Rosa von Kampen

Rosa von Kampen

„Ich finde, wir sollten für die Familienaufstellung Jan und Monika nehmen. Die beiden halten ihren Kevin nun schon über sieben Jahre fest. Ja, der Vater Jan hat seinen Sohn gefunden, schrecklich, aufgehängt auf dem Dachboden des eigenen Hofes. Aber die beiden kommen nicht los, vor allem Monika nicht. Und ich glaube, Kevin auch nicht. Sicher, das ist extrem heftig, wenn man seinen eigenen Sohn so findet. Aber vielleicht kommt bei den beiden ja irgendetwas in Bewegung durch das Aufstellen. Ich würde es ihnen so sehr wünschen. Die beiden sind ja auch noch so jung. Und ich glaube, beide wollen eigentlich auch ihr eigenes Leben zurück. Jan ist für mein Gefühl schon etwas weiter. Aber er will auch seine Frau nicht alleine lassen. Und Monikas Traum ist es ja eigentlich Kirschbäume anzupflanzen. Aber es bewegt sich nicht bei ihnen. Die stecken beide so fest. Von außen ist das gut zu sehen.“

Christine, Rosas Co in der Hospiz-Trauergruppe „Verwaiste Eltern“ hatte still zugehört, während sie die Kerzen löschte und die übrig gebliebenen Süßigkeiten zusammenpackte, die sie, wie jedes Mal, zum monatlichen Gruppentreffen auf den Tischen verteilt hatten.

Die Luft im Raum war wie immer nach dem Treffen bleischwer und zum Schneiden gefüllt mit Schmerz, Trauer, Schock, Fassungslosigkeit und Wut. Dreizehn Mütter und Väter hatten hier gerade über zwei Stunden versucht im Raum des Husumer Hospizvereins ihrer Unfassbarkeit über das Nichtmehrdasein ihres Sohnes oder ihrer Tochter Luft zu verschaffen. Die meisten waren versteinert. Vor allem die Eltern, die ihr Kind durch Suizid verloren hatten. Und das waren Dreiviertel in dieser Gruppe.

Ihre beste Freundin Hilde hatte Rosa geraten, während des Erzählens ihrer erschütternden Geschichten und vor Fassungslosigkeit und Schmerz versteinerten Befindlichkeiten stumm in ihrem Inneren Mantren zu wiederholen. Quasi als Gegengewicht zu dieser kaum zu ertragenden Schwere. Hilde hatte ihr Engel und sogar Erzengel vorgeschlagen. Aber Rosa hatte es so gar nicht mit der christlichen Religion. Und Engel? Na ja. Dennoch hatte sie es in Ermangelung einer anderer Lösung einfach Mal ausprobiert. Und es hatte funktioniert. Das stumme Engelnamenrezitieren hielt sie raus aus dem bleiernen Dampf, der über der gesamten Gruppe lag. Rosa hatte sogar manchmal das Gefühl, dass die gesamte Athmosphäre in dem Hospizraum ein ganz klein wenig in Bewegung war, wenn sie innerlich die Engelnamen murmelte. Aber sie war sich nicht sicher, ob das nur ihre eigene Wahrnehmung war, weil sie sich so sehr wünschte, hier mit diesen verzweifelten Müttern und Vätern etwas zu bewegen. Drei Engel sollten es sein, hatte ihr Hilde empfohlen. Das hätte die meiste Kraft. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich bei ihr eine Kombination aus Kindbettengeln und Erzengeln heraus. Die mochte sie am liebsten. Die gingen ihr am leichtesten über ihre inneren Lippen: Nuriel – Uriel – Raphael. Das innere Rezitieren dieser drei Engel war nun ein fester Bestandteil ihrer Arbeit mit der Eltern-Trauergruppe geworden.

Rosa legte einige Stückchen Weihrauchharz auf die inzwischen glühende Kohlescheibe. Sofort stieg eine dünne Rauchsäule auf, die sich behäbig an der Zimmerdecke verteilte.

„Ja, das ist eine gute Idee. Jan und Monika hängen irgendwo fest. Und jetzt ist unsere Fortbildung noch frisch. Lass es uns ausprobieren. Soll ich sie anrufen und fragen?“

„Ich weiß nicht,“ entgegnete Rosa nach kurzer Überlegung. „Meinst du, die beiden sind tatsächlich jetzt offen dafür? Ich hatte eher das Bild im Kopf, ob wir die Aufstellung für die beiden beziehungsweise für die drei machen. Aber ohne, dass sie direkt dabei sind. Was hältst du davon, Christine?“

„Du meinst, das funktioniert? Auch, wenn die Betroffenen selbst gar nicht anwesend sind.“ Etwas ungläubig sah Christine ihre Kollegin an.

„Keine Ahnung. Der Kursleiter hatte das am letzten Tag mal in einem Nebensatz erwähnt, dass er das schon mal erfolgreich gemacht hat. Ich bekam halt dieses Bild in meinen Kopf. Auch sonst sind bei einer Aufstellung sind ja nie alle Personen live anwesend, die platziert werden. Und das funktioniert ja auch. Ich kenne das auch vom Psychodrama. Da wurde ich mal als Mutter gewählt. Ich kannte die Frau natürlich überhaupt nicht. Trotzdem konnte ich in ihre Gefühle und Gedanken schlüpfen und ganz gut die etwas unangenehme Mutter spielen. Damals habe ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht, wo das herkam, was ich fühlte oder gesagt habe. Aber es passte. Keine Ahnung, wie das funktioniert. Aber es ging.“

„Ja, gut. Lass es uns ausprobieren. Zu verlieren haben wir ja nichts. Entweder es klappt oder nicht. Es kann ja nur besser werden für die beiden. Sonntag nachmittag? Bei mir?“

„OK. Abgemacht. Da bin ich ja mal gespannt!“

Am darauffolgenden Sonntag trafen sich die beiden Frauen in Christines Haus in Husum. Aus den weit geöffneten Fenstern im großen, mit klassischer Schrankwand sehr deutsch eingerichteten Wohnzimmer verschwanden gerade die ersten Weihrauchwolken, als Rosa eintrat. Sie schmunzelte.

„Ja, ich bin noch lernfähig,“ grinste Christine zurück. „Die DinA5-Zettel habe ich auch schon vorbereitet. Stifte liegen hier. Und einen Yogi-Tee habe ich auch schon gekocht. Möchtest du eine Tasse?“

„Super, Christine,“ antwortete Rosa. „Nein danke. Hinterher trinke ich sicher sehr gerne, also den Tee meine ich. Wenn es dir recht ist, würde ich am liebsten gleich anfangen. Ich bin schon ziemlich aufgeregt. Eine Familienaufstellung für jemand zu machen, der gar nicht da ist! Ich bin sehr gespannt, was passiert.“

Rosa rieb sich mit einer Mischung aus Verlegenheit und aufgeregtem Tatendrang die Hände.

„Gut Rosa. Dann lass uns loslegen,“ entgegnete die deutlich ältere Christine. „Hier habe ich uns Platz geschaffen, hier können wir uns ausbreiten.“

Christine wies auf den freien Parkettboden vor dem Couchtisch mit den noch leeren Papierzetteln und schloss die Fenster. Der Weihrauch war ins Freie entschwunden und hinterließ eine klare und friedliche Luft.

„Dann lege ich mal den Kevin hin.“ Rosa schrieb den Namen auf den ersten Zettel und platzierte ihn mittig auf den Parkettboden.

„Monika, die Mutter.“ Christine sinierte mit dem beschriebenen Zettel in der Hand. „Monika ist immer noch im Schmerzschock. Auch noch nach sieben Jahren. Kevin war ja auch noch ihr Lieblingssohn, auch wenn sie das niemals offen zugeben würde.“

Christine ging drei Schritte vor, auf den Kevin-Zettel zu. Sie schloss die Augen, um sich in Monika einzufühlen.

„Ich sehe Kevin immer noch als kleinen Jungen durch den Garten in meine Arme laufen. Er ist so ein hübsches und fröhliches Kind. Ein Sonnenschein. Zaubert allen ein Lächeln ins Herz. Das ist nicht mein Junge, der sich da umgebracht hat. Den kenne ich gar nicht.“

Christine legte den Zettel in ihrer Hand direkt vor den Kevin-Zettel auf den Boden. Die beiden Zettel berührten sich ein wenig.

Rosa beschrieb den nächsten Zettel und schloss ebenfalls ihre Augen: „Ich habe dich gefunden, Kevin. Da drin, an unserem Dachbalken hängend. Mein Sohn. Kevin. Das war so furchtbar. So entsetzlich war das. Ich konnte erst Wochen nachdem wir dich beerdigt hatten weinen. Wenn ich allein auf dem Feld gearbeitet habe. Immer wieder musste ich um dich weinen, meinen Sohn, der mir immer fremder geworden war. Du hattest dich schon so lange zurückgezogen. Ich habe das viel zu spät gemerkt. Bist nicht mehr rausgefahren mit uns zum Angeln. Und du hast nicht mehr wirklich gelacht. Und ich habe nichts gemacht. Ich habe dir nicht geholfen. Ich war so sehr mit dem Hof beschäftigt. Das tut mir so leid, Kevin.“

Rosa musste schlucken.

„Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, dein Gemüt ist krank geworden. Das hat jedenfalls Doktor Klaudius gesagt. Dass du Depressionen hattest, und aus deiner schwarzen Welt keinen Ausweg mehr wusstest.“

Rosa legte Jan’s Zettel mit etwas Abstand hinter Monikas Zettel, auch Kevin gegenüber.

„Dann gibt es noch den jüngeren Bruder von Kevin, den Malte. Soll ich mit Malte weitermachen?“ fragte Christine.

Rosa nickte stumm. Sie sah sich genötigt zu kommentieren, um ihren Verstand etwas aus der aufkommenden Schwere herauszuhieven: „Ja. Das geht erstaunlich gut, findest du nicht auch…?“

Christine brummte nur ein kaum vernehmbares „Mmmmmhhh“ zurück.

„Ich bin Malte. Kevin’s kleiner Bruder. Ich finde das alles ganz furchtbar. Es ist als würden wir jetzt seit Jahren mitten auf dem Friedhof wohnen. Die Luft Zuhause ist so dick – zum Schneiden, nicht zum Atmen. Ich krieg hier kaum noch Luft. Dabei ist das mit Kevin schon sieben Jahre her. Da war ich neun! Ich hab meinen Kevin auch sehr gerne gehabt. Er hat mir immer geholfen, bei Mathe und auch so. Auch wenn mich Pietro aus dem Dorf mal wieder verkloppt hat oder geärgert hat. Und ich konnte mit ihm reden. Über alles. Kevin war der einzige, der mich verstanden hat. Der überhaupt zugehört hat. Aber jetzt ist es, als wäre ich gar nicht da. Wie wenn ich mit Kevin gestorben wäre. Als gäbe es mich nicht mehr. Mama ist mehr in Kevins Zimmer als bei mir, diesem schrecklichen Museum voll mit seinen alten Sachen. Ich bin furchtbar allein!“

Christine legte sichtlich betroffen den nächsten Zettel weit hinter den Kevin-Zettel, sehr weit entfernt von den drei übrigen Zetteln. Malte schrie förmlich aus dem so weit von anderen abseits liegenden Zetteln seine Einsamkeit heraus.

Die beiden Frauen standen ein Weilchen stumm jeweils in ihre Gedanken versunken nebeneinander. Sie blickten auf die vier Zettel am Boden, die für vier so schmerzhaft verletzte Wesen, Seelen, dort lagen. In all ihrer Sprachlosigkeit.

„Und jetzt?“ fragte irgendwann Christine in das Schweigen hinein.

„Jetzt spüren wir in Kevin hinein. Wie es ihm, seiner Seele geht.“ antwortete Rosa.

„Fängst du bitte an,“ kam von Christine.

„Ja, kann ich machen.“ Rosa atmete ein Mal schwer auf und stellte sich dann auf den Zettel, auf dem in Großbuchstaben KEVIN stand.

„Ich fühle mich so bedrängt. Von euch allen, vor allem von dir Mama. Ich liebe euch. Ich liebe euch alle. Aber bitte lasst mich gehen, lasst mich los…“

Im gleichen Moment stieg ein gleißend weißes Licht von dem Kevin-Zettel aus quer durch Christines Wohnzimmer bis zur Decke auf. Und als sich das Licht wieder in das Papier und tiefer zurückzog, fühlte sich Rosa mitsamt dem Licht aus Christines Wohnzimmer herausgezogen.

Lichtstrahlen weisen in die Wolken

Fortsetzung: Protagonisten „Sphärenspringer“

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