Zauberjäger – Teil 3

Zauberjäger

Ein spiritueller Kriminalroman

von Angela Kämper

Teil 3

Hier nun der vorgelesene Teil 3 von „Zauberjäger“

10

Marie blieb noch bis zum späten Abend in Hamburg. Roberts Idee eines DNA-Screanings gestaltete sich erwartungsgemäß sehr aufwändig. Dieser spezielle molekularbiologische Nachweis von Albino-Genen gehörte nicht zur Laborroutine eines Kriminallabors und war daher recht kostenintensiv. Es musste erst einmal die hiesige Bürokratie in Bewegung gesetzt werden, um in einem letztlich richterlichen Verfahren den Beschluss für ein solch umfangreiches Vorgehen zu bekommen. Robert Leicht und Gabi Schlieper hatten das Prozedere in Gang gesetzt. Bis zu einem endgültigen Bescheid konnte es aber gut und gerne einige Tage oder schlimmstenfalls länger dauern.

Später gab es ein köstlichst gewürztes Mittagessen beim Perser – Marie liebte es, wenn sie schon einmal in der Großstadt war, deren internationale kulinarische Angebote zu genießen, die sie auf dem Land manchmal sehr vermisste, wo ein Fertigsoßen-Chinese schon als exotisch galt. Anschließend hockten die drei Kommissare den ganzen Nachmittag zusammen, um die bisherigen Ergebnisse zusammenzutragen und sich mit dem zuständigen Staatsanwalt und den Anträgen für ihr Begehren auseinanderzusetzen. Sie beschlossen außerdem, ausfindig zu machen, wer im Bereich des Fruchtkontors arbeitete und Verbindungen nach Afrika, möglicherweise sogar speziell nach Ghana hatte. Den Job übernahmen Robert und Gabi. Damit wären sie in den nächsten Tagen mehr als ausgelastet. Marie übernahm es, nach afrikanisch-ghanischen Verbindungen im Bereich der Spedition, die die Bananenkisten von Hamburg nach Rendsburg gebracht hatte, vor allem aber im Bereich des Rendsburger Großmarkts zu suchen.

Marie war sehr erleichtert, dass sie nicht mehr alleine vor diesem seltsamen Fall stand, sondern mehr als aktive Schützenhilfe hatte. Das war wieder eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit den beiden, wie damals. Noch dazu mochte sie die beiden sehr gerne – beide auch um sich und in ihren professionellen Gedanken zu haben. Das Foto mit den nun als ghanisch identifizierten Schriftzeichen wollte Gabi an eine Bekannte im Hamburger Museum für Völkerkunde weitergeben. Diese war Afrikanistin und würde sicherlich mit großer Akribie alles daransetzen, das Geheimnis auf dem Zettel aus dem Wedelschaft zu lüften.

Ein paar Ansatzpunkte waren nun also doch inzwischen aufgetaucht. Und Gabi hatte sicherlich recht – irgendwann würden diese verschiedenen Stränge schon zusammenlaufen. Immerhin hatte sie in diesem seltsamen Fall nun überhaupt erste Stränge in der Hand.

Als sie sich um Mitternacht todmüde in ihr Bett fallen ließ, nahm sie sich noch vor, am nächsten Morgen erst einmal Otto und Dr. Möller über ihre neuesten Erkenntnissen zu informieren. Vielleicht hatten die beiden auch noch Ideen dazu oder auch selbst noch etwas herausgefunden. Lukas hatte sie schon wieder einmal nur zum kurzen Frühstück gesehen. Klara hatte ihren Enkel natürlich schon vor Stunden „ins Bett gebracht“ – wie ihre Mutter immer noch sagte. Lukas machte natürlich alles selbstständig. Aber seine Oma ließ es sich nicht nehmen, sich zum Gute-Nacht-Sagen noch einmal kurz auf seine Bettkante zu setzen und ein paar Worte über den vergangenen Tag zu wechseln. Sie hatte schon Glück mit den beiden – und bevor sie darüber überhaupt schmunzeln konnte, war Marie in dem stillen Haus tief und fest eingeschlafen.

Am nächsten Morgen wurde Marie statt vom Wecker von Küssen ihres Sohnes Lukas geweckt. Sie musste in der Nacht vergessen haben, ihren Wecker zu stellen und hatte leicht verschlafen. Ohne ihre Familie hätte sie wohl bis Mittag durchgeratzt.

Es war die Energie der Großstadt, die ihr die Kräfte nahm. Marie verstand es nicht, spürte aber seit einiger Zeit sehr deutlich, dass hier ein direkter Zusammenhang bestand. Dabei hatte sie sich damals im Ruhrpott all die 15 Jahre sehr wohl und auch kraftvoll gefühlt. Dass die Großstadt sie auslaugte, war recht neu. Marie spürte dies sehr deutlich seit etwa einem Jahr. Da war sie mit Martin nach Berlin gefahren. Martin hatte eine besondere Affinität zu dieser Stadt. Er hatte längere Zeit am Prenzlauer Berg gelebt und noch immer viele Freunde hier. Ihr war auf der Fahrt etwas sehr merkwürdiges passiert, was sie so deutlich aber erst im Nachhinein fassen konnte. Fast in dem gleichen Moment in dem sie die Stadtgrenze überfuhren, überkam Marie eine unglaubliche Müdigkeit begleitet von diffusem Kopfdruck, die sich während des gesamten Aufenthalts in der Stadt wie eine Käseglocke über sie senkte. Obwohl sie beide dort Schönes unternahmen und es auch miteinander gut hatten, änderte sich an ihrem Zustand wie durch Milchglas nicht das geringste. Als sie zurückfuhren, auch wieder etwa an der Stadtgrenze, war sie mit einem Schlag wieder befreit, so als hätte jemand ruckartig den zähen Schleier von ihr genommen. Marie konnte sich dieses Phänomen nicht erklären. Zumal sie zuvor schon häufiger auch in Berlin gewesen war. Sie hatte die Stadt stets anstrengend gefunden, ja, aber dieses Mal fühlte sie sich regelrecht ausgeknockt.

Nun war es mit Hamburg, der im Vergleich zum Moloch Berlin geradezu geruhsamen und gemütlichen Stadt, niemals so extrem gewesen – bislang jedenfalls. Aber Marie hatte dennoch deutlich das Gefühl, dass allein das in der Großstadt sein sie auslaugte, ihr Kraft und Energie nahm. Vielleicht waren es die inzwischen ungewohnt vielen Menschen auf einem Haufen. Ihre Energien spürte sie sowieso erst richtig deutlich, seit sie mit Helga vor einem Jahr begonnen hatte, neben der klassischen Meditation, dem inneren, geistigen Losslassen, die sie schon seit einigen Jahren praktizierte, auch den Aspekt der Lichtarbeit mit einzubringen. Na, vielleicht lag es aber auch einfach an ihrem Landleben und sie war einfach nichts mehr gewohnt. Wie auch immer, sie wurde empfindlicher, empfindsamer.

Doch jetzt musste sie erst einmal los, aufstehen in den neuen Tag. Klara hatte ein exzellentes Kraftfrühstück gezaubert, mit Rührei, Toast, Hirsemüsli und Obst. Sowohl ihre Mutter als auch Lukas waren bester Laune.

„Ihr beide seid ja gut drauf. Habt gestern wohl einen schönen Abend gehabt?“ bemerkte Marie.

Klara und Lukas grinsten sich fröhlich an.

„Das kann man wohl sagen,“ strahlte Maries Sohn und zwinkerte seiner Großmutter verschmitzt zu. Klara lächelte zurück.

„Ist das etwa ein Geheimnis?“ spielte Marie die Schnippische und tat ein wenig beleidigt.

„Nee,“ feixte Lukas. „Aber sooo schön…“ und drückte sich zärtlich über die Tischecke hinweg an seine Großmutter. Klara lächelte weiterhin glücklich in ihre Umgebung.

Was hatten sie beide, sie und ihr Sohn, nur gemacht, wie gelebt, bevor ihre Mutter zu ihnen gezogen war. Marie konnte sich kaum noch an eine Zeit ohne Klara erinnern.

„Los – gestehe!“ Marie war aufgestanden und drohte ihrem Sohn mit vorgestreckten Händen mit Durchkitzeln. Ihre rechte Hand schnellte vor und killerte neben Lukas´ rechter Achsel. Ihr Sohn kreischte erbarmungswürdig lachend und gickernd auf. Aber Marie kannte kein Erbarmen: „Gestehe deine Taten, du alter Seeräuber!“ und schon schnellte ihre linke Hand mit dem gleichen Ziel vor. Lukas gluckerte vor Lachen und rief endlich: „Erbarmen! Erbarmen! Ich will alles gestehen. So lasst denn mit der Folter nach, Kapitän.“

„Gut denn, berichtet mir, Schurke, was ihr gestern auf hoher See für Untaten getrieben habt!“

Lukas stand auf und lehnte sich an Maries Mutter an, fast so, als würde er ein wenig bei seiner Oma Schutz suchen. Er schaute Klara einmal kurz an und legte dann, zugleich getragen ernst und vor Aufregung fast atemlos sprechend los: „Ich bin ganz lange aufgeblieben gestern, weil, da kam doch der Film von der Kogge und der Hanse im Fernsehen. Auch aus Hamburg, da warst du doch gestern, nich? Ganz viele Schiffe und mit was die beladen worden sind und von wo nach wo die über die großen Meere gesegelt sind. Und wo überall Seeräuber die Koggen geentert haben, wie gefährlich das war. Und die Stürme, Wellen, dreimal und noch höher als die kleinen Schiffe…“

Lukas schaute verlegen zu Boden.

„Mmmmhhh,“ reagierte Marie. Sie hatte das Gefühl, dass noch etwas kam. Sie schaute ihren Sohn weiter erwartungsvoll freundlich an.

„Ja,“ setzte der kleine Seeräuber seine Geschichte zögernd fort. „Und weil ich doch das tolle Buch über die Windjammer von dir bekommen habe und weil Omi doch so schön vorlesen kann und weil wir doch grade Seeräuber waren, deshalb durfte ich dann auch noch zu Omi ins Bett und sie hat mir vorgelesen,“ sprudelte es nun aus dem Achtjährigen hervor. „Ich bin auch gar nicht müde heute morgen. Siehst du, Mama, meine Augen sind ganz groß,“ und stolz, strahlend und glücklich riss Lukas seine ostseewasserblauen – natürlich nur bei strahlend blauem Himmel – Augen auf.

Marie umarmte ihren Sohn. Sie liebte diesen zauberhaften Kerl über alles.

„Wenn Seeräuber so tolle Mathearbeiten schreiben, dann müssen sie natürlich auch wieder den nächsten Tag in See stechen. Das iss doch mann klar, meen Jong. Denn ihre Welt ist die See,“ stimmte Marie eine frisch erfundene Seemannsliedmelodie an und bald schunkelten und grölten die drei Johannssons wie betrunkene, glückliche Seemänner durch die Küche. Willi lief aufgeregt schwanzwedelnd von einem zum anderen und legte als tapferer Mitstreiter jedem seine Schnauze auf den Schoß. Schließlich setzte sich der große Hovawart mitten in die Küche und stimmte mit seinem typischen Mischmasch aus melodiösem Gebell und Wolfsgeheul in die Freibeuterei ein…

Die Seefahrt wurde jäh durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Marie sprang auf.

„Marie, endlich erreiche ich dich. Hier ist Helga. Ich versuche schon seit Tagen, dich zu erwischen. Du bist wohl an einem neuen Fall?“

„Moin, Helga,“ freute sich Marie. „Ja, ich bin ziehmlich beschäftigt. Aber ich würde dich sehr gerne sehen und sprechen.“

„Das trifft sich gut. Ich könnte nämlich heute in Rendsburg vorbeischauen und wollte dich fragen, ob wir vielleicht zusammen Mittagessen können.“

„Sehr, gerne, Helga. Lieber früher oder später?“

„So früh, wie du dich loseisen kannst. Am liebsten um halb zwölf oder zwölf. Ich möchte auch ein bißchen Zeit mit dir haben und ich muss spätestens um halb zwei wieder los. Ich habe ab nachmittags ein Seminar in Hamburg.“

Helga wohnte in Falshöft, einem kleinen und sehr abseits gelegenen Ort hoch oben auf einem kleinen in die Ostsee ragenden Landzipfel nahe der dänischen Grenze. Wenn Helga – was einige Male im Jahr vorkam – aus ihrer Perspektive in den Süden, etwa nach Hamburg musste, sah sie zu, bei ihrer alten und guten Freundin Marie vorbeizuschauen, um sie zwischen ihren regelmäßigen intensiven Telefonaten auch hin und wieder mal zu Gesicht zu bekommen.

„Ok, ich versuchs. Um halb zwölf beim Italiener oben am Alten Markt?“

„Gerne, Marie.“

„Aber sei nicht böse, wenn ich ein paar Minuten später komme. Ich tu was ich kann, aber der Fall nimmt immerzu unerwartete Wendungen und ist reichlich mysteriös.“

„Na, dann bist du doch die Richtige dafür,“ bemerkte Maries alte Freundin, die sie schon über 30 Jahre kannte.

Die beiden Mädchen waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen und hatten die gleichen Schulen besucht. Erst nach dem Abitur hatten sich die Wege der dicken Freundinnen getrennt. Helga war zum Studieren nach Freiburg gegangen, was beiden wie das andere Ende der Welt vorgekommen war. Und was hatte sie studiert? Religionswissenschaften. Helga wollte ihren eigenen spirituellen Erfahrungen auf den Grund gehen und sich mit den in ihr brennenden Fragen nach dem Dahinter auseinandersetzen, das war ihr Hauptmotivation.

Stundenlang hatten die beiden Freundinnen als Teenager in ihren von Räucherstäbchen eingenebelten Zimmern bei Roiboschtee gehockt und im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt philosophiert. Marie vertrat damals stets die rational-nüchterne Seite, die den Gottesgedanken als menschengemachte Illusion zwecks Halt in der Weite des so leeren und einsamen Universums sah. Helga hingegen glaubte fest an ein höheres Wesen, von dem alles Seiende ausging. Und beide Mädchen hatten das Problem, die Ungerechtigkeiten und Katastrophen dieser Welt zu ertragen, geschweige denn zu verstehen und in ihr aktuelles Weltbild zu integrieren. Von ihren so verschiedenen Standpunkten aus haderten beide mit Gott, mit dem Schicksal und letztlich ihrer altersgemäßen Selbstfindung – was ihnen naturgemäß aber erst sehr viel später klar wurde.

Während Helga sich den spirituellen Hintergründen zuwandte, bahnte sich Marie´s Gerechtigkeitssinn in ihrer kriminalistischen Laufbahn seinen Weg. Der tiefe Wunsch, mehr noch Drang, die Welt zu verstehen und zu verbessern, hatte beide Frauen niemals verlassen.

„Wenn du das meinst,“ antwortete Marie auf Helga´s Einschätzung.

„Ist das der unglaubliche Kinderfund in der Markthalle?“ fragte Helga.

„Ja-ja.“ Marie zog die vier Buchstaben in die Länge.

„Oh, das ist ja heftig. Pass auf dich auf, Große! Da sind sehr starke und dunkle Energien im Spiel.“

„Na, die sind wohl immer dabei, wenn jemand umgebracht wird,“ wiegelte Marie den Einwand ihrer spirituellen Freundin ab. Beiläufig streichelte sie Willi über seinen schönen Kopf, der sie mit seiner feuchten schwarzen Nase anstupste – eine Aufforderung, wieder mit ihm spazieren zu gehen.

„Das wird Klara gleich machen, Dicker,“ flüsterte sie zu dem Hund runter. Ich muss gleich weg.

„Sicher.“ Helga kannte Marie gut genug, um zu wissen, dass jetzt am Telefon jede weitere Diskussion sinnlos war. Sie würde nachher beim Mittagessen noch einmal versuchen darauf zurückzukommen. Marie neigte aus ihrer Sicht manchmal dazu, das Böse zu unterschätzen, das über die weltlichen Fakten von Mord und Totschlag deutlich hinausging.

„Wir sehen uns dann um halb zwölf im Casa,“ suchte Marie das vorzeitige Ende dieses Diskussionsansatzes.

„Ja, meine Liebe. Um halb zölf. Und ich warte auch auf dich. Wer oder was auch komme. Bis nachher.“

„Tschüss denn,“ verabschiedete sich auch Marie.

„Mama, ich muss los!“ drängelte der bereits geschniegelte und gespornte Lukas vor ihr, demonstrativ von einem Bein aufs andere zappelnd.

„Ich eile und ich fliege,“ reagierte Marie, rasch das Telefon auf die Station stellend. „Eine Minute, vielleicht zwei, für Clo und kämmen und los…“

Fünf Minuten später saßen Mutter und Sohn im Auto und trällerten vergnügt ihre Seemannslieder vor sich hin.

11

„Mochita, moin, moin.“

Ihre Sekretärin saß bereits höchst aktiv an ihrem Schreibtisch. Ihre Finger huschten über die Tastatur und zwischen ihrer rechten Schulter und ihrem rechten Ohr klemmte der Telefonhörer.

„Moin, Chefin,“ flüsterte sie mit freundlichem Lächeln nickend Marie zu. „Ich bin gleich fertig.“

„Ich koch uns schon einmal einen Kaffee.“

Die Mexikanerin nickte erneut in Maries Richtung. Die beiden Frauen liebten es, ihren gemeinsamen Tag mit einer Tasse erlesenem Biokaffee aus Mexiko zu beginnen. Carina Mochita hatte für dieses Ritual in ihrem Heimatland eine exquisite Quelle aufgetan. Marie hatte nie zuvor köstlicheren und zugleich auch noch bekömmlicheren Kaffee getrunken. In ihrem Büro erhitzte sie das Wasser im Kocher und brühte in der Presskanne zwei Tassen auf.

Dann kam Carena Mochita auch schon herein. Marie streckte der kleinen, rundlichen Person die gefüllte Kaffeetasse entgegen. „Schwarz – wie Säläh…“ dachte Marie auch nach all den Jahren noch immer und sprach den Spruch sogar bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten aus. Der Alltag war doch voller anheimelnder Rituale, die den Schein der Geborgenheit im materiellen Teil der Welten aufrecht erhielten. Eine schlichte Tasse mexikanischen Hochlandkaffees konnte tatsächlich dem Geist Halt in der Gegenwart geben. Zumindest ihrem, vielleicht auch Mochitas, wenn die Mexikanerin das überhaupt brauchte, sie wirkte immer so gesettled in ihrer Art.

„Und wie war gestern Ihre Fahrt nach Hamburg, Chefin. Sind Sie weiter gekommen?“ fragte Mochita.

„Oh ja, Mochita. Die Schriftzeichen auf der versteckten Botschaft sind afrikanisch. Meine Kollegin Gabi Schlieper ist unter anderem Afrika-Expertin und hat das ziemlich schnell herausgefunden. Dabei handelt es sich um eine Schrift-Symbolsprache, aus Ghana wohl, den Namen habe ich vergessen. Amikra – oder so.“

Marie holte einen weiteren Abzug des abfotografierten Zettels aus ihrer Schreibtischschublade.

„Die Zeichen bedeuten jeweils mehr als nur ein Wort. Und sie stehen teilweise wohl auch für spirituelle oder magische Zusammenhänge. Das dürfte Sie doch besonders interessieren?“

Die Mexikanerin nickte, ließ aber die von Marie erwartete Begeisterung vermissen.

„Ich sehe ja keine Begeisterung bei Ihnen. Sie sind doch sonst so erpicht auf magische Symbole und mystische Hieroglyphen!“

„Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser ganzen Angelegenheit. Den ganzen Fall begleitet ein sehr dunkler und tiefer Schatten, von Anfang an. Ich will mich da lieber nicht zu sehr mit beschäftigen. Ich pass lieber so gut ich kann auf Sie auf, Chefin,“ antwortete Mochita ungewohnt ernst.

Sie wusste, dass sie mit Marie nicht weiter über dieses Thema sprechen konnte. Zwar verließ sich ihre Chefin oft blind auf Mochitas Intuition, doch Marie´s Verstand lehnte immer noch in bestimmten Situationen spirituelle Zusammenhänge ab.

Auf Mochita wirkte Marie manchmal wie eine Janusköpfige: Marie konnte sogar bisweilen selbst hinter den Schleier schauen und bekam Dinge mit, die dem normalen menschlichen Verstand nicht weiter zugänglich, geschweige denn von ihm zu erklären waren. Dann wiederum war Marie Dingen und Ereignissen, deren Bestandteile sie nicht anfassen konnte, derart skeptisch und misstrauisch gegenüber, dass man meinen konnte, es stünden zwei verschiedene Menschen vor einem. Es war eine regelrechte innere Zerissenheit, die Mochita bei Marie beobachtete. Wobei Marie unter diesem Zustand nicht zu leiden schien, sie hätte ihn wahrscheinlich nicht einmal als zerrissen bezeichnet. Marie schien sich mit den Widersprüchen arrangiert zu haben und ließ diese beiden Welten einfach nebeneinander stehen. Je nach Bedarf tauchte sie mal mehr, mal weniger in die eine oder in die andere ein, nahm sich etwas aus der einen oder anderen, und nutzte deren jeweilige Stärken. Vor allem wenn es um dienstliche Angelegenheiten ging.

Aber dass ihr die konstante Verbindung zum Licht, der Glaube an Gott fehlte, machte Mochita häufig Kummer und Sorgen – so wie heute wieder. Meist hatte Marie keine Ahnung, in welch dunkle und teils böse Gefilde sie sich mit ihrer Verbrechersuche begab. Mochita sah dann dunkle Schatten um Marie herum auftauchen. Manche dieser dunklen Wesenheiten hatten sich regelrecht in Maries Aura festgekrallt. Mochita konnte sie mit ihrem dritten Auge sehr deutlich in der Aura ihrer Chefin sehen. Sie musste dann ein sehr stark wirkendes Reinigungsritual anwenden, um die dunklen Anhaftungen wieder von Marie zu lösen. Meist ließ sich Marie mit einer Mischung aus ungläubiger Überheblichkeit und diffusem Respekt, vor allem auch vor Mochitas spirituellem Zugang aufgrund der zahlreichen erstaunlichen Erfahrungen mit ihr, auf eine solche Prozedur ein. Und jedes Mal war Marie erneut erstaunt darüber, dass es ihr hinterher deutlich besser ging. Und dass, wo sie vorher oftmals gar nicht selbst gespürt hatte, dass etwas mit ihr los war. Mochita hatte – vielleicht wegen ihrer wertfreien und unaufdringlichen Art – einen Sonderstatus bei Marie. Sie genoss trotz Maries innerer Skepsis das vollste Vertrauen der Kommissarin.

Und so wunderte sich Mochtia nicht, als Marie salopp antwortete: „Tun Sie das. Ich weiß mich ja bei Ihnen in besten Händen.“

„Ich mach´s auch kurz,“ fuhr Marie fort. „Ein Zeichen symbolisiert Einheit und dass Konflikte vermieden werden sollen und das andere Zeichen, das Gabi so aus der Lameng entschlüsselt hat, ist ein Haus, das extra zum Schutz gegen stürmische Zeiten gebaut worden ist.“

Marie richtete ihren Blick auf ihre Sekretärin, die entgegen ihrer Gewohnheit gar nicht reagierte. Mochita schaute durch sie hindurch, sah wieder irgendwas, was niemand anderer sehen konnte. Ihrem Gesichtsausdruck nach schien Mochita jedoch nicht im geringsten angetan zu sein von dem, was ihr gerade gezeigt wurde – wie sie selbst immer sagte. Ihre Augen waren zwar abwesend glasig, aber in ihrer Mimik stand das blanke Entsetzen.

Marie durfte Mochita jetzt nicht ansprechen, das kannte sie schon. Sie musste zusehen, dass sie bei diesem Übertritt in die geistige Welt nicht von außen gestört würde, und dann käme sie auch schon bald zurück in die Gegenwart der „kriminalpolizeilichen Amtsstube“ – wie Mochita ihr Büro gerne nannte.

Einige Augenblicke später schloss Mochita mit einem sehr entfernt klingenden Seufzer die Augen und hielt sich ihre Hände vor ihre Stirn.

„Können sie bitte einmal das Fenster aufmachen, Chefin,“ brachte sie leise hervor. Marie öffnete die großen Fensterflügel und ließ die noch frische und unverbrauchte Morgenluft herein.

„Das wird Ihnen nicht gefallen, und mir gefällt das schon gar nicht,“ begann Mochita.

„Haben Sie wieder eine „Nachricht“ für mich bekommen?“ fragte Marie zugleich neugierig und ungläubig.

„Ja, ich weiß aber gar nicht, ob ich sie Ihnen tatsächlich sagen soll!“

„Na – Sie können mich ja nicht anspitzen und dann im Regen stehen lassen.“

„Gut, wenn Sie es unbedingt wollen. Es geht darum, gezielt nach dem Dunklen zu schauen. Die Lösung des Mordfalls erfolgt über das Dunkle, das sich hinter dem Hellen verbirgt. Und zwar dort, wo Sie es überhaupt nicht erwarten. Und die anderen auch nicht.“

„Mmmh,“ erwiderte Marie.

„Hinter das Scheinbare schauen, darum geht es,“ ergänzte Mochita.

„Das sagt mir erst einmal gar nichts, Mochita,“ antwortete Marie nachdenklich.

„Mir auch nicht, Chefin, erst mal nichts. Aber wir haben es jetzt beide gehört und dieser Gedanke wird uns, Ihnen vor allem, schon bei passender Gelegenheit wieder einfallen und dann hilfreich sein. Mir macht eher Sorge, dass Sie so ins Dunkle geschickt werden, Chefin. Sie kennen sich doch viel zu wenig damit aus!“

„Ich habe nun schon wirklich reichlich genug mit Verbrechern und den dunkeln Seiten der Menschen zu tun gehabt, Mochita, keine Sorge. Ich pass auf mich auf.“ versuchte Marie Mochitas Bedenken abzuwiegeln.

„Chefin,“ entrüstete sich Mochita ehrlich besorgt. „Sie wissen genau, wie ich das meine…“

In die kurze Stille zwischen den beiden Frauen trat Herr Dr. Möller ein.

„Guten Morgen, Frau Mochita, guten Morgen, Frau Johannsson. Ich hoffe, ich störe die Damen nicht?“ begrüßte der Gerichtsmediziner die beiden nicht ganz uncharmant. Wilfried Möller wohnte wie Marie außerhalb auf dem Lande, in Bovenau. Da es für ihn nur ein kleiner Umweg auf seinem Weg zur Arbeit war, war es nicht ungewöhnlich, dass er beim Rendsburger Kriminalkommissariat persönlich vorschaute, besonders, wenn er großes Interesse an dem aktuellen Fall hatte. Und das war bei diesem grausigen Kindermord eindeutig der Fall.

„Ich wollte nur hören, Frau Johannsson, ob Hamburg neue Erkenntnisse gebracht hat. Ich habe von Frau Mochita gestern gehört, dass sie bei unseren Kollegen in der Hansestadt waren.“

„Moin, Dr. Möller. Wir haben tatsächlich inzwischen einiges zusammengetragen. Ich fasse Ihnen das gleich einmal zusammen, aber vorher muss ich mir noch einen Tee machen. Möchten Sie auch einen?“

„Ich mach das schon,“ übernahm Mochita.

„Danke sehr,“ antwortete Marie und sah mit einem nickenden Augenaufschlag zu ihrer Sekretärin hinüber, der sie wegen des zuvor Thematisierten beruhigen sollte. Es gelang nur bedingt.

Du weißt nicht im mindesten, worauf du dich einlässt – schoss es Mochita durch den Kopf. Sie schaute weiterhin ernst zu Marie zurück.

Dass sie jetzt erst einmal etwas mit den Händen machen konnte, bracht Mochita – Gott sei dank im wörtlichsten Sinne – aus ihrem sorgenvollen Grübeln um das Wohlergehen ihrer Chefin heraus. Es lag doch sowie nicht in ihrer Hand – aber der Tee jetzt für die beiden. Die Johannsson würde da schon heil durchkommen. Sie würde selbst, so gut sie konnte, ein Auge auf ihre Chefin werfen und beten half doch auch meist. Was passieren sollte, würde sowieso passieren.

Marie fasste für Dr. Möller alle ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammen, vom Albinohaar an der Balyleiche über die Holzpuppe und den Bastwedel mit den magischen afrikanischen Symbolen vom Fundort bis hin zum geplanten DNA-Screening im Hafengebiet, um den Besitzer des Fundhaares ausfindig zu machen.

Dr. Möller wurde immer nachdenklicher.

„Albino. Da wäre ich ja niemals drauf gekommen. Die helle Haut, keine Muttermale, grünbraune Augen. Es hat keine Kopfhaare. Auf Körperhaare habe ich nicht explizit geachtet…“ Dr. Möller dachte vor sich hin murmelnd nach und schien durch Marie´s Informationen plötzlich in eine eigene Gedankenwelt entrückt.

„Und Afrika…“ Dr. Möller stand gedankenversunken auf und ging, noch seine Teetasse in der Hand, zur Tür. Ohne ein weiteres Wort öffnete er sie und schloss sie wieder hinter sich.

Marie schaute ihm verdutzt nach. Dieser Fall schien tatsächlich alle Beteiligten auf sehr eigentümliche Weise zu berühren. Es kam Marie vor, als verschwänden alle Beteiligten häufiger Mal für Augenblicke oder Minuten in anderen Sphären, als würde ihr Geist irgenwohin gezogen.

Jetzt fing sie schon an wie Mochita. Marie stutzte sich innerlich zurecht. Ich muss mich auf meinen Verstand konzentrieren. Und zwar gerade, weil hier in diesem Fall alles bislang so kunfus wirkt, überhaupt noch kein Zusammenhang sichtbar ist.

Ihre Bürotür ging wieder auf und Dr. Möller kam erneut herein.

„Entschuldigen Sie, Frau Johannsson. Ich war ganz in meinen Gedanken versunken. Ich habe da eine Idee. Warten Sie auf jeden Fall mit dem Albino-Screening im Hamburger Hafen noch einen Tag, vielleicht auch zwei. Ich brauche etwas Zeit, um meinen Gedanken zu überprüfen. Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, wenn ich etwas weiß. Ist vielleicht eine Schnapsidee, aber ich will ganz sicher gehen…“

Dr. Möller stellte die halbleere Teetasse auf Maries Schreibtisch ab und schloss ein weiteres Mal die Tür hinter sich.

Nun war Marie unerwartet schnell wieder allein in ihrem Büro. Der Tag fing ja seltsam an. Alle ließen sie gedankenverloren zurück.

Marie goss sich einen weiteren Tee aus der Thermoskanne ein und fingerte in ihre Ablage für Post und hausinterne Infos, die Mochita immer auf den neuesten Stand brachte.

Von ihr selbst lag ein Zur-Kenntnisnahme-Zettel drin: Auch bein Interpol ist kein Säugling vermisst, auf den unsere Beschreibung passt. Auf einem weiteren stand: Bitte bei Dr. Möller melden, hat schon drei Mal angerufen. Das hatte sich inzwischen erledigt. Die Post hatte lediglich ein Seminarangebot in Hamburg vorbeigebracht: „Profiler – Neue Psychologie von Sexualstraftätern“.

Ausgerechnet. Niemals. Das war doch der Grund für den ganzen Knatsch mit Martin gewesen. Dieses Profiler-Seminar und dieser Ludger hatten doch alles kaputt gemacht. Na gut, sie war nicht ganz unbeteiligt an diesem ganzen Schlamassel – aber trotzdem. Kein Profiler-Seminar mehr! Marie zerknüllte das Anschreiben und warf es mit einer eleganten Ausholbewegung in ihren Papierkorb.

Ihr Diensttelefon klingelte.

„Guten Morgen, Marie,“ tönte es ihr gutgelaunt aus dem Hörer entgegen. Es war Robert Leicht, ihr Hamburger Kollege.

„Guten Morgen, Robert. Das ist sehr gut, dass du anrufst. Ich hoffe, du hast noch nichts wegen des DNA-Screenings in die Wege geleitet?“

„Nein, deswegen rufe ich ja an, Marie. Das gestaltet sich noch schwieriger als erwartet. Für die Aktion brauchen wir einen obersten richterlichen Beschluss, und das kann dauern. Ehe wir überhaupt ein OK bekommen, werden wohl noch einige Tage ins Land gehen.“

„Das ist sehr gut,“ überraschte Marie ihren Kollegen. „Unser Doc hat nämlich heute noch eine Idee bekommen und mich gebeten, das Screening erst einmal auszusetzen, bis er der nachgegangen ist.“

„Weißt du, worum es geht?“

„Nein, er wird erst Mal für sich rumpuzzeln. Ich hatte ihm unsere bisherigen Ergebnisse zusammengetragen und da funkte es in ihm. Ich bin gespannt. Dr. Möller wollte sich heute, spätestens morgen bei mir melden. Ich gebe euch gleich Bescheid, wenn ich was weiß.“

Und nach einer kleinen Pause: „Der Tag mit euch gestern hat mir richtig gut getan. Und das Essen war einfach formidabel. Ich liebe es. Also einen ganz dicken Dank für den Perser, das Essen war sehr köstlich und das Ambiente war auch sehr angenehm.“

„Gerne doch, Marie. Ich weiß doch, wie gerne du exotisch essen gehst. Vor allem seid du jetzt so ländlich-sittlich wohnst. Apropos: Mich über die Hintergründe deiner traurig-melancholischen Grundbelegung aufzuklären, hast du ja geschickt umgangen…“

„Ja, das kann ich gut, Robert, nich? Nun muss ich auch schon wieder los. Ich bin nämlich heute schon wieder zum Essen verabredet, nur schlicht beim kleinstädtischen Italiener. Nichts Spektakuläres. Aber immerhin gibts da noch eine echte traditionelle italienische Pizza. Also, bleib du dran an der Genehmigung und ich an meinem Doc. Ich melde mich, sobald ich was weiß. Tschüs, Robert.“

„Dir auch einen guten Tag, Marie,“ staunte Robert, dem Maries Gefühlshaushalt schon wieder entwischt war. Auch auf diesem Gebiet war Robert ein zutiefst ordentliches Naturell.

Marie traf um zwanzig vor zwölf beim Italiener ein. Helga sprang freudig auf, als sie ihre alte Freundin durch die Tür kommen sah und die beiden Frauen fielen sich herzend in die Arme.

„Schön, dass du dich so schnell loseisen konntest, Marie. Ich freue mich so, dich wiederzusehen.“

„Ich mich auch, Helga. Wie lange ist das schon wieder her. Drei oder vier Monate? Die Zeit rast manchmal ganz schön, dass man kaum hinterher kommt.“

„Ja, so in etwa. Da hat sogar hier oben Schnee gelegen. Ich kann mich noch genau erinnern. Über den Puderzuckerstreu kommt das winterliche Weiß hier oben zwischen den Meeren ja eher selten hinaus. Aber erzähl, Marie. Was gibt’s Neues? Wie geht es dir?“

„Martin und ich haben uns getrennt,“ mit Helga konnte Marie über alles reden, wirklich über alles, und so unzensiert wie mit niemandem sonst. Und zwar gleich in medias res.

„Oh!“ entfuhr es Helga erstaunt.

„Das heißt, eigentlich habe ich mich von ihm getrennt. Ich habe ihn rausgeschmissen. Aber eigentlich er sich auch von mir, denn er ist sofort gegangen. Ohne sich umzudrehen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr sie mit aufsteigenden Tränen in der Stimme fort: „Helga, ich hab Scheiß gemacht.“

Sie stockte. Helga konnte sehr gut zuhören. Sie hörte, hatte die Ohren auf und konnte ihren Mund dabei gut zuhalten, musste nicht – wie die meisten anderen Menschen – gleich jeden Gedanken kommentieren, bewerten oder mit eigenem ergänzen. Helga als Freundin zu haben empfand Marie als ein großes Geschenk.

„Du kennst das doch, auf Seminaren. Da geht’s recht locker zu, man trifft sich abends nachdem der ganze Tag angefüllt war mit geistigen Ergüssen und Anstrengungen. Und schnell verlangt der Körper seinen Teil, will auch gespürt, erlebt werden. Man sieht sich ja nur die ein, zwei, drei Tage und danach nie wieder. Warum soll man sich dann nicht ein wenig Sex und Vergnügen gönnen. Sind ja alles erwachsene Menschen. Denkste. Die Türen hat mir dieser Ludger eingerannt und meine Beziehung dazu. Martin hat das natürlich irgendwann mitbekommen. Er war zutiefst verletzt. Und ich wollte, ich konnte nicht so richtig kleinbeigeben. Freiheit und Unabhängigkeit und all dieses Zeugs. Du weißt doch. Ich bin Löwin, bin treu und frei. Ich konnte mir selbst kaum zuhören und trotzdem kam ich nicht raus aus dem Film. Wir haben uns nur noch gestritten, grausig. Das solche Abgründe in mir sind, hat mich doch sehr erschrocken. Und tut es immer noch.“

Marie sah ihrer Freundin in die Augen. Helga hörte immer noch zu und sie verstand.

„Ich habe alles kaputt gemacht. Dabei habe ich mich mit noch niemandem so wohl, so zuhause gefühlt, wie mit Martin. Wir wollten zusammen alt werden. Und auch Lukas hat sich so prächtig mit ihm verstanden. Ich bin so eine unvorstellbare Idiotin, es ist einfach nicht zu fassen.“

Und nun bahnten sich all die angestauten Tränen endlich ihren Weg. Helga rückte neben ihre Freundin auf die Bank und drückte sanft Maries nassen Kopf an ihre Schulter.

„Ach Du.“ Mehr sagte Helga nicht. Und mehr brauchte Marie nicht, um sich nun endlich ganz in ihre Traurigkeit und ihren Schmerz fallen lassen zu können. Helga, die zwar nur etwas kleiner, aber sehr viel zarter als Marie war, hielt ihre Freundin sanft fest und streichelte ihr hin und wieder über den Kopf. Die einzigen anderen Gäste im Lokal, ein älteres Ehepaar, schauten sich zwar mitleidvoll nach den beiden Frauen um, aber das war Helga egal, und Marie sowieso, die nun angebuckt an Helgas Schulter immer stiller werdend vor sich hin schluchzte.

Nachdem Marie den meisten Kummer endlich nach all den quälend durchgehaltenen Tagen rausgelassen hatte, kramte sie sich ein Tempotaschentuch aus ihrer Jeans, schnäuzte sich einmal kräftig und wischte sich dabei wie beiläufig ihre restlichen Tränen aus ihren Augenwinkeln. Sie ruckelte ihren Körper zurecht und setzte sich wieder einigermaßen aufrecht hin. Helga ging zurück auf ihren Platz, nahm aber hier von der gegenüberliegenden Seite des Tisches Maries linke Hand in ihre beiden Hände.

„Und was willst du nun tun?“ war ihre einfache fragende Reaktion auf Maries Zusammenbruch.

„Ich will Martin zurückhaben. Aber ich weiß nicht wie. Nicht im geringsten.“

„Hast du ihm das alles schon gezeigt und gesagt, was du mir jetzt gezeigt hast?“

„Nein, natürlich nicht! Wir haben uns bloß gestritten. Und das war nun nicht von schlechten Eltern, was Martin dabei alles vom Stapel gelassen hat.“

„Na, von schlechten Eltern warst du bei der ganzen Angelegenheit aber auch nicht. Beim Streiten mögt ihr euch nichts geschenkt haben, aber ausgelöst hast du doch wohl das ganze Problem. Sehe ich das richtig?“
„Ja, ja, du hast ja recht. Trotzdem weiß ich nicht, was ich machen soll.“

„Geh in aller Ruhe und Klarheit zu Martin und zeige ihm deinen Kummer und dein Bedauern vor, so wie du es mir gezeigt hast. Und lass deinen Stolz weg dabei. Und dann lass ihm Zeit und warte ab, wie er reagiert. Ihr liebt euch doch, ihr beide. Ihr passt doch so gut zusammen. Kein anderer Mann hat dir je so gut getan wie Martin. Und du weißt, ich kenne einiges von deinen Männern. Das ist doch nicht mit einem Mal so mir nichts dir nichts vorbei. Nur weil du einmal einen Fehler gemacht hast. Lass deinen Stolz weg und dann kriegt ihr zwei das auch wieder hin. Da bin ich ganz zuversichtlich.“

Die schon vor einiger Zeit servierte Pizza war in der Zwischenzeit kalt geworden. Marie stocherte lustlos zwischen den aufgelegten Rucula-Blättern herum.

„Gib her, Marie!“ Helga wurde aktiv. „Ich bringe die grad nach vorne und frage, ob sie die noch einmal in den Ofen schieben können. Ist ja nicht so viel los, das wird schon gehen.“

Kaum dass die wiedererwärmten Pizzen auf dem Tisch zwischen den beiden Frauen standen, ertönten Maries Salsarhythmen in ihrer Hosentasche. Sie fingerte ihr Handy heraus.

„Das ist Martin!“ entsetzte sich Marie mit unsicherer Erleicherung.

„Willst du nicht rangehen?“ fragte Helga. „Das ist doch mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl!“

„Ich kann nicht.“

„Doch, du kannst.“

„Ich trau mich nicht.“

„Mmmhh!“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Dass du ihn vermisst!“ Helga blieb hartnäckig.

Marie gab sich einen Ruck. „Johannsson. Hallo Martin.“

„Hallo Marie.“ Und nach einem kurzen Moment schwersten Schweigens setzte Martin nach: „Wie geht es dir?“

„Können wir uns sehen, Martin? Wir müssen reden!“

„Ja gerne.“

„Hast du heute noch Zeit?“

„Ja.“

„Heute abend? Im Paps Corner?“ fragte Marie.

„Ja gerne.“

„Gegen acht Uhr. Ich das recht?“

„Ja.“

Schweigen.

„Ich hab dich vermisst!“

„Ja. Ich dich auch.“

„Bis heute Abend dann.“

„Ja, bis heute Abend,“ verabschiedete sich Martin.

„Was für ein Mann,“ seufzte Helga. „Da kann man ja neidisch werden. Der baut dir ja alle erdenklichen Brücken. Der liebt dich wirklich und von ganzem Herzen.“

„Ja,“ jetzt war Marie kleinlaut. „Und ich ihn ja auch.“ Zwei Tränen kullerten aus Maries rechtem Auge. „Und das ist ja das Schöne.“

„Also gib dir noch einen Ruck, lass deinen Stolz weg und dann wird das wieder. Entschuldige dich aufrichtig bei Martin, bring ihm vielleicht Blumen mit oder was er sonst mag und sei nett. Einfach nett und sanft und gut iss! Du wirst sehen!“

„Ja, du wirst wohl wieder mal recht haben, liebste gute alte Freundin. Danke.“

Marie wusste, dass Helga wusste, was dieser Satz für eine Löwin wie sie bedeutete. Sie konnte so unglaublich rechthaberisch sein. Dann stand Marie manchmal neben sich und konnte sich nur noch fassungslos über sich selbst wundern. So was ähnliches musste bei Martin passiert sein. Worum die Streitereien zwischen ihnen in den letztenWochen gegangen waren wusste sie beim besten Willen nicht mehr. Aber eins war Marie klar: Sie war so unerbittlich und so unnachgiebig gewesen, wollte partout nicht einlenken, als würde das Äußern eines Bedauerns sie erniedrigen. Sie war da manchmal so unverständlich seltsam. So stolz wie eine Löwin und zugleich so verletzlich wie ihre eigene Beute. Selbst wenn es Marie gelang, sich in solch brenzligen Situationen neben sich selbst zu stellen – sie kam aus diesem Film manchmal nicht mehr raus. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, warum das so war, obwohl sie sich schon reichlich mit ihrer Psyche beschäftigt hatte: Psychotherapie und Bioenergetik.

Marie atmete tief durch: „Komm, und eh die Pizza nun wieder kalt wird, langen wir aber richtig zu. Die schmeckt nämlich sehr gut hier.“

Marie begann, das große, bunt belegte Teigrad in handliche Achtel zu teilen.

„Nun musst du aber auch von dir erzählen! Das geht ja nun die ganze Zeit nur um mich. Wie geht es dir?“

Die beiden Freundinnen saßen noch eine Stunde, nun deutlich entspannter und beinahe schon gemütlich, beisammen und erzählten sich – Cappuchino um Cappuchino – was sie gerade beschäftigte.

12

Der Nachmittag verging zunächst mit Arbeitsroutine. Die ersten Berichte zum Fall wollten geschrieben werden. – nicht gerade die große Leidenschaft der Rendsburger Kriminalhauptkommissarin. Zwischendurch kam Mochita herein, um sich zu vergewissern, dass Marie die wichtige Info auch erhalten hatte, dass auch über Interpol kein Baby als vermisst würde, auf das ihre Beschreibung passte.

Insgeheim schielte Marie aber Stunde um Stunde immer wieder aufs Telefon, weil es sie drängte, zu erfahren, welcher Idee aus seiner Hinterhand Dr. Möller noch nachging.

Marie musste sich lange gedulden. Mochita war schon nach Hause gegangen. Marie hatte mit Klara und mit Lukas telefoniert, um Bescheid zu sagen, dass sie heute später nach Hause kommen würde. Es lohnte sich nicht, nach Dienstschluss nach Hause zu fahren, um dann um Acht schon wieder in Rendsburg zu sein. Nach Sande, wo ihr kleiner Hof lag, brauchte sie gut 35 Minuten. Das war der Preis fürs draußen wohnen.

Marie erzählte nur Klara, dass sie sich mit Martin treffen würde, was ihre Mutter mit großer Erleichterung quittierte. Sie mochte den hoch aufgeschossenen Rotschopf sehr gerne und konnte dieses ganze Theater gar nicht verstehen. Vor allem verstand sie ihre Tochter nicht: Bei einem solchen Prachtkerl im Bett fremdgehen! Was sie da nur geritten hatte, eine solche Beziehung so leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Lukas war stinksauer und reagierte nur wortkarg mit einem knappen „tschüs“. Sie hatte doch versprochen, heute abend früher nach Hause zu kommen. Er legte wütend auf und verzog sich dann den Abend in sein Zimmer, um an seinem Buddelschiff zu arbeiten, wie Marie später von ihrer Mutter erfuhr. Marie versprach es ihrem Sohn nicht laut, um ihn im Zweifel nicht wieder zu enttäuschen – ihr Job war nun mal sehr unstet. Aber innerlich machte sie sich verbindlich, dass sie alles dransetzen würde, morgen Abend zeitig zu Hause zu sein.

Also alles in allem ein sich dahinziehender Nachmittag, zu dem in Marie in unregelmäßigen Abständen ein Herzklopfen aufbrandete, das sie schon länger nicht mehr gespürt hatte. Sie war völlig aufgeregt wegen der Begegnung heute Abend mit Martin. Hoffentlich fielen ihr die richtigen Worte ein. Es war tiefste Sehnsucht, die da in ihrem Herzen züngelte und brannte. Es wurde ihr in den Stunden am Schreibtisch immer mehr zur Gewissheit: Sie liebte diesen Mann von ganzem Herzen. Und sie würde alles dransetzen, ihn zurückzugewinnen.

Gerade in einem solch sehnsuchtsvollen Moment klingelte das Telefon.

„Frau Johannsson, hier Möller.“

„Endlich,“ entfuhr es Marie. Aber da sie gerade auf sehr sanft gebürstet war, erklärte sie sich: „Moin, Dr. Möller. Mit „endlich“ meine ich nur, dass ich schon so gespannt auf ihre Idee bin. Ich wollte Sie nicht bedrängen.“

„Sie bedrängen mich keineswegs, Frau Johannsson. Ich kann Sie sehr gut verstehen. In solch einem mysteriösen Fall…“

„Der Kleine wird übrigens nirgends vermisst. Die Anfrage bei Interpol war auch negativ,“ warf Marie ein, die in nun in vielerlei Hinsicht mehr als aufgeregt war. Wenn das der Fall war, neigte sie dazu, mehr als gewöhnlich zu reden.

„Ja, das passt, das wundert mich nun nicht mehr so sehr,“ antwortete Dr. Möller ruhig.

„Sehen Sie, Frau Johannsson,“ begann er mit ansteigendem Enthusiasmus, „das Albinohaar, das Herr Störmer…“

„Storm.“

„…das Herr Storm am Fundort entdeckt hat, ist der Schlüssel zur Identifizierung unseres Opfers. Weil wir an dem Kleinen keine hellblonden Haare gesehen haben, ist niemand auch nur auf die Idee gekommen, dieses Haar könnte seines sein. Ich habe mir daraufhin den kleinen Leichnam noch einmal in bezug auf seinen Haarwuchs genauer angesehen. Und – stellen Sie sich vor: der Schädel des Kleinen ist rasiert worden. Und auch an einigen anderen Körperstellen hat man recht gründlich den Babyflaum entfernt. Wenn man nicht danach sucht, so wie wir es zunächst getan haben, geht man davon aus, dass dieses Baby noch keine Haare hat. Das ist nicht so ungewöhnlich. Aber dieser Junge hatte welche, und man wollte wohl, das sie niemand entdeckt, weil sie etwas besonderes sind und bei seiner Identifizierung sehr hilfreich sind. Ich habe natürlich doch ein paar sehr feine Haare gefunden und sie enthalten – dreimal dürfen sie raten…?“

„…keine Farbstoffe. Ja sicher: Der Kleine ist der Albino. Deshalb ist er so extrem bleich und sieht aus wie aus Porzellan.“ Marie fasste sich an ihren Kopf.

„Ich habe schon mit Herrn Storm gesprochen. Per Eilbote ist eine Haarpobe des Kleinen bereits zu ihm unterwegs. Er wird einen Vergleich der beiden Haare vornehmen. Da ich ihm nun auch eine Haarwurzel mitschicken kann, kann er den Albinotyp genetisch eingrenzen und vielleicht noch eine weitere Idee von mir überprüfen.“

„Die da wäre…?“ Marie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Sie haben bei den Indizien Afrika ins Spiel gebracht. Und von der Hauttönung her – ist nur so eine Schnapsidee…“

„…die letzte hat sich ja schon mal als Volltreffer herausgestellt…“

„Ja, sicher. Aber trotzdem, das ist nun lediglich eine sehr gewagte Mutmaßung. Es könnte sich nämlich auch um ein schwarzes Albino handeln.“

„Das geht mir jetzt zu weit. Ich kann Ihnen grad nicht mehr folgen.“

„Ja, es ist im Grunde ganz einfach, aber für uns hier sehr ungewöhnlich, weil ungewohnt. Auch dunkelhäutige Menschen können natürlich Kinder mit genetischen Defekten hervorbringen, die für eine Hypopigmentierung stehen. Um es klar zu sagen: Zwei schwarzhäutige Eltern können ein völlig pigmentloses Kind zur Welt bringen. In Afrika ist dies übrigens nicht so selten. Ich habe nachgeschlagen: In Afrika kommen Albinos doppelt so häufig vor wie im Rest der Welt.“

„Ach!“ Und Mochitas Worte schossen Marie durch den Kopf: Das Helle hinter dem Dunkel, nein, anderes herum war es doch – das Dunkle, das sich hinter dem Hellen verbirgt. Und es ist nicht so wie es scheint. Es ist nichts so, wie es scheint.

„Das ist noch keineswegs dingfest,“ schob Dr. Möller ein. „Wir müssen erst testen, was der genetische Hintergrund des Kleinen ist. Das ist alles noch nicht spruchreif. Außer dass der kleine Leichnam ein Albino ist, wissen wir bislang nichts.“

„Aber Sinn würde es machen. Auch diese afrikanischen Utensilien, die wir an seinem Fundort gefunden haben.“ Und die afrikanische Musik, und auch den Traum, der sie vorgestern in Schweiß gebracht hatte … aber das sprach Marie nicht an. Doch in Marie´s Kopf fügten sich die Bruchstücke zu einem immer klarer werdenden Bild zusammen: Afrikanische Schutzsymbole die dem toten Kind mit auf seinen letzten Weg gegeben worden waren. Sie würden noch herausbekommen, was die im einzelnen zu bedeuten hatten. Mochitas Andeutungen. Und hatte nicht auch Lukas auf seine unbedarft-hellsichtige Art von einer schwarzen Puppe, einem schwarzen Baby gesprochen, bevor sie zum Fundort der Leiche gefahren war. Und nicht zuletzt ihr Traum von schwarzhäutigen Menschen und einem Schamanen bei einem unheimlichen Zauberritual.

„Es gäbe dann möglicherweise noch einen sehr unappettilichen Ausblick, wenn dies alles zutreffen würde,“ unterbrach Dr. Möller Maries Gedanken.

Ganz diffus in ihrem Hinterkopf spürte oder ahnte Marie, dass jetzt ein unvorstellbar grausiger Gedankengang auf sie zukam. Wie eine dicke Dampfwolke zog eine seltsame Schwere durch ihren Kopf. Das war meist das Anzeichen dafür, dass etwas vollkommen Neues, etwas nie zuvor auch nur Angedachtes in ihr Leben oder zumindest in ihre Gedanken eintrat. Als würden in ihrem Gehirn nun Synapsen neu verdrahtet, neue Nervenverbindungen geknüpft. Gleichzeitig lief ihr ein Schauer den Rücken runter und ihre pigmenthaltige Körperbehaarung richtete sich auf.

„Die Finger, die dem Kleinen fehlen. Die so fein säuberlich abgetrennt wurden.“

„Oh Gott!“ stieß Marie sehr leise aus.

„Die könnten was mit seinem Albino-Sein zu tun haben.“

Oh Gott – nein! dachte Marie jetzt nur noch.

„In Tansania gelten Albinos als Glücksbringer, auch Körperteile von ihnen.“

„Nein!“ entsetzte sich Marie dennoch gegen ihren Willen.

„Das ist ein Aberglaube, der in Tansania und Simbabwe sogar erst in jüngster Zeit entstanden ist. So genannte „witch doctors“ töten Albinos, die unter den Schwarzafrikanern natürlich keinerlei Chance haben, unerkannt zu bleiben. Die verfolgen und töten sie, um aus ihren Körperteilen Zaubermittel herzustellen, die zu Glück und zu Reichtum verhelfen sollen.“ erklärte Dr. Möller sehr leise. Er war selbst sehr betroffen von dem, was er sagte, was er sein Kollegin berichten musste.

„Das kann doch nicht wahr sein.“ Marie war verstört.

„Ich musste es auch zweimal lesen, weil ich es nicht fassen konnte. Doch. Das findet statt. Menschen tun so etwas. Wir in unserem Beruf müssen ja immer wieder sehen, dass Menschen alles tun können und auch tun, was man sich vorstellen oder auch nicht vorstellen kann.“

„Das ist wohl wahr,“ antwortete Marie schwer. „Triebfeder von solch Unfassbarem ist meist Gier. Hier ja auch. Um Reichtum zu erlangen, als Glücksbringer quasi, die eigenen Landleute zu zerstückeln!“

Marie begann, in ein Gefühl der Wut zu gehen, um das eben Gehörte, das Unvorstellbare, die Grausamkeit und Gefühlsleere dahinter auszuhalten. Um dem fehlenden Mitgefühl eine Mauer aus Gefühlen entgegenzustellen. Innerlich entrüstete sie sich über Menschen, die wegen Geld zu solch menschenverachtenden Machenschaften fähig waren. Und selbst wenn es nur um das eigene Überleben ging. Innerlich schrie sie dem soeben Erfahrenen ein nicht endendes „Nein!“ entgegen. Als könnte sie damit irgendetwas ungeschehen machen.

Mit ihrem Verstand stoppte Marie ihr inneres Brüllen und sagte zu Dr. Möller: „Das muss ich erst einmal verdauen, Doktor.“ – Pause. „Was Menschen Menschen antun können…!“

„Ja, ich stehe auch ziemlich fassungslos daneben.“

Abgründe sind meine Gründe – wie ein Lullaby tauchte die Heller´sche Liedzeile in Maries Kopf auf und wiegte seine Schwere ein wenig hin und her.

Diesen Fall würde sie lösen, diesem Mystrium würde sie bis auf das letzte weiße Haar auf die Spur kommen – entbrannte in Marie daraufhin ihr löweneigener und berufsprofessioneller Kampfgeist.

„Ich muss jetzt erst einmal Schluss machen, Dr. Möller. Ich muss an die frische Luft. Sie geben mir Bescheid, wenn Sie Gewissheit haben? Und danke für alles. Danke für Ihr Engagement!“ Marie drängte es tatsächlich raus aus ihrem Schreibtischstuhl. Sie musste sich bewegen.

„Ja, sicher, Frau Johannsson. Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, wenn ich etwas Neues hab. Ist sonst alles OK?“

„Ja-ja,“ beschwichtigte Marie.

„Ist harter Toback, ich weiß. Gut. Dann erst mal auf wiederhörn, Frau Johannsson.“ reagierte Dr. Möller vorsichtig.

„Ja, tschüs dann, Dr. Möller. Bis – ja, wann denken Sie, wissen Sie Bescheid?“ fragte die Kriminalhauptkommissarin, äußerlich zurück in ihrer Rolle.

„Ich denke, ich hoffe, dass wir noch diese Woche was hören werden. Die DNA-Tests sind ja inzwischen Routine.“

„OK. Bis dann,“ verabschiedete Marie Dr. Möller und legte auf.

13

Trommelschläge und Affenschreien zerreißen die heiße dunkle Luft. Mit Grau bemalte Schwarze werfen ihren glänzenden Oberkörper mit jedem Aufschrei der Nacht vor und zurück, winden sich dann wieder im Takt der Rhythmen wie Schlangen umeinander herum. Schmerzverzerrte Gesichter. Leere Augen. Aufstöhnen unter dem aufbrausenden Trommelwirbel. Grünliches Aufleuchten im Apfelweiß der hervorquellenden Augen. Die abgeschwitzte Luft wird immer dicker, verändert ihren Geruch. Bittere Galle. Säure. Schwefel. Die Nacht erhellt sich wie unter einem grellgrünen Vollmond.

Ein graugrün leuchtendes Bündel wird in die Mitte gebracht. Ekstatische Trommelwirbel ersticken sein leises Weinen.

Ein kleiner Mann, bis zur Unkenntlichkeit mit Tierhaar und Federn geschmückt, tritt zu dem regungslosen Bündel. Lautlos und geschickt wie ein Puma umkreist er es. Herzzerreißende Töne verlassen seinen sich im Takt hin und her wiegenden Körper. Aus seinem Gürtel zieht er einen angspitzten langen Holzstab hervor und rammt ihn beim nächsten Trommelwirbel mit aller Wucht in den Boden hinein. Nun umtanzt er den in der Erde steckenden Holzstab. Er bewegt ihn in immer größer werdenen Bögen um seine eigene Mitte, dreht und dreht seine Runden um den Stab. Er zieht Kreise mit ihm, immer weitere Kreise. Und so legt er unter Schreien und schrillem Gesang einen Trichter im Boden frei. Immer wieder greift er eine Hand voll gelockerte Erde und wirft sie unter Zuckungen mit einem Aufschrei über seine Schultern hinter sich. Die übrigen Menschen haben inzwischen einen Kreis um ihn gebildet und begleiten jeden Erdwurf mit einem choralen Aufstöhnen. Die schwere Luft wabert von Schreien und Ächzen und Stöhnen. Die Trommeln sind trotz ihrer immensen Lautstärke in den Hintergrund gerückt. Die menschlichen Laute verschmelzen langsam zu einem einzigen Schrei, einem Stöhnen, einem Schmerz.

Als der irdene Trichter groß genug ist, zieht der kleine Mann ein Messer aus seinem Gürtel und reckt es unter einem vibrierenden Zungenlaut vor sich in die Luft. Die Messerspitze zeigt nach unten. Im selben Augenblick verstummen Menschen und Trommeln. Lautlos zieht das Messer den Mann zu dem grünlich leuchtenden Bündel. Die Männergruppe bildet einen dichten Ring um das Geschehen. Ihre glänzenden nackten Rücken sind den unbeobachteten Geschehnissen in ihrer Mitte zugewandt, während ihre leeren Augen aus dem Kreis heraus in das sie umgebende Dunkel starren.

Donnerartiges Grollen macht sich unter den Platz breit. Die Erde beginnt ruckartig zu beben. Unter ohrenbetäubendem Lärm öffnet sich der Trichter in der Mitte des Menschenkreises. Erde und Felsbrocken fallen in den sich öffnenden Schlund. Eine gewaltige schwarze Säule hat sich über dem Erdkrater gebildet. All das hellgrüne kalte Licht, das zuvor schon kaum diesen Ort erhellen konnte, versinkt nun vollständig in der aus der Erde aufsteigenden Schwärze, wird von ihr angezogen und verschluckt. Selbst das grünliche Weiß der leeren Augen der Männer im Kreis ist zu dunklem Grau geworden. Riesige dunkelgraue Schatten huschen über den Platz. Sie sind weit mehr als mannshoch. Es ist still geworden. Totenstill. Nur die umherhuschenden Riesenschatten wirbeln etwas Luft zu einem lautlosen Windhauch auf.

Vor einer der Hütten weit ab von dem Geschehen weint lautlos eine junge Frau.

14

Marie stand tatsächlich sofort nach dem Auflegen des Telefons auf, warf sich ihre Jacke über und stürmte in das Büro ihrer Sekretärin.

„Mochita, haben Sie grad Zeit? Kommen Sie grad mit auf ein Dienstgespräch? Ich muss nur raus. Ich brauche dringend frische Luft.“

Mochita sah Maries bleiches Gesicht und stand fast vor ihrer Chefin angezogen an der Tür: „Stets zu diensten,“ versuchte sie Marie ein wenig aufzuheitern, wenigstens die Schwere herauszunehmen. Aber der halbherzige Versuch tropfte nur von Maries Panzer ab.

Als die beiden Frauen nach dem Überqueren der Hauptstraße in die gegenüberliegenden Grünanlagen eingebogen waren, sprudelten Möllers Ergebnisse, seine Vermutungen, die grausigen Fakten und Maries Entsetzen über all das, den Umgang von Menschen mit Menschen, nur so aus ihr heraus.

Mit ihrem fassungslosen Entsetzen überschüttete Marie ihre so geschätzte Kollegin. Mochita musste ob des Gehörten ebenfalls schwer schlucken. Ihr stiegen gleich einige Tränen hinter ihre Augen. Doch sie ging sofort in eine tiefe Energieatmung, um sich nicht an das Entsetzliche anzuhaften. Auf diese Weise konnte Mochita die geschilderten Bilder und Fakten sehr bewusst wahrnehmen, aber zugleich durch sich hindurchlassen. So konnten sich Schrecken und Grauen nicht in ihr festsetzen.

Als mexikanischer Frau, die zudem aus einer langen Ahnenreihe von Schamanen und Heilern kam, wie sie einst von ihrer Großmutter erfahren hatte, war ihr dieser Umgang mit dem Grauen quasi von Geburt an in die Wiege gelegt. Die lateinamerikanischen Ureinwohner hatten einst nur auf diese stille Weise die Übergriffe und die Grausamkeiten der europäischen Conquistadores überlebt. Und zuvor hatten die meisten Indios mit dieser Methode die Gewaltherrschaft ihrer eigenen Stammesführer überstanden. Den Kern halten und im Licht bleiben.

Mochita spürte deutlich die in Marie kochende Wut über diese Rücksichtslosigkeit und Brutalität der Menschen, ihre Verzweifelung über diese Grausamkeit, darüber, dass dies Menschen möglich war. Sie ahnte, dass sich ihre Chefin darin verlieren konnte, weil ihr der Glaube an die lichtvolle höhere Macht fehlte.

Und so versuchte Mochita, das Feuer aus dieser Situation zu nehmen: „Chefin, sicher ist das grausam. Und die Beweggründe dafür sind Gier und abgeschnittenes Mitgefühl. Doch auch das ist nur eine Facette des Menschen. Wir hier in Europa,“ Mochita bezog sich bewusst mit ein, „wir sind nicht weniger gierig und grausam. Nur herrschen hier mit der anderen Kultur andere Bräuche vor. Europäer haben sich vorzugsweise in der fernen Fremde bedient, nicht nur in Afrika die Menschen als Sklaven erniedigt, gequält und missbraucht, sondern weltweit: in Lateinamerika – in meiner Heimat, wie Sie wissen -, in Südamerika, in Nordamerika und selbst in China haben sie die „Schlitzaugen“ unter schlechtesten Bedingungen für Hungerlöhne für sich schuften und sterben lassen.“

„Ja sicher, Mochita, ich weiß dass der Mensch so selbstverachtend und grausam sein kann. Aber dass ist ja schon lange her. Wir leben jetzt in zivilisierten Zeiten, sollte man annehmen, habe ich bislang angenommen, wo solch unglaublicher Aberglaube nur noch ein Ausrutscher des menschlichen Geistes ist.“ entgegnete Marie.

„Oh nein,“ korrigierte Mochita freundlich. „Gemessen an der rund 200 000 Jahre währenden Menschheitsgeschichte fallen gut hundert Jahre offziell sklavenfreie Länder kaum ins Gewicht. Noch heute ist zum Beispiel in Asien, in Afrika oder in Lateinamerika Kinderarbeit üblich. Millionen, ich habe das neulich noch gelesen, tatsächlich immer noch Millionen Kinder schuften weltweit unter meist schlimmen Bedingungen – und wir kaufen dann billige T-Shirts für einen Appel und ein Ei oder fahren als Sextouristen nach Thailand, weil wir uns hier die Huren nicht leisten können, oder auf kleine Kinder stehen.“

„Was wollen Sie mir denn mit all dem sagen, Mochita? Dass der Mensch durch und dumm und schlecht ist, das weiß ich, und wenn ich´s mal vergesse, holt mich spätestens unser Job wieder auf diesen Boden der abgründigen Menschenseele zurück – wenn wieder jemand für ein paar Euroscheine erschlagen worden ist,“ brachte Marie mit einer betroffenen Bitterkeit hervor.

„´schuldigung, Mochita,“ nahm Marie ihren scharfen Ton gegenüber ihrer geschätzten Kollegin zurück. „Mir ist das alles etwas viel! Erst der Anblick dieser verstümmelten Kinderleiche zwischen den grünen Bananen und nun tun sich wahrscheinlich noch solch unvorstellbare Hintergründe dieses Kindermordes auf.“

„Chefin!“ Mochita legte Marie vorsichtig ihre Hand auf die Schulter. „Der Mensch ist nicht per sé dunkel und böse.“

„Nee, aber er kann sogar sehr dunkel sein, wenn er ganz hell aussieht!“ Marie´s entsetzte Bitterkeit wollte noch nicht locker lassen.

„Chefin!“ Mochita wiederholte freundlich, aber bestimmt, ihre Aufforderung. „Alles sind Prüfungen für den Menschen, sich auf die Seite des Lichts zu stellen und nicht in persönlich richtende oder gar in Rachegefühle zu gehen.“

Mochita hilft sogar in solchen Situationen ihr Glaube, dachte Marie nicht ganz ohne Neid, oder genauer gesagt, nicht ohne eine gewisse Sehnsucht, hinter all dem Elend der Welt einen Sinn oder einen Plan sehen zu können.

„Und dass dieses kleine geschundene Würmchen bei uns hier in Rendsburg aufgetaucht ist, ist für uns die Prüfung, nicht beim Dunklen, dem Bösen einzuhaken, sondern weiter auf der guten Seite zu bleiben.“

„Ach, man kann aber schon verzweifeln bei all dem Scheiß, den Menschen auf der Welt veranstalten.“

„Ja, verzweifeln Sie, Chefin, aber kommen Sie dann bitte gleich wieder.“

Das waren so typische Mochita-Sätze, deren ungewöhnliche und einfache Logik Marie meist zu fassen kriegten, die ihr inneres Perpetuum mobilé anhielten.

„Beten Sie für die Seelen, die mit dieser entsetzlichen Geschichte zu tun haben, aber richten Sie nicht,“ fügte Mochita noch etwas leiser und sehr vorsichtig hinzu.

„Ich kann nicht beten, Mochita. Ich kann das nicht. Ich wüsste gar nicht, wohin ich beten sollte.“

„Na, dann bitten Sie für die Seele, für die Kinderseele, wenn Ihnen danach ist, dass sie gut geleitet wird.“

„Ja-ja. Das könnte ich vielleicht tun.“ Wenn Marie abends in ihrem stillen Kämmerlein allein war, dann fielen ihr schon mal die eine oder andere Bitte um Hilfe, Schutz oder Ähnliches für andere ein, die sie – etwas unsicher, weil ihr ein konkreter Adressat fehlte – vor sich hin murmelte. Aber sehen oder mitbekommen sollte das niemand, nicht einmal wissen sollte das jemand. Es lief dann so eine seltsame Scham in ihr hoch, so als ob sie nicht klug und rational, nicht bei Verstand genug wäre, ihr Leben anders in den Griff zu bekommen. Dabei glaubte Marie schon an eine alles umfassende Energie. In ihrer Vorstellung handelte es sich dabei jedoch eher um eine physikalische Ausgangsquelle alles Seienden, eine gewaltige energetische Urquelle, aus der alles kam und deren Lebendigkeit aus dieser Kraft gespeist wurde. Das Gottesbild mit dem bärtigen alten Mann aus ihrer Kindheit ging für sie gar nicht mehr. Und das tauchte mit jedem Gottesbegriff vor ihrem inneren Auge auf und machte jede Form der Hinwendung zunichte. Marie konnte sich beim besten Willen nicht eine menschenähnliche Gestalt als Schöpfer all dieser Universen vorstellen und andererseits konnte sie sich keinen anderen Gott vorstellen. Eine intellektuelle Zwickmühle, aus der sie nicht herauszukommen schien.

Aber sie würde für diese geschundene Kinderseele beten, irgendwohin, einfach weil sie aus tiefstem Herzen heraus wünschte, dass es unter den Menschen besser zugehen sollte. Sie würde das tun, wenn sie nachher oder heute abend allein war, dann…

Nachdem Mochita mit ihrem Dienstschluss nach Hause gegangen war und sie dann tatsächlich ihr Gebet für die Kinderseele in den Äther geschickt hatte, nutzte Marie die Ruhe ihrer leeren Dienststelle, um im Internet nach Informationen zu afrikanischen Albinos zu suchen. Sie konnte das heute nachmittag Gehörte immer noch kaum glauben und brauchte für ihren Verstand noch Schwarz-auf-weiß-beweise. Schon sofort bei Wikipedia wurde sie unter dem Stichwort Albinos fündig. Nicht nur, das der Enyzmdefekt ausführlich beschrieben wurde, der in erster Linie für das Fehlen der Farbstoffe verantwortlich ist, sondern auch der recht neu aufgekommene Aberglaube vor allem in Tansania wurde hier beschrieben: „…dass Albinos glücksbringende Kräfte besäßen. 2007 sollen daher 20 Menschen mit Albinismus von „witch doctors“ getötet worden sein, um aus ihren Körperteilen Zaubermittel herzustellen, die zu Reichtum verhelfen sollen. Von März bis November 2008 waren es sogar 36 Menschen mit Albinismus in Tansania und im benachbarten Burundi, die aus diesem Grund getötet wurden. In Simbabwe diente der Aberglaube, Geschlechtsverkehr mit Albinos würde eine HIV-Infektion heilen, als Vorwand, Frauen mit Albinismus zu vergewaltigen.“

Der Mensch war doch unglaublich grausam und dumm zugleich – unfassbar das alles.

©Angela Kämper

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