht. Ich bin so dankbar, dass wir mit ihm hier in Deutschland leben.“
„Erzähl!“ Pause.
„Alles, Sokwe!“
„Es war ein Beschluss des Familienrates. Ein Priester war natürlich auch dabei. Aber alle Familienmitglieder waren sich einig, dass sie dem kleinen Jowelo helfen mussten. Auch wenn seine junge Mutter ganz fürchterlich geweint hat. Die Familie konnte nicht zulassen, dass sein Körper, und mit ihm seine Seele, in tausend Teile zerschnitten und in alle Winde verteilt wird. Seine Seele würde nach seinem Tod nie wieder zusammenfinden und verloren im Zwischenreich umherirren. Sie haben es sich ganz sicher nicht leicht gemacht.“
Sokwes Soselos Atem ging schwer.
„Sie hätten auch Kojo töten können. Bis zu Ihren Nachfragen, Frau Johannsson, letztens am Telefon, wusste ich gar nicht, dass Samuel Kojo der Zauberjäger war. Ich hatte zwar seit einiger Zeit das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmte, aber ich wäre nie im Leben darauf gekommen, dass ausgerechnet er hinter diesen Entführungen und Verstümmelungen stecken könnte.“
„Und das war sicherlich nicht das erste Mal,“ sprach Marie leise vor sich hin.
„Sie, die Familienversammlung, haben es überlegt, ob sie diesen bösen Mann töten sollten. Aber ihre Regeln verbieten es, das Böse mit Bösem auslöschen zu wollen. Sie wissen auch, dass das nicht geht. Eine solche Tat würde das Böse nur potenzieren. Und es wäre sogar an Jowelos Seele haften geblieben. Wenn Böses noch mehr Böses hervorbringt, dann verstärkt sich das Dunkel nur, es potenziert sich dann sogar. Dem Dunklen mit Dunklem zu begegnen löscht alles Licht.“
Sokwe Soselo musste eine kurze Pause machen.
„So mussten sie beschließen, den Jowelo herauszunehmen. Alle, seine Mutter, sein Vater, sein Onkel, und seine ganzen Verwandtschaften, alle mussten zusammen mit dem eingeweihten Priester dafür stimmen. Nur wenn sie mit einer Stimme entscheiden würden, hätte Jowelos Seele eine Chance auf Frieden. Und glaubt mir, der Familienrat hat es sich nicht leicht gemacht. Ismael hat mir alles ausführlich erzählt. Sie mussten es einfach tun. Sie mussten, um seine Seele zu retten, den Kleinen aus diesem Kreislauf des irdischen Lebens herausnehmen. Er würde wiedergeboren und – so Gott will – eine neue und hoffentlich bessere Chance erhalten.“
Sokwe Soselo stand auf. Er reichte seiner Frau die Hand, bis sie ebenfalls wieder aufrecht auf ihren Beinen stand.
„Ich weiß nicht, ob das mit der Wiedergeburt stimmt. Ich weiß nur, dass das so mit dem Jungen nicht weitergehen konnte. Kojo hätte den Kleinen bis ans Ende der Welt verfolgt und ihn so weit verstümmelt, bis nichts von ihm übriggeblieben wäre. Samuel ist so unglaublich machtgierig geworden. Er hatte ein neues Projekt in Tansania aufgetan, irgendetwas mit Erdöl, und war vollkommen im Machtrausch. Regelrecht besessen war er davon. Das war das letzte, was ich von ihm mitbekommen habe. Samuel muss der festen Überzeugung gewesen sein, dass er ohne den Zauber des Jungen scheitern würde. Es ging ihm nicht einmal ums Geld. Davon hatte er inzwischen mehr als genug. Es ging ihm nur noch um Macht, Macht und Ansehen und herrschen können über andere Menschen. Wie ich mich nur so habe von ihm täuschen lassen können!“
Die ganze Fassungslosigkeit quoll aus dem Marie sonst nur so sanft begegneten Mann förmlich heraus.
„Was ich jetzt sage, Frau Johannsson,“ und er sah Marie bei seinen Worten klar und direkt in die Augen. Er war einige Schritte auf sie zugegangen. „Was ich jetzt sage, spreche ich nur dieses eine Mal in meinem Leben aus, danach nie wieder. Danach werde ich jede einzelne Silbe meiner folgenden Worte abstreiten. Ich möchte nur, dass Sie es wissen. Und ich hoffe, Sie wissen mit den Informationen respektvoll und achtsam umzugehen.“
Marie schwieg, dachte aber bei sich: Ich werde tun was ich kann.
Sokwe Soselo drehte sich auf dem Absatz um: „Und vor allem möchte ich, meine Liebe, dass du alles weißt. Du, die du mich so hast schützen wollen. Meine Löwin.“
Er nahm seine Frau kurz mit großer Zärtlichkeit in die Arme.
„Es wurde einer ausgewählt, es zu tun. Einer aus der Familie musste unter dem spirituellen Schutz des Priesters den Beschluss des Clans erfüllen. Es war allen klar, dass dies nur Ismael sein konnte. Er war der einzige mit der entsprechenden westlichen Bildung, der sich ohne größeres Aufsehen in Deutschland bewegen konnte. Ismael war einmal ähnlichen Schicksal wie dem von Jowelo nur knapp entgangen, denn Ismael ist selbst auch ein Albino, allerdings nur mir geringer Ausprägung. Wenn man es nicht weiß, kommt man bei ihm nicht drauf. Für dieses Geschenk und weil es die Stammesregel so erforderten, war Ismael bereit, sich gegebenenfalls zu opfern.“
„Ismael hat…,“ Johana Soselo blieb der Mund offen stehen. Und auch Marie war trotz ihre Eingangsverdachtes nun überrascht. „Dein alter Freund hat den Kleinen, seinen eigenen Neffen, sein eigen Fleisch und Blut…“
„Ja, gerade deshalb ja,“ fiel ihr Mann ihr mit beruhigender leiser Stimme ins Wort.
„Ismael hatte den Auftrag von seinem Clan, Sowelo von diesem furchtbaren Schicksal zu erlösen. Und er hat es getan. Du weißt noch, er war vorletztes Wochenende in Hamburg. Und Montag, kurz nachdem er es getan hatte, ist er wieder zurückgeflogen nach Mwanza. Ich habe ihn noch zum Flughafen gebracht und das Ticket in die Hand gedrückt. MPUANNUM.“
„Wusste denn der Vater auch von dem Plan der Familie, der Imbakwe?“
„Ja, er wusste davon.“
„Und er war damit einverstanden?“
„Na-ja. Nicht direkt.“
„Wie hat Ismael das denn gemacht? Wie konnte der denn Hand an seinen Neffen legen, so einem kleinen Würmchen Gewalt antun?“
„Ismael hat dem Kleinen keine Gewalt angetan. Ich weiß auch nicht genau, wie die Familie das gemacht hat. Aber es war die ganze Murundi-Familie beteiligt. Und der Priester. Ismael musste nur als weltlicher Vermittler oder Überbringer oder wie immer das funktioniert, der Energie aus Tansania fungieren und deshalb persönlich hierherkommen.“
„Was hat er nur getan?“ fragte Johana Soselo noch einmal bei ihrem nun immer ruhiger und gefasster werdenden Mann nach.
„Ich weiß es nicht. Er hat mir dazu nichts weiter erzählt. Ismael sagte, darüber sollte geschwiegen werden. Solche Verrichtungen dürften nicht öffentlich werden, damit damit kein dunkler Zauber gemacht werden könne.“
Nun schaltete sich Marie ein, die die ganze Zeit schweigend und angespannt zugehört hatte: „Wie kam der Kleine denn in die Markthalle nach Rendsburg?“
„Imbakwe Murundi hat wohl diesen schweren Gang gemacht. Es musste ausgeschlossen werden, dass der Kleine nun doch noch in die Hände von Kojo und seinen Schächern gelangen konnte. Und da haben die beiden Brüder versucht, in so anonym wie möglich, aber auch so schnell wie möglich, den Behörden zuzuführen, damit er auf diese Weise vor weiterer Schändung geschützt war. Zwei von dem Priester geweihte Reliquien sollten die Seele des Jungen auf ihrem Weg führen und begleiten. Bananen sind in Tansania etwas sehr wertvolles. Und Imbakwe dachte wohl, dass von der Markthalle aus die Spur des Jungen am wenigsten zurückzuverfolgen wäre. Aber niemand hat mit ihrer Spitzfindigkeit gerechnet, Frau Johannsson.“
Und Marie ging durch den Kopf: „Und es dachten alle, in solch einer Kleinstadt wird niemand das Haar finden, geschweige denn zuordnen können.“
Sokwe Soselo fuhr fort: „Selbst die Todesursache herauszufinden hatten die Murundis Ihnen nicht zugetraut. Weit gefehlt.“
Sokwe Soselo atmete tief durch. „Mir ist jetzt jedenfalls etwas leichter, wo alles raus ist. Ob alles rechtens war – ich weiß das nicht. Da werden wir alle Beteiligten sicherlich unseren höheren Richter finden…“
Die drei Menschen auf der Holzterrasse des Hauses in der Hamburger Schlagbaumtwiete blickten unabhängig voneinander in den dunklen Himmel. Und sie schwiegen. Eine ganze Weile schwiegen sie so nebeneinander, ehe sich Marie besann und von den Soselos verabschiedete: „Auf Wiedersehen. Und vielen Dank für Ihr Vertrauen. Ihnen beiden.“
Ehe sie losfahren konnte, blieb Marie noch eine knappe halbe Stunde in ihrem Wagen vor dem edlen Holzhaus der Soselos stehen. Alle möglichen Bilder und Gedanken um diesen afrikanischen Albinojungen mit dem Namen Jowelo Murundi schossen ihr durch den Kopf. Marie versuchte, das soeben Erfahrene zu verdauen. Doch im Grunde überschlugen sich in ihrem Kopf nur die Eindrücke, die hervorgerufenen Bilder und Gedanken.
Marie ließ in ihrem Kopf erste einmal alles durcheinanderpurzeln. Nach einigen Augenblicken begann sie, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie atmete langsam, aber bewusst in ihren Solarplexus, um sich wieder einigermaßen Mitte zu verschaffen. Schließlich wollte sie jetzt gut und sicher nach Hause kommen.
Dann drehte sie den Zündschlüssel um, gab im Leerlauf viel zu viel Gas und fuhr dann aber für ihre Verhältnisse aber recht langsam und wohlbehalten nach Hause.
32
Am nächsten Morgen saß Marie sehr früh und sehr schweigsam an ihrem Schreibtisch. Ihre Nacht war sehr kurz und unruhig gewesen. Als sie auf ihrem Hof ankam, waren alle bereits zu Bett gegangen. Nur die Begrüßungslichter zwischen Toreinfahrt, Innenhof und Eingangstür hießen sie Zuhause willkommen. Sie war gleich ins Bett gegangen, sie hatte aber, obwohl sie todmüde war, nicht einschlafen können. Es kam Marie vor, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Doch etwas schläft oder döst man doch immer, auch in solchen Nächten. Marie fühlt sich jedenfalls aufgrund ihres Schlafmangels zugleich wach und etwas wie high, ein seltsam angenehmer Zustand zwischen Bettdeckentiefgang und Himmelseuphorie.
Sie hatte im Büro Mochita soeben nur kurz, aber herzlich begrüßt. Ihre Sekretärin hatte ohne weitere Worte verstanden, dass ihre Chefin jetzt Ruhe brauchte, ihre störungsfreie Zone, wohl, weil sie ihre Ermittlungsergebnisse und Gedanken zu dem aktuellen Fall um den kleinen toten Jungen zusammentragen und sortieren musste. Marie hatte dann immer so einen ganz bestimmten Gedichtsausdruck, leicht zusammengekniffene, aber sehr wache, fast umtriebige Augen und es kamen ihr kaum Worte über die Lippen. Mochita war eine Meisterin der non-verbalen Signale und damit ein Geschenk für Marie, die sich nicht gerne erklärte.
Mit einem dampfenden Tee zur Rechten ließ sich Marie auf ihrem Schreibtischstuhl fallen, stellte ihre Ellenbogen auf die Tischplatte und drückte ihr Gesicht in ihre geöffneten Hände.
Was sollte sie jetzt mit all den Informationen machen? Sie würde jetzt erst einmal alles der Reihe nach durchgehen. Sie müsste noch einiges wirklich verstehen – wenn das überhaupt ginge! Denn so richtig klar war ihr noch nicht, wie der Junge und auch wie Kojo ums Leben gekommen waren.
Wenn sie ihren Visionen glauben konnte, war Kojos Tod eher ein Unfall als eine vorsätzliche Tat gewesen. Marie war sich ziehmlich sicher, dass es Ismael Murundi war, dessen Silhouette sie bei Kojo gesehen hatte. Woher auch immer diese Sicherheit kam! Denn weder kannte sie den Onkel des toten Jungen noch hatte sie jüngste Bilder von ihm gesehen. Nur die Aufnahme des jungen Mannes bei dem Fußballfreundschaftsspiel, und das war gut 20 Jahre her. Und das Messer hatte Kojo selbst gezogen, wenn sie sich recht erinnerte. Passen würde es ja. Dieser Mann wusste, dass er mehr als ein Grenzgänger war, dass er menschliche Grenzen überschritten hatte. Kojo hatte nun beileibe allen Grund, sich schützen zu müssen und von daher ein Messer bei sich zu tragen. Das passte.
Aber wenn es Ismael war, was hatte er überhaupt bei Kojo gewollt, wenn er ihn nicht töten durfte, selbst wenn er es wollte? Marie hatte keinerlei Ahnung oder Idee. Dieser Teil des Falls fiel auch Gott sei Dank sowieso nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Das war eine tansanische Angelegenheit.
Der Junge war zum Zeitpunkt des Vorfalls mit Kojo schon tot. Zwei Tage. In Deutschland. In Rendsburg. In ihrem Rendsburg.
Ja, und wie die Familie eingewirkt haben sollte auf den Tod des Kleinen? Mehrere Menschen, und zwar von Tansania aus? Und ohne Hand anzulegen? Das konnte sich Marie nun überhaupt nicht mehr vorstellen. Sokwe Soselo hatte ganz klar gesagt, dass Ismael dem Kleinen keine Gewalt angetan habe – und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm. Ob da tatsächlich irgendeine Art von Zauber am Werke gewesen war? Gab es denn so etwas? Möglicherweise hatte Ismael Murundi tatsächlich nicht selbst Hand angelegt.
Marie erinnerte sich, dass sie vor einiger Zeit von ihrer Hamburger Kollegin Gabi Schlieper ein Buch über afrikanische Riten geschenkt bekommen hatte. Sie meinte, sie hätte das Buch damals aus unerfindlichen Gründen im Büro gelassen. Es hatte sie damals nicht wirklich interessiert. Das war so weit weg, Afrika und so merkwürdige Zauber und Rituale. Und nun war Afrika tatsächlich zu ihr gekommen. Nach Rendsburg, in den hohen Norden.
Und tatsächlich fand sie das kleine unscheinbare Taschenbuch ganz unten in ihrem Büroregal.
Worunter sollte sie nachschlagen? Sie konnte doch nicht das ganze Buch durchlesen. Heilung, Fernheilung? Nein. Energieübertragung? Mmmh. Seelenwanderung? Sterbe- und Totenrituale? Nein, dann sicher am ehesten Energieübertragung.
Und als Marie das Kapitel aufschlug, fand sie folgende Zeilen:
Bestimmten afrikanischen Priestern, die eine entsprechende Einweihung erhalten haben, soll es möglich sein, Energien von Menschen zu bündeln und diesen Kräften einen Weg auch über große Entfernungen hinweg zu bahnen. Das ganz folgt geheimen, über unzählige Generationen überlieferten Riten, die nur diesen eingeweihten Priestern bekannt und zugänglich sind. Darüber existieren keinerlei Niederschriften. Zeremonien und Sprüche werden ausschließlich von Priester zu Priester weitergegeben, meist von einer Generation auf die andere. Priesterlinien sind meist reine Blutslinien.
Marie wunderte sich darüber – wieder einmal, fiel ihr auf – dass bestimmte geistige Vorgänge und Handhabungen – was für ein weltliches Wort für solch energetische Angelegenheiten – andernorts mit solch großem Selbstverständnis gehändelt wurden, während sie hier, etwa in Deutschland, so absurd erschienen und mit schlichter Ignoranz negiert wurden.
Marie las in dem Buch weiter. Einige Zeilen weiter wurde es spannend für sie: Es reicht vollkommen aus, wenn etwas Körperliches aus dem Familienclan, und sei es nur ein Zahn, ein Fingernagel oder ein Haar, an den Zielort der Energie gebracht wird.
Marie blickte auf. Deshalb das Haar direkt an der Babyleiche! Ismael Murundi hatte lediglich ein Haar von ihm selbst in Kontakt mit dem Jungen bringen müssen, um die Energien aus Tansania auf ihn zu lenken.
Konnte das denn sein? Konnte so etwas funktionieren? Das war ja ein unglaublicher Zauber. Zweifel brannten in dem naturwissenschaftlich gefüllten Gehirn von Marie auf.
Marie kramte ihre Akte und die Berichte und Papiere zu dem Fall durch. Hier war der Obduktionsbericht des Kleinen von Dr. Wilfried Möller. Marie überflog hastig die Zeilen. Hier: …dass trotz des mehr als deutlichen Verdachts der Tötung durch Luftinjektion keine Einstichstelle am Körper des Leichnams gefunden werden konnte. Da es sich um die Leiche eines nur wenige Wochen altes Babys handelt, kann sich die Einstichstelle aufgrund des alterstypischen Wachstumsprozesses noch vor Einritt der Totenstarre geschlossen haben.
Das passte auch. Das Haar von Ismael, und auch und nur gerade ein einzige Haar und die fehlende Einstichstelle. Sollten Menschen in der Lage sein, über Entfernungen so etwas rein per Gedankenkraft oder Energiefokussierung auszurichten? Da spielte die Größe der Entfernung ja im Grunde sowieso kaum noch eine Rolle. Wenn das von einem Dorf oder einer Hütte zur nächsten funktionierte, dann ging das auch von Tansania nach Hamburg, oder Rendsburg.
Und auf diese Weise hatte die Familie eine tödliche Luftblase in den Blutkreislauf des Kleinen gebracht?
Ohne ein Geräusch ging Maries Bürotür auf und Mochita huschte hinein, um ihr wortlos ein frisches Fax auf den Schreibtisch zu legen. Wie eine kleine dicke Fee schwebte die Mexikanerin lautlos wieder aus dem Zimmer heraus.
Maries Finger nestelten den Papierbogen von der glatten Schreibtischfläche auf. Sie hielt ein Fax von Interpol in den Händen:
Weiterführende Laboruntersuchungen im Fall des in Daressalam (Tansania) erstochenen Samuel Kojo konnten bislang zwar den Tathergang genauer fassen, eine darüber hinaus gehende Spur zum Täter gibt es bislang jedoch noch nicht:
- Die Tatwaffe ist ein original Frank Beltrame, ein klassisches Springmesser mit einer Klingenlänge von 14,7 cm. Es stammt wahrscheinlich vom Toten selbst.
- Neben den Fingerabdrücken des Opfers befinden sich noch weitere einer zweiten Person auf dem Messergriff.
- Das Opfer hat noch nach der zweiten Person den Messergriff umfasst. Möglicherweise hat sich das Opfer das Messer selbst aus dem Bauch gezogen. Vielleicht wurde es auch in einer Abwehrbewegung zwar von ihm selbst gehalten, aber von der anderen Person in seinen Unterleib gerammt.
- Durch die Entfernung des Messers, das in eine größere Schlagader im Bauchraum eingedrungen war, ist das Opfer verblutet.
- Neben dem Blut des Opfers befindet sich auch Blut einer zweiten Person auf der Messerklinge.
- Weder die zweiten Blutspuren noch die zweiten Fingerabdrücke konnten bislang einer bestimmten Person zugeordnet werden.
- Die Hintergründe der Tat an dem in seinem Umfeld als großzügig bekannten und beliebten Geschäftmannes und Förderers verschiedener Sozialprojekte liegen weiterhin im Dunkel. Ein Raubüberfall wird jedoch inzwischen ausgeschlossen, da sowohl in seiner Brieftasche als auch im Tresor beträchtliche Mengen an Bargeld gefunden wurden. Auch sein wertvoller Siegelring steckte noch auf dem Finger des Toten.
- Der Zweck oder ehemalige Inhalt von drei leeren, wahrscheinlich nach der Tat in einem Halbkreis neben dem Toten aufgereihten, kostbar verzierten Schachteln aus Edelholz ist weiterhin unbekannt.
Welche Kräfte hatten hier geholfen? Auf den Tatortbildern, die Marie von den tansanischen Behörden zugeschickt bekommen hatte, hatten die drei Kistchen noch völlig achtlos an dem Schauplatz des Kampfes um Leben und Tod herumgelegen.
Irgendwer oder irgendwas hatte dem Ganzen doch noch ein wenig Achtung und Würde gegeben, schien es Marie. Vielleicht war das Ismael Murundi gewesen, oder Jowelos Vater? War der überhaupt noch in Deutschland?
Die Kästchen. War Ismael vielleicht nur wegen der Holzkästchen zu Kojo gegangen? Der Körper des Kleinen sollte doch nicht in alle Winde verstreut sein, damit seine Seele keinen Schaden nehmen würde. Das musste sein Vorhaben gewesen sein. Er wollte die Finger von Kojo holen. Und dabei hat ihn Kojo überrascht, es kam zum Kampf und dabei fiel Kojo in sein eigenes Messer. Möglicherweise hat der ältere Murundi-Bruder die Finger aus den übrigen Kästchen in eingesammelt. Ein Kistchen trägt sich leichter als vier Holzkistchen. Aber wer hatte die drei leeren Kästchen nach dem Tod Kojos in dieser Runde drapiert? Und wie kam dann eines der Kistchen in den Rendsburger Grünstreifen? Gefunden am Samstag, also einen Tag nach dem Tod von Samuel Kojo. Mit dem Ringfinger des Kleinen. Den hatten sie – wer auch immer – zwei Wochen zuvor entfernt, als sie den Jungen aus Blankenese entführt hatten. Und wo waren dann die übrigen drei Finger des Jungen?
Sie knüllte das Fax zusammen und warf es in den Papierkorb.
Marie zog ihre Jacke an und hatte ihre Bürotür schon in der Hand, als sie sich noch einmal umdrehte und zurück zu ihrem Schreibtisch ging. Sie holte das zerknüllte Stück Papier wieder aus dem Plastikeimer hervor, strich es glatt und legte es auf ihren Schreibtisch unter den Locher, damit es nicht wegwehen konnte.
Sie würde sich am Montag darum kümmern, den Bericht schreiben und die Akten um das tote Baby in den grünen Bananen endgültig schließen. Irgendwie. Oder die Zeit die Akten schließen lassen. Irgendwie. Tat ohne Täter – jedenfalls in unserem juristischen Sinn.
Es war zwar erst halb zwölf an diesem Freitag, noch nicht einmal Mittag, aber Marie wollte jetzt unbedingt raus hier. Die Luft in ihrem Büro stand und war zum Schneiden dick mit ihren unausgegorenen Gedanken. Überstunden hatte sie in den letzten Tagen genug gemacht. Sie brauchte jetzt Abstand zu dem Ganzen, zu dieser ganzen unglaublichen Geschichte. Sie würde jetzt an die Ostsee fahren und es dem Meer überlassen, ihren Kopf durchzuspülen, und dem Wind, ihre Gedanken auszukehren.
Jetzt am Meer entlanglaufen, das wär genau das richtige. Ohne Zeitlimit, bis sie erschöpft war oder leer oder beides.
Nur, wie sie das alles Robert und vor allem Gabi erklären sollte, war Marie ein vollkommenes Rätsel. Gabi würde sie für „komplett bestusst“ erklären, wie man im Ruhrpott sagt, selbst wenn ihre Kollegin das nicht laut aussprechen würde.
33
Den Samstagmorgen schlief Marie aus. Sowohl Lukas als auch ihre Mutter nahmen wieder einmal so wohltuend Rücksicht auf sie.
Es war halb zehn, als Marie noch mit sehr kleinen Klüsen im Bademantel an den Frühstückstisch herunterkam. Es war ihr nicht nur ein langer, sondern auch ein ruhiger und traumloser Schlaf vergönnt gewesen.
Als sie in das frische, mit Honig bestrichene Brötchen biss, kam von hinten Lukas zu ihr, legte ihr zärtlich seine Arme über die Schultern und küsste sie sehr feucht auf ihre Wange.
„Guten Morgen, Mama. Du hast ja geschlafen, wie ein…“
Und er löste sich von ihr und machte seine Mutter nach, indem er beide Hände an seine Ohren legte, um kleine Trichter mit ihnen über seine Ohren zu bilden und anschließend mit zwei Fingern über seine geschürzten Lippen zu fahren, die seinen ausgestoßenen Brummton in ein Babybrabbeln verwandelten. Das war ihr Spiel für Schlafbären oder Murmeltiere. „Du hast nicht mal gemerkt, wie ich ganz früh zu dir gekrabbelt bin. Und als ich Oma gehört habe, bin ich raus, weil ich solch einen Hunger hatte. Ich habe nämlich schon gefrühstückt. Und Oma auch. Wir waren die ersten.“
„Ja toll, mein Frühaufsteher,“ antwortete Marie, warf ihre Arme nach hinten und umgriff ihren Sohn zu einer verdrehten, aber liebevollen Umarmung.
„Ich habe übrigens wieder was geträumt, Mama.“
„Na, dann erzähl mal, meen Jong.“
Und Lukas erzählte: „Der kleine Junge, du weißt doch noch, das Püppchen aus Porzellan, der ist heute Nacht als kleiner Engel zu mir gekommen. Er hatte seine Flügel gebrochen. Doch heute Nacht sind die großen Leuchteengel gekommen, und haben seine Flügel wieder heile gemacht. Mit leuchtenden Stäben, so ähnlich wie die bei den Yedi-Rittern. Die haben sie nur an seine gebrochenen Flügel gehalten, die wurden ganz hell und dann waren die auch schon wieder heile. Jetzt kann der kleine Junge auch durch den Himmel fliegen, wie alle anderen Engel auch. Ist das nicht schön…?“
Die Augen ihres Sohnes leuchteten, als er seine Geschichte erzählte.
„Und weißt du, Mama. Als erstes ist der kleine Porzellanengel Zuhause vorbeigeflogen. Bei seiner Mama hat er drei Stäbchen abgeholt, die fehlten ihm noch. Die hat er in seine Kitteltasche gesteckt und ist dann hoch, hoch in den Himmel hineingeflogen. Zu all den anderen Engeln.“
„Ja, wundervoll ist das, Lukas. Und ich freue mich, dass er vorbeigekommen ist und dir das gezeigt hat.“
„Aber warum weinst du dann, Mama?“
Marie kullerten einige Tränen über ihre Wangen. „Das sind Glückstränen, meen Jong. Ich freue mich so für den kleinen Engel, und dass er keine gebrochenen Flügel mehr hat.“ Sie atmete einmal tief durch. „Ich freue mich einfach. Und ich seh ihn jetzt richtig umherfliegen. Fast so wie ein großer Schmetterling.“
Der weitere Samstag vormittag verlief ruhig und gemächlich dahinfließend, wie Marie es manchmal so gerne hatte. Sie nahm ein ausgiebiges Bad, in dem sie ihren aktuellen Coelho las. Sie nickte zwischendurch ein, ließ immer wieder heißes Wasser nachlaufen und genoss die wohlige Wärme um sich herum. Noch im Bademantel rief sie Martin an und verabredete sich mit ihm zum Mittagessen. Klara wollte kochen und hatte sie gefagt, ob Martin auch da wäre. Ihr Fritz wollte auch zum Mittagessen kommen, und es wäre doch schön, wenn die beiden Männer…
Da brach bei Klara doch manchmal etwas für sie eigentlich ungewöhnlich altbacken Konventionelles durch. Der eine Mann sollte kommen, weil der andere da war? Männerrunde? Männeralibi? Dabei besuchten beide – doch wohl? – eindeutig ihre Frauen und Geliebten. Aber Marie hatte natürlich ja gesagt. Sie müsse natürlich Martin noch erst fragen, ob er überhaupt wolle und überhaupt Zeit habe. Und die hatte er nun.
Marie freute sich sehr. Sie hatte nun einiges an alter Haut und alten Gedanken und alten Bildern von sich heruntergewaschen und fühlte sich wieder wie neu.
Das Mittagessen in der großen Familienrunde verlief sehr unaufgeregt und harmonisch. Tatsächlich bestimmten die beiden – eigentlich sogar die drei, denn Lukas hielt nicht hinterm Berg – Männer die Gesprächsrunde. Die beiden Frauen schwiegen. Klara schaute immer wieder verliebt ihren Fritz von der Seite an. Marie sah in den Augen ihrer Mutter etwas zwischen Unsicherheit und Ungläubigkeit aufflackern, das aber sofort verschwand, als sich die beiden Frauen wortlos ansahen und die Jüngere der Johannssons der Älteren leicht aufmunternd zunickte. Marie genoss ihren Schweigeraum in dem um sie herum Erzählten, dessen Inhalte ihre innere Befindlichkeit kaum streiften. Die drei Männer ereiferten sich über Schiffe, die Seetüchtigkeit verschiedener Bootstypen und natürlich den großen und kleinen Bootsbau.
Als die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg in die Essküche und schnurstracks in Maries Gesicht gefunden hatten, nickte Marie ihrer Mutter mit einer auswärts weisenden Kopfbewegung und fragenden Augen zu. Klara drehte sich um und blinzelte, immer noch schweigend, in die Sonnenstrahlen. Die beiden Frauen nickten sich einverständlich zu.
Im Aufstehen meinte Klara: „Wir Frauen gehen jetzt bei dem herrlichen Wetter spazieren, an den See runter. Kommt der eine oder andere Seebär vielleicht mit?“
Als erster sprang Willi auf und wedelte seiner Menschin um die Beine. Klara streichelte daraufhin mit ihrer rechten Hand Willis und vertiefte sich zugleich mit der linken Hand in Fritzens Brustfell. Fritz war nämlich sehr stark behaart auf der Brust und weil Klara seine Brustbehaarung so sehr liebte trug er ihr zuliebe seine Hemden oben leicht geöffnet – zumindest wenn sie unter sich waren. Sie hatte es sich in ihrer gebeugten Haltung nicht verkneifen können, jetzt in diesen kleinen Urwald hineinzugreifen. Beiden männlichen Wesen schien ihr paralleles Kraulen zu gefallen.
Martin und Lukas stellten die Teller zusammen.
„Ich nehm aber mein kleines Boot mit!“ rief Lukas und holte blitzschnell seine kleines ferngelenktes Motorboot aus seinem Zimmer.
Keine fünf Minuten später standen die Johannsson-Frauen mit ihren Männern abgehbereit im Innenhof. Klara knipste noch im Vorübergehen einige verwelkte Rosenblüten ab. Dann setzte sich der gut gelaunte Trupp in Bewegung, den Weg zum Wittensee herunter. Martin ließ sich von Lukas haarklein das Motorboot erklären und wie man dessen Fernbedienung handhaben musste. Klara hakte sich bei Fritz ein und die beiden schlenderten – Ihre Augen nur füreinander – hinter den beiden her. Marie und Willi bildeten die Nachhut.
Klara warf unterwegs ein Stöckchen für den Hovawart, so dass der Hund weiter vorn lief und Marie sich immer mehr zurückfallen ließ. Ihr Gedankenapparat war wieder angesprungen.
Was war nur mit den drei verschwundenen Fingern des Kleinen passiert? Und dass der Ringfinger ausgerechnet in Rendsburg gefunden wurde. Marie verstand das alles nicht.
Sie ging immer langsamer. Ihr wurde schon wieder schummrig im Kopf. Hatte Lukas in seinem Traum nicht etwas von drei Stäbchen erzählt, die der kleine Zuhause abgeholt hatte, ehe er endgültig in den Himmel fliegen konnte? Ja, das war doch kein Zufall. Die drei fehlenden Finger. Vermutlich hatte die Familie des Jungen, vor allem auch seine Mutter, die drei Finger aufbewahrt, damit seine Seele den Weg finden konnte, oder so etwas ähnliches. Sie kannte sich mit so etwas ja nicht aus. Dazu würde sie Helga und auch Gabis Bekannte im Hamburger Völkerkundemuseum befragen. Aber wie der Rendsburger Finger dorthin gekommen war, das war ihr ein absolutes Rätsel. Ob die Murundi-Brüder, als sie den toten Jungen zwischen die grünen Bananen gebettet hatten, das Holzkistchen mit den Finger einfach verloren hatten? Aber so etwas verliert man doch in einer solchen Situation nicht einfach so. Montag war der Kleine gestorben worden und am Samstag hatte das Pärchen die Kiste gefunden. Fünf Tage. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Vielleicht handelte es sich um ein weiteres afrikanisches Ritual, dass den Weg für die Seele des Kleinen ebnen sollte. Aber der Finger war in Rendsburg und nicht in Kiel aufgetaucht. Vielleicht hatte da jemand nicht gewusst, was mit dem Leichnam passiert war, dass ein Toter in einer Pathologie untersucht wird und dass die für Rendsburg zuständige Pathologie in Kiel war. Vielleicht verlässt nach tansansischer Vorstellung die Seele nach fünf Tagen den Körper. Und sie sollte hier Hilfestellung erhalten, vielleicht nur aus dem fremden Gebäude herauszufinden…
Marie hatte keine Ahnung. Sie konnte nur ihre Fantasie fließen lassen. Jetzt bewegte sie sich vollends im weiten Feld der Spekulation.
Marie Gedanken hielten nur für einige Sekunden inne.
Und trotzdem! Weshalb war dieser afrikanische Albino-Junge ausgerechnet bei ihr in Rendsburg gelandet?
Marie bekam so eine Ahnung. Vielleicht hatte sie ja nur deshalb mit diesem Fall zu tun gehabt, damit sie Zugang zu ihren Visionen bekam. Das ganze afrikanische Ambiente war ja nun wirklich so weit von ihrem Erfahrungshorizont, geschweige denn von ihrem Alltag entfernt, dass sie gar nicht umhin konnte, die Bilder, die sich dazu durch ihren Kopf gedrängte hatten, im Traum, so es denn einer war, und in der Meditation, als von anderswo gegeben anzunehmen. Bei heimischen Angelegenheiten hätte sie sich immer irgendwie zurecht gelegt, dass sie von dem einen oder anderen schon einmal gehört hätte, dass das eine Erinnerung wäre, die ihr nur nicht mehr bewusst wäre und so weiter. Doch zu Afrika hatte sie keinerlei Bezug. Weder war sie jemals – in ihrem jetzigen Leben – dort gewesen, noch hatte sie sich jemals näher mit dem schwarzen Kontinent über den einen oder anderen politisch ambitionierten Spiegel-Artikel hinaus beschäftigt. Daher waren ihr alle Bilder, alles Trommeln, alle Gesichter und alle Örtlichkeiten vollkommen fremd. Sie konnte deshalb viel leichter glauben, dass sie von außen, außerhalb ihres eigenen Verstandes, kamen. Helga würde sagen, ihr von der geistigen Welt gezeigt würden. Und Helga würde im Nachhinein sicher auch sagen, dass das ganze ein Geschenk der geistigen Welt für sie gewesen sei.
Nun ja. Sie würde mit ihrer Freundin darüber sicherlich noch ausführlicher reden müssen.
Jetzt nahm sie ihre Beine in die Hand und rannte so schnell sie konnte los, um ihre Liebsten einzuholen. Lukas, Martin, Klara und Fritz waren schon weit vorgelaufen und um die nächste Kurve des Weges um ihren Wittensee verschwunden. Willi stand auf Höhe der Wegbiegung und schaute, ganz Hütehund, beunruhigt von dem einem auf den anderen Teil seines auseinandergezogenen Rudels. Als Marie in seine Richtung loslief, begann er kräftig mit seinem Schwanz zu wedeln und bellte ein Mal laut. Es klang regelrecht erleichtert.
Das war auf jeden Fall ein wunderbares Geschenk: ihr Rudel, ihre Familie und Wahlfamilie. „Hast du ein Glück, Maria-Louisa Johannsson“, flüsterte Marie heftig pustend vor sich hin und strich Willi über seinen großen Kopf, als sie ihn erreicht hatte.
Ende