Zauberjäger – Teil 2

Zauberjäger

Ein spiritueller Kriminalroman

von Angela Kämper

Hier nun Teil 2 von „Zauberjäger“ als Podcast

Teil 2

„Schlieper, Kripo Hamburg.“ meldete sich eine kräftige klare Stimme am anderen Ende.

„Moin, Gabi. Hier ist Marie Johannsson von der Filiale in Rendsburg.“

„Marie, hallo Kollegin. Das ist ja schön. Wir haben uns so lange nicht gesprochen. Wie geht es dir?“

„Kommt drauf an, wo ich hinschaue.“

„Probleme?“

„Nein, nicht direkt. Etwas Herzschmerz. Aber du weißt ja, in der Rubrik Männer fühle ich mich eher in jeglicher, aber auch wirklich jeglicher Hinsicht minderbemittelt. Aber wenn ich mein angebrochenes Herz außen vor lasse, geht es mir gut. Lukas macht mir viel Freude. Er ist ein wunderbarer Junge. Und das Zusammenwohnen mit meiner Mutter gestaltet sich auch sehr viel leichter und friedlicher, als ich es mir je hätte träumen lassen.“

„Hab ich´s doch gesagt, Marie. Manches muss frau eben ausprobieren. Das lässt sich nicht vorher überlegen und durchdenken, ob das geht. Das freut mich aber. Wohnt Andreas auch noch bei dir, den fand ich ja immer so nett?“ säuselt es durch den Hörer.

„Ja, Andreas wohnt auch noch auf dem Hof, mit welchselnder Begleitung. Er meint immer noch, sein Herz wäre zu groß für nur eine einzige Frau.“

„Naja, bei seinem Charme stehen dem noch dazu so gut ausehenden Kerl auch alle Frauenherzen offen.“

„Fast alle,“ schränkt Marie ein.

„Aber wirklich fast alle,“ besteht Gabi weiter.

„Und bei dir, Gabi. Wie sieht´s bei dir aus?“

„Ich warte noch auf den Richtigen. Und bis dahin freue ich mich an meiner Arbeit und lerne die Welt kennen. Ich war gerade vor zwei Monaten in der Namib, ein Traum.“

Gabi Schlieper war die reiselustigste Person, die Marie kannte. Die Kontinente hatte sie schon alle durch und nun fing sie an, die einzelnen Länder ihrer Lieblingskontinente – Asien und Afrika, die gegensätzlicher nicht sein konnten – im Wechsel zu bereisen.

„Die Farben in der Wüste lassen einem das Herz überlaufen. Urgewaltige Kraft und kosmische Harmonie in ihrer ursprünglichsten Form.“

„Mmmh.“ Marie hatte es nicht so mit der Reiserei. Sie fand, dass es zuhause genug zu entdecken gab und wenn man sich vor Ort verantwortungsvoll mit den Gegebenheiten auseinandersetzte, hatte zumindest sie schon genug zu tun. Da blieb gar keine Zeit mehr, noch in der Weltgeschichte herumzukutschieren. Aber manchmal hörte sich Marie dennoch gerne die Geschichten aus fernen Ländern an.

Gabi Schlieper spürte die verhaltene Reaktion ihres Gegenübers: „Aber du hast mich sicherlich nicht angerufen, um dir die Farben der Wüste schildern zu lassen. Also, was gibt’s, Frau Kollegin?“

„Wir haben einen grausigen Fund hier in Rendsburg gemacht: Eine verstümmelte Babyleiche.“

„Ui, das ist ja heftig. Und das bei euch in der Provinz!“

„Ja, das genau ist es, weshalb ich dich dazu anrufe. Wir gehen davon aus, dass die Leiche nur versehentlich bei uns im Norden gelandet ist. Eine Ladung Bananen ist vom Hamburger Freihafen aus falsch hier im Großmarkt von Rendsburg angekommen. Die waren noch gar nicht reif genug für den Weitervertrieb hier oben. Bei der Warenkontrolle ist dann das Würmchen entdeckt worden.“

„Oh, so klein ist das Baby noch?“

„Ja, Gabi,“ antwortete Marie betroffen. „Ein Junge, etwa drei Monate alt. Wie ein Porzellanpüppchen lag er da im Pappkarton zwischen den ganzen grünen Bananen.“

Marie muss wieder schlucken.

„Adressat des Bananencontainers ist der Hamburger Fruchtkontor im Freihafen. Dem Chef unserer Großmarkthalle ist es ein Rätsel, wie der Container fälschlicherweise hierhin kommen konnte, denn nirgends taucht der Ortsname Rendsburg auf und Hamburg beliefert ja nun ganz Deutschland mit Bananen.“

„Das wird irgendein unglücklicher Zufall sein, Marie,“ entgegnete Gabi, die nun auf sachliche Kriminalhauptkommissarin umgeschaltet hatte. „So was kommt vor, dass ein Container im durchautomatisierten Hafenbetrieb auf dem falschen Laster in die falsche Richtung landet.“

„Ich würde ja auch gerne an einen Zufall glauben, Gabi.“ erwiderte Marie leicht verstört. „Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass diese ganze Geschichte irgendetwas mit mir zu tun hat. Lach nicht, Gabi, aber ich höre, immer wenn ich vor dem toten Baby stehe, afrikanische Musik. Und Lukas hat auch so seltsame Sachen gesagt, sprach von einem schwarzen Baby in einer Holzkiste, ehe die Leiche überhaupt gefunden war.“

„Ach, Marie,“ versuchte Gabi ihre Kollegin und Freundin zu beruhigen. „Ihr Spökenkieker da oben immer mit euren Ahnungen. Afrikaner sind in der Regel dunkelhäutig – und du sagst, das Baby ist eher besonders hellhäutig. Es war auch keine Holzkiste, wie die, von der dein Sohn gesprochen hat, sondern ein Pappkarton. Bananen werden immer in stabilen Pappkartons verschifft. Und afrikanische Musik, liebste Kollegin, da hast du bestimmt geträumt, von fernen Ländern, schönen Männern oder so…“

Marie atmete schwer durch.

„Fang bloß nicht an, deinen Job persönlich zu nehmen. Und schon gar nicht so einen grausigen Fall.“ ergänzte Gabi Schlieper.

Die Hamburger Kriminalhauptkomminssarin stockte. „Du sagtest verstümmelt. Was denn, Marie?“

„An beiden Händen fehlen jeweils der kleine und der Ringfinger.“

„Oh!“

Dann Schweigen auf der anderen Seite.

Marie berappelte sich als erste der beiden Frauen.

„Ich brauche deine Hilfe, Gabi.“

„OK.“

„Otto Storm, unser CSI-Mann, hat an der Leiche ein Haar gefunden, und zwar ein ganz besonderes: eines ganz ohne Farbstoff, von einem Albino-Menschen. Die gibt es nicht so häufig. Frage ist, kannst du herausbekommen, ob bei euch im Hafen auf dem Weg vom Containerschiff bis zum Lastwagen ein Albino arbeitet. Weil das Haar vermutlich auf diesem Weg mitsamt dem Würmchen in diese Bananenkiste gelangt ist.“

„Ein Albino…“ sinnierte Gabi leise vor sich hin.

„Weiße Haare, weiße Haut, Sonnenbrille. Wie Heino?“ versuchte Gabi die Atmosphäre etwas aufzulockern.

„So ähnlich. Kannst du dich darum kümmern? Das Haar ist übrigens stark gelockt.“

„Dann doch nicht Heino, der hat glattes Haar.“

Gabis Art, Gefühle und Betroffenheit von sich fernhalten zu wollen, fand Marie häufig ziemlich plump. Gabi konnte sich manchmal hart bis zum Sarkasmus machen. Ihr eigener Gefühlshaushalt würde sich niemals auf so billige Art beschietern lassen. Und Gabi nahm sie ihre Lockerheit auch nicht immer ab – jetzt zum Beispiel auch eher nicht.

Gabi fand zu ihrer Professionalität zurück: „Gut, ich werde Robert darauf ansetzen. Wenn das einer herausfinden kann, dann er. Einen gelockten Albino im Hafenbereich. Ich schicke Robert gleich los. Habt ihr ein Geschlecht?“

„Nein, es war keine Haarwurzel dran.“

„Gut, am wahrscheinlichsten wird es schon ein Mann sein. Trotz der Automatisierung ist der Containerhafen immer noch ziemlich fest in Männerhand.“

„Wahrscheinlich. Und danke, Gabi. Wir hören dann. Ich muss jetzt noch zu unserem Patho-Doc Möller nach Kiel. Ihr könnt mich ab jetzt am besten auf Handy erreichen. Ich geb dir grad die Nummer durch. Hast du was zum schreiben?“

Und zügig gab Marie ihrer Kollegin die Zahlenkolonne ihrer Handynummer durch.

„Und schönen Gruß auch an Robert. Bis dann, Gabi.“

„Tschau, Marie. Du hörst von uns.“

Kaum hatte Marie aufgelegt, klingelte ihr Telefon.

„Johannsson, Kriminalkommissariat Rendsburg.“

„Guten Morgen , Frau Johannsson. Hier ist noch mal Schöning von der Großmarkthalle.“

„Moin, Herr Schöning. Was gibt’s?“

„Sie müssen unbedingt noch mal kommen, Frau Johannsson. Wir haben heute beim Durchchecken und Umpacken der grünen Bananen noch etwas Interessantes gefunden. Keiner weiß, was das ist. So eine Art Wedel. Aber wir sind uns alle sicher, dass wir so etwas hier noch nie gesehen haben, geschweige denn, dass das Ding von einem von uns ist. Und dann noch eine kleine Figur oder Puppe. Könnte sein, dass die dem Kleinen gehört hat. Aber auch so eine Puppe hat noch niemand von uns hier je gesehen.“

„Vielen Dank, Herr Schöning, dass Sie gleich Bescheid gegeben haben. Ich bin schon unterwegs. Fassen Sie bitte nichts weiter an und achten Sie darauf, dass niemand die Fundstelle betritt, damit keine eventuellen Spuren verwischt werden.“

„Gut, mache ich. Bis gleich dann, Frau Johannsson.“

„Ja, bis gleich.“

Ehe Marie losfuhr, verständigte sie Otto Storm, der gleich zusagte, ebenfalls zur Großmarkthalle zu kommen. Otto blieb aber lieber autark und fuhr mit seinem eigenen Wagen.

Marie war aufgeregt als sie die große Kühlhalle des Großmarktes betrat. Sollte sich nun endlich etwas Klarheit in dem Fall einfinden?

Herr Schöning kam ihr gestochenen Schrittes entgegen.

„Gut, dass sie so schnell kommen konnten, Frau Johannsson. Wir müssen das ja hier schnell wieder freiräumen. Dieses Kind, äh, diese Bananen halten unseren ganzen Betrieb auf. Meine Leute sind ganz schockiert und es ist eine Stimmung hier, als würde in jeder Obstkiste eine Bombe liegen. Und jetzt noch diese Puppe und dieser Staubwedel. Wo wir das abriegeln mussten, kommt hier gar keiner mehr vorbei. Und da hinten faulen mir die Ananas für Aldi weg. Wer kommt eigentlich für den Schaden auf?“

„Herr Schöning, wir haben eine Leiche in dieser Halle gefunden, noch dazu eine Kinderleiche. Da interessieren ein paar faule Früchte niemanden, mich schon gar nicht, Herr Schöning.“ entfuhr es Marie, die sehr allergisch darauf reagieren konnte, wenn jemand nur an seinen Profit dachte – ohne links und rechts zu gucken.

Doch mit dem nächsten Atemzug beschloss Marie, sich zu beruhigen. Sie wollte sich schließlich kein schlechtes Karma an die Backen heften. Sie wollte versuchen, andere Menschen nicht mehr zu bewerten. Ein extrem schwieriges Unterfangen, vor allem in ihrem Job, der sie doch sehr im Dreck unter dem Deckmäntelchen der Wohlstandsgesellschaft herumstochern ließ. Aber Marie hatte sich fest vorgenommen, diesbezüglich an sich zu arbeiten.

Marie hatte viel mit Helga über dieses Thema diskutiert. Karma und das Gute, Mitgefühl und Liebe – schon die Worte können die meisten gar nicht mehr mit offenem Blick, klar und ehrlich aussprechen – und, wie Helga meinte, das Lichtvolle müsse auf der Erde gehalten und vermehrt werden, damit dieser Planet überleben könne. Klimawandel und Umweltverschmutzung wären Helgas Ansicht nach schon auch sehr wichtig für den Erhalt der Erde, aber alles entscheidend sei es, Licht und Liebe zu stärken.

Seltsam, diesen Herrn Schöning, der leicht aufgebracht mit rötlichem Gesicht vor ihr stand, nun zu lieben oder lieben zu wollen, ihm Gutes zu wünschen. Marie probierte es innerlich aus und sprach in Gedanken den Satz: Ich wünsche Ihnen Frieden, Licht und Liebe. Om mani padme hum – ihr tibetisches Lieblingsmantra.

Im selben Augenblick atmete Herr Schöning einmal und noch einmal tief durch: „Ich will Sie nicht mit meinen Bilanzen langweilen. Kommen Sie , Frau Johannsson. Ich zeige Ihnen die beiden Funde.“

Marie musste grinsen. Ob ihr inneres Gebet geholfen hatte? Jedenfalls war die Stimmung nun wieder entspannter. Sie folgte Schöning hinter die Absperrung.

„Hier, sehen Sie.“

Schöning wies auf zwei schmutzige dunkle Gegenstände, die in einem Winkel der Packecke, wohl der Abteilung für Bananen, lagen.

„Hier haben Sie die beiden Gegenstände gefunden?“

„Nein, nicht ich. Herr Schubeck, einer der Lagerarbeiter hier.“

„Haben Sie oder Herr Schubeck hier irgendetwas verändert?“

„Nun ja, Herr Schubeck hat die Puppe und den Wedel schon hervorgeholt. Da hinten in der Ecke ist es ja so dunkel, dass man nichts erkennen kann. Weil er die beiden Sachen, vor allem auch wegen der Babyleiche, so eigenartig fand, hat er sie mir gezeigt. Ich sagte ihm, er solle beide an die Stelle zurücklegen, an der er sie gefunden habe und rief Sie sofort an. Seither dürfte hier eigentlich niemand mehr drin gewesen sein.“

„Gut. Vielen Dank, Herr Schöning. Das haben Sie sehr umsichtig gemacht. Und wegen der eventuellen Schäden…“ Jetzt wurde Marie aber schon so friedlich, dass sie sich fast selbst unheimlich wurde. „Zunächst wenden Sie sich am besten an Ihre Versicherung. Manchmal stellen die Versicherungen einen Vergleich mit der Stadt her, wenn es aufgrund gesellschaftlicher oder sicherheitsrelevanter Interessen zu Ausfällen gekommen ist.“

„Oh, vielen Dank, Frau Johannsson. Ja, so dringlich ist das jetzt auch nicht. Und ich wollte Sie vorhin auch nicht angehen. Es ist nur alles ein bißchen viel im Moment. Ich bin ja keine Leichen gewohnt, so wie Sie.“

„Da gewöhnt man sich nie dran,“ brummelte Marie vor sich hin.

„Ich lass Sie jetzt hier alleine, Frau Johannsson. Wenn noch etwas ist – ich bin in meinem Büro. Sonst verabschiede ich mich erst einmal von Ihnen. Und nichts für ungut…“

Mit ihrem „Schon OK. Auf Wiedersehen.“ verschwand Schöning aus Maries Blickwinkel. Dafür bog ein „Was gibt’s, meen Deern?“ um die Ecke und Otto stand unvermittelt neben der Kommissarin.

„Moin, Otto. Die haben hier beim Arbeiten zwei Gegenstände gefunden, die sie mit der Babyleiche in Verbindung bringen. Ich bin auch erst gerade angekommen und habe sie auch noch nicht gesehen.“

„Lassen Sie mich erst Fotos vom Fundort machen, Marie.“

Vorsichtig schob sich der einsneunzig große Schlacks an Marie vorbei.

„Die Sachen müssen laut Herrn Schöning ganz hinten rechts in der Ecke liegen, zwischen zwei Bananenkisten.“ erklärte Marie ihrem Kollegen.

Einige Sekunden später fuhr der erste Blitz durch die dunkle Lagerecke. Weitere folgten.

„Jetzt gehen Sie schauen, Marie.“ forderte Otto Marie knapp, aber freundlich auf.

Marie tastete sich im Halbdunkel vor. Otto drückte ihr rasch noch seine Stablampe in die Hand. Er dachte stets an alles. Wohlorganisiert, der Mann.

Marie ließ den Lichtkegel durch den dunklen Winkel kreisen. Im gut zwei Zentimeter dicken Staub und Dreck lagen zwei dunkle Gegenstände. An den seitlich gestapelten Bananenkisten konnte Marie auch im Licht der Stablampe nichts Auffälliges erkennen. Die Kartons waren alle intakt, keiner aufgerissen oder sonst wie beschädigt. Die Kartons bildeten eine etwa zwei Meter hohe Pappmauer um diese Schmuddelecke herum. Die Gegenstände schienen folglich nicht aus einem der Kartons herausgefallen zu sein. Wenn die Schilderungen von Schöning und seines Lagerarbeiters stimmten, konnte diese beiden Teile eigentlich nur jemand hier verloren oder möglicherweise sogar absichtlich hierhin gelegt haben. Marie erzählte Otto Storm ihre Gedanken.

„Jow, seh ich auch so.“ bestätigte der Kriminaltechniker.

Dann nahm Marie die beiden Gegenstände genauer unter die Lupe. Auf den ersten Blick schien es sich tatsächlich um einen Wedel und eine primitive Puppe zu handeln. Marie zog ihre Latex-Handschuhe an und nahm zunächst die Puppe auf.

„Hören Sie das auch, Otto?“ fragte sie kurz darauf ihren Begleiter.

„Nee, ich hör nichts.“ antwortete Otto nüchtern.

„Kein Trommeln, keine Rhythmen? Vielleicht irgendeine Maschine im Nebenraum? Horchen Sie doch bitte einmal genau hin.“ flehte Marie den Mann fast an.

Otto Storm gab sich ernsthaft große Mühe, irgendetwas zu hören. „Da läuft nur der große Kühlventilator, Marie. Macht ein gleichmäßiges leises Geräusch, kein Staccato.“ Nach weiterem Horchen: „Sonst hör ich nichts weiter. Alles still.“

Marie hörte oder fühlte oder was auch immer nun schon einige Minuten die trommelnden Rhythmen. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was das wieder war. Als sie sich auf die hochgenommene Puppe konzentrierte, wurde die Musik in ihrem Kopf wenigstens leiser.

Die Puppe war aus grobem Holz gefertigt: ein schiefes Rechteckiges Kantholz als Körper und mit ineinander greifenden Rundschrauben waren je oben und unten zwei Äste befestigt, an denen noch die Ansätze der wohl abgebrochenen Verzweigungen zu erkennen waren. Das sollten wohl Arme und Beine sein. Hände und Füße waren aus Bastpuscheln gefertigt. Hände waren hier also dran. Weißer Bast war auf dem Kopf als Haar befestigt. An einer Ecke des hölzernen Körpers lugte weiß hervor.

„Otto, schauen Sie doch mal. War die Figur einmal weiß angestrichen und wurde dann schwarz übermalt. Es sieht doch aus, als wären auf dem Holz zwei Farbschichten aufgetragen, oder? Und Hände sind dran, wenn ich das richtig sehe?“

Marie reichte Otto die Holzpuppe rüber. Der hatte selbstverständlich schon seine Handschuhe angezogen und nahm sie vorsichtig entgegen. „Ja, zwei Farbschichten, erst weiß auf dem Naturholz und dann schwarz überstrichen.“

„Ist doch seltsam, oder? Vorstreichfarbe?“

„Nein, die hat eine andere Konsistenz. Ich schau mir das aber noch genauer an.“

„Wie ein Kinderspielzeug sieht die Figur irgendwie nicht aus, oder was finden Sie?“ fragte Marie.

„Da kenne ich mich nicht aus.“ entgegnete Otto. „Kann ich das eintüten?“

„Ja sicher,“ antwortete Marie und bückte dich zu dem zweiten Fundstück herunter. Es sah tatsächlich aus wie ein Wedel, für einen Staubwedel war es allerdings zu grob. Ebenfalls an grobem, unbearbeitetem Naturholz war weißer Bast befestigt. Lange Bastfäden, die sich bewegten, wenn Marie das Ding hin und her schwang. Dieses stabähnliche Holzstück mit dem weißen Bastquast am verdickten Holzende war nicht bemalt oder angestrichen. Marie konnte deutlich die rauhe, graubraune Rinde erkennen. Wenn sie den Quast bewegte, fing die Trommelmusik in ihrem Kopf wieder an. Also gab sie den Gegenstand an Otto weiter, der schon eine – sicher korrekt – beschriftete Plastiktüte für sie offen hielt.

„Was das sein soll, da habe ich nicht die geringste Ahnung. Vielleicht finden Sie ja noch ein Geheimfach im Schaft dieses Dings, in dem sich ein Zettel befindet, der uns das ganze Geheimnis enthüllt.“

Otto erwiderte etwas erstaunt: „Sie haben ja heute eine Fantasie, Marie.“

Doch Marie ihrerseits versuchte nur, sich mit Denkvorgängen von der Musik, den Trommelwirbeln in ihrem Kopf, abzulenken. Was auch gelang. Als sie den undefinierbaren Quast aus der Hand gegeben hatte, verstummten endlich auch die Rhythmen in ihrem Kopf.

Es konnte doch nicht sein, dass die Trennung von Martin ihr so zusetzte, dass sie nun schon Halluzinationen bekam. Vorgestern waren sie nun endgültig auseinandergegangen, nach dem tausendsten und abertausendsten Streit, bei dem sie beide nicht mehr wussten, worum er eigentlich ging. Martin mit seiner Streitkultur. Als wenn Streiten eine Kunst wäre. Nicht streiten, fand Marie, war eine Kunst. Sich wirklich und wahrhaftig und mit eigenen Standpunkten respektvoll auseinandersetzen. Gut, sie war auch nicht ohne. Als Löwin hatte sie auch zu gerne recht. Aber dieses Zwillingswuseln, dieses dann noch von links und dann noch von rechts eins draufsetzen. Das ging nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Marie hatte den Kerl verdammt gern, immer noch, und wahrscheinlich noch ein Weilchen. Das kannte sie schon. Sie war auch abstrakt treu. Aber es leben, nein, das ging nicht mehr. Sie waren auf dem beseten Wege gewesen, in Selbstzerfleischung überzugehen, und vorgestern dann…

„Marie, wollen wir los?“ holte sie Otto aus ihrem inneren Szenario. „Ich habe noch ein paar Fotos gemacht. Aber hier sind schon so viele Leute drübergegangen, dass vor lauter Spuren keine Spuren mehr da sind. Ich habe vom Umgebungsstaub der Fundstücke Proben eingesteckt, aber große Hoffnung mache ich mir da nicht.“

Aha, war doch mehr passiert, als Herr Schöning kundgetan hatte.

„Ja, ich denke auch, dass wir so weit alles haben. Lassen Sie uns los.“

Marie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war schon wieder zehn nach zwölf. Sie überlegte kurz. In der Amts-Kantine war heute am Dienstag vegetarischer Trauertag, da gab es nur die Sparversion, bei der die Köche lediglich das Fleisch wegließen und statt dessen sollte einen ein auf dem Speisezettel ergänzter Rohkost-Salat satt machen. Oder vom Fleischverzicht abhalten. Marie vermutete eher letztere Intention. Sie würde lieber nach Hause fahren und was Ordentliches essen. Klara kochte jeden Tag für Lukas und prophylaktisch immer auch eine Portion für ihre Tochter mit. Und inzwischen auch vegetarisch. Und auch das sehr gut.

Lukas hatte Dienstags seinen kurzen Schultag, so dass es heute schon um Viertel vor eins etwas zu essen gab.

„Otto, ich fahr nach Hause und lass mich dort bekochen. Ich komme nachher bei Ihnen vorbei. Bis dann.“

„Jau. Prima. Ich halte die Kantine in Betrieb. Man tau, meen Deern.“

7

Die mit Soja und Sesam gefüllten Kohlrouladen dampften zwischen gelben Kartoffeln auf drei Tellern, als Maries kauender Genuss von auf dem Tisch dröhnend vibrierenden Salsarhythmen gestört wurde.

„Ach, nee. Jetzt esse ich grad. Später.“ brummte sie leicht ungehalten mit vollem Mund hervor. Sie war aber noch neugierig genug, auf dem erleuchteten Display nachzuschauen, wer es denn wagte…

„Auch noch Martin!“ zischte sie vor sich hin. „Der hat vielleicht Nerven.“

„Martin? Dein Martin?“ fiel Klara ein. „Dann bestelle ihm ganz herzliche Grüße von mir. So ein netter Mann.“

„Klara!“ entgegnete Marie unwirsch. Wenn ihr die mütterliche einmischung in ihr Leben zu viel wurde, fiel Marie sofort von der zärtlichen Mama-Anrede ab. „Das ist nicht mehr mein Martin. Wir haben uns getrennt. Aus. Vorbei. Ich habe den alten Streithahn ein für alle Mal vor die Tür gesetzt. Das passte eben doch nicht mit uns beiden.“

„Aber Marie, Hobeln gehört doch zum Geschäft.“

„Wo gehobelt wird, da fallen…ach, egal. Mit Martin ist Schluss und das wars. Und jetzt lass uns doch bitte in Ruhe essen. Lukas, wie war deine Mathearbeit?“

„Prima. Der Martin hatte mir das letzte Woche prima erklärt mit dem Malnehmen und Teilen. Ich konnte das richtig gut.“

Martin, Martin. Konnte sie nicht einmal mehr über ihr eigenes Leben selbst entscheiden? Sie wollte diesen Mann nicht mehr sehen und alle um sie herum lieferten ihn ihr immer wieder aufs neue auf einem silbernen Tablett.

Sie hatte Martin auf einer Party bei Helga kennengelernt. Beide standen etwas verloren in der Küche herum, eigentlich schon satt gegessen, auf der unbestimmten Suche nach etwas. Marie, keine Meisterin des Smalltalks, platzte etwas unvermittelt heraus: „Die Musik ist ja kaum zum Aushalten, entweder esoterische Kling-Klong-Dudelei oder Techno. Dabei hatte ich mich so auf ein bißchen Abhotten gefreut.“

Martin strahlte sie sofort mit seinen hellgrünen Augen an. „Ja, die Musik ist nichts, das finde ich auch.“

Rote lange und leicht lockige Haare. Marie schaute ihm direkt in die Augen. Was für ein Mann. Sie wurde leicht rot. Sie konnte wohl hundert werden, aber würde immer noch wie ein Schulmädchen erröten. Son Schiit aber auch. Doch ach, was solls. Er hat ja auch rote Haare, schmunzelte Marie in sich hinein.

„Magst du Salsa?“ riss sie seine Frage aus ihrem inneren Film.

„Oh ja, ich liebe Salsa, Merengue. Auch argentinischen Tango.“

„Ich kenne einen Club, da ist noch was los jetzt. Hast Du Lust?“

Noch ehe Marie stutzen konnte, kam ein klares „Ja. Sehr gerne.“ aus ihr heraus.

Es wurde noch einer der schönsten Abende ihres Lebens. Martin tanzte göttlich und führte sie mit sanfter Bestimmtheit übers Parkett. In den Pausen unterhielten sie sich, als würden sie sich schon Jahre kennen. Marie hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht und geredet. Martin brachte sie noch ganz klassisch nach Hause, wo sich Marie mit einem Kuss verabschiedete. Zunächst auf die rechte Wange. Dann küsste sie ihn richtig, was er sofort sanft erwiderte. Marie musste sich richtig losreißen von diesem rothaarigen Juwel. Und sie beherrschte sich, ihn nicht gleich mit in ihr Körbchen zu nehmen. Es war immer ein Fehler, zu schnell in der Kiste zu landen. Aber sie konnte dennoch kaum die Finger von ihm lassen. Martin war eher zurückhaltend, was Marie noch mehr öffnete. Doch sie blieb eisern an diesem ersten Abend.

Eine Woche später sahen sie sich wieder, in dem gleichen Club, mit der gleichen Freude – doch es waren nun schon deutlich mehr Türen geöffnet. Dieser rote Hüne zog sie derart körperlich an, so etwas war ihr noch nie passiert. Wenn beim Merengue ihre Becken einander touchierten, umkreisten wusste Marie kaum noch wohin mit sich. Alle inneren Tore schienen geöffnet: Marie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Körper sich je so voll und lebendig angefühlt hatte. Lustvolle Gischt strömte durch ihren Körper, durchfloss alle Ecken und Winkel, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass sie da waren. Die Gespräche mit Martin waren so leicht und heiter, dass Marie, sonst zu Beginn eher wortkarg, in den Tanzpausen erzählte und erzählte und lachte und lachte.

So mussten sich verliebte Teenager fühlen, fiel Marie ein. Aber vielleicht war das auch nur ein Bild. Sie hatte das damals ausgelassen, war mit innerer Weiterentwicklung und philosophisch-psychologischen Grundfragen der grundsätzlichen Existenz des grundsätzlichen Menschen beschäftigt.

Martin brachte sie wieder nach Hause. Diesmal fiel der Kuss länger und intensiver aus. Ihre Einladung, mit zu ihr zu kommen, quittierte Martin mit „Wir haben doch alle Zeit der Welt – lass uns etwas davon“ und küsste sie zum Abschied sanft auf die Stirn.

Sie ließen sich Zeit und Marie genoss ihr nun auf Wolke Sieben stattfindendes Leben. Sie trafen sich regelmäßig im Salsa-Club und auch zunehmend häufiger zwischendurch, gingen an der Ostsee spazieren, turtelten auf einer Grachtenfahrt in Friedrichstadt und hörten sich Konzerte in Hamburg oder Kiel an. Sie redeten viel und erzählten sich ihre halben Leben. Und ebenso gerne und entspannt schwiegen die beiden miteinander – für Marie ein Signal wirklicher Vertrautheit: Miteinander wohltuend schweigen können.

Auch Lukas schien diesen neuen Mann in ihrem Leben offentsichtlich zu akzeptieren. Marie war jedoch mit gemeinsamen Verabredungen zurückhaltend, um ihrem Sohn nicht unausgegorene Vater-Testungen zuzumuten. Sie wollte sich erst selbst klar darüber werden, was aus ihr und dem roten Martin werden könnte oder würde.

Und erst einmal wurde. Gut zwei Monate nach Helgas Party verabschiedete sich Martin nicht per Kuss vor seiner Haustür von Marie. Sein Mund suchte nicht ihre Lippen, sondern seitlich ihr Ohr und flüsterte mit züngelnder Verführung ein „komm mit“ hinein. Marie schoß es durch und durch. Ihr Verstand rekapitulierte: Sollte sie jetzt – all die Wochen fast unaushaltbar keusche Zurückhaltung übend – nur auf einen Wink von dem Mann gleich beim ersten Versuch nachgeben? Und wieder flutsche ein „ja“ an ihrem Verstand vorbei aus ihrem Mund heraus, der sogleich seine Lippen, seinen Hals suchte. Ihr Körper schrie förmlich das „ja“ hervor und drängte sich mit stummem Stöhnen an den seinen.

Was dann passierte, war schön, atemberaubend, ekstatisch, einfach nur wunderbar. Ihre Körper verschmolzen, trennten sich und vereinigten sich in vertrauter Fremdartigkeit. Zugleich fremd, weil zwei verschiedene Menschen, liebten sie sich, als würden sie sich schon Jahre kennen, spürten genau, was der andere wollte, was er brauchte und sie waren bereit, es dem anderen zu geben. Sie fielen nicht in die Bewusstlosigkeit des Schlafs, weil selbst das einfache Atmen des anderen für jeden der beiden ein Genuss war. Sie liebten sich und hielten einander zärtlich fest, als ob sie sich endlich wiedergefunden hätten.

Gegen acht Uhr morgens rief Marie ihre Mutter an. „Kannst du dich bitte heute um Lukas kümmern. Er hat heute um elf Uhr ein Badmintonspiel. Kannst du ihn hinbringen, bitte? Ich kann hier nicht weg. Geht das?“

Klara spürte das Vibrieren in Maries Stimme und freute sich breit grinsend für ihre Tochter: „Lass dir nur Zeit. Ich übernehm Lukas. Ich bring ihn zu Training und koche und mache mir mit ihm einen schönen Tag. Du dir auch, bitte!“

„Danke, Mama,“ brachte sie noch hervor, ehe sie, schon bedeckt von Martins Küssen, mit ihrem Handy in den Kissen versank und kaum den Ausschalter fand.

Ihre Wolke sieben war sehr stabil und groß. Die Zauberzeit der Verliebtheit währte für Marie und Martin über Monate. Solch eine Intensität und Offenheit hatten beide noch niemals zuvor erlebt. Sie verliebten sich immer mehr ineinander, vergewisserten sich, dass es nun aber nicht noch mehr werden könne und es wurde bei der nächsten Begegnung noch mehr, noch voller, nach weiter, noch näher. Bald spürten beiden, dass aus ihrer Verliebtheit eine große tiefe Liebe erwachsen war. Maries Glück war so unbeschreiblich, dass sie es manchmal kaum aushalten konnte.

Und genau da machte sie ihren verhängsnisvollen Fehler. Sie wollte nichts wegwerfen. Es trieb sie nur der unstillbare Drang des Ausprobierenwollens: War es mit Martin das Wahre? Auf dem Fortbildungsseminar „Profiler – Neue Verhör-Psychologie“ – ausgerechnet – in Hamburg probierte sie aus, wie sich alles mit einem anderen Mann, einem anderen Körper, einer anderen Seele dahinter anfühlte. Doch dieser Ludger Bierbaum verliebte sich ausgerechnet in sie, spürte ihr nach, lauerte ihr irgendwann sogar auf, sprang jedenfalls mit aller Gewalt in Martin´s und ihr Leben, und in ihre Liebe. Martin stellte sie zur Rede und wollte mit Marie alles besprechen. Immer reden. Ruhig kontrovers. Seine Streithultur eben.

Marie konnte das nicht. Und zum Schluss posaunte Marie vor lauter schlechtem Gewissen künstlich aufgeputscht herum, sie wolle sich nicht knebeln lassen, sie brauche ihre Freiheit. Und wenn er das nicht aushalten könne, könne sie ihm auch nicht mehr helfen, dann solle er gefälligst gehen und sie in Ruhe lassen. Und Martin ging schließlich und ließ sie in Ruhe.

Marie wurde seither schier verrückt vor Sehnsucht und vor Stolz und vor Sehnsucht und vor Selbstvorwürfen und vor Stolz und vor Schmerz, altem und neuem. Wegen nichts hatte sie alles kaputt gemacht. Wegen nichts. Martin hatte wohl recht: Sie hielt Glück nicht aus, nicht auf Dauer, musste wohl kaputt machen, was ihr so viel…

„Mama, bringst du mich gleich bei Tom vorbei, wenn du wieder zur Arbeit fährst?“ riss Lukas´ Frage Marie aus ihrem Erinnerungsfilm. „Dann kann ich den Physik-Baukasten mitnehmen. Ich und Tom wollen nämlich ein bißchen ausprobieren.“

Ausprobieren! Das letzte Experiment hatte die Sicherungen im ganzen Haus rausfliegen lassen.

„Aber sei vorsichtig. Hast du denn deine Schulsachen fertig?“

„Mama,“ antwortete ihr Sohn genervt. Er hasste Kontrolle, war darin – unter anderem – so deutlich ihr Sohn, dass ihr schon manches Mal ein Schauer bei dem Gedanken über ihren Rücken lief. „Ich habe alles klar.“

Und weil seine Mutter ihn weiter schweigend anstarrte, fügte er hinzu: „Gestern alles erledigt, heute nichts neues dazu für morgen. So. Nun zufrieden?“

Zufrieden. Nein, sie war nicht zufrieden. Wie konnte sie. Sie hatte ihre große Liebe aus dem Haus gejagt, allein wegen unverständlicher und völlig diffuser Freiheitsgelüste. Sie konnte Martin doch nicht einfach so aus ihrem Leben streichen. Sollte sie um ihn kämpfen? Und wie macht man das überhaupt?

„Mama!“ drängte Lukas mit Nachdruck auf Antwort.

Marie fuhr leicht zusammen. Lukas. Tom. Physik. Fahren.

„Jaja.“ warf Marie wie unbeteiligt auf den Mittagstisch. Dann ging sie in ihre Gegenwartsenergie zurück: „Ja, Lukas. Aber mach dich jetzt sofort fertig und pack alles zusammen, was du mitnehmen willst. Ich muss nämlich gleich los.“

Marie warf einen forschenden Blick auf ihre Mutter. Hatte Klara etwas von ihrem inneren Szenario mitbekommen? Klaras ernster Blick beantwortete ihre stille Frage mit einem klaren Ja.

Marie stopfte sich das letzte Endstück der köstlichen Kohlroulade in den Mund und schob die letzte Kartoffelhälfte mit Soße nach. Noch kauend stand sie auf, sah kurz die Post auf der Anrichte durch, brummte ein mit ihrem vollen Mund unverständliches „Schooo, Mmmmh“ und zog mit ihrem bepackten Sohn aus dem Haus.

8

Auf dem Weg zu ihrem Büro traf Marie auf einen ungewöhnlicherweise fast aufgeregt wirkenden Otto Storm.

„Marie, Sie werden mir ja langsam unheimlich. Woher wussten Sie, dass ein Zettel im Schaft des seltsamen Bastpinsels ist?“

Marie reagierte verduzt. „Zettel. Welcher Bastpinsel?“ Sie war noch gar nicht wieder ganz in ihrer Arbeit angekommen. Martinitis.

„Ich habe einen Zettel in einem winzigen Geheimfach in dem Griff des zweiten Fundstücks aus der Kühlhalle gefunden.“

„Nee!“ entwich Erstaunen aus Marie.

„Doch.“

„Das müssen Sie mir aber gleich zeigen. Hatte ich so etwas in die Richtung gesponnen?“

„Jow, jow. Deshalb bin ich hier. Das müssen Sie sich angucken. Aber woher Sie das wussten!“ antwortete Otto und brummte „Spökenkiekerfamilie“ vor sich hin.

Tatsächlich holte Otto mit einer Pinzette aus einem winzigen, ins Holz eingeschnitztem Fach einen auf kleinstes Maß zusammengefalteten Zettel hervor. Marie staunte nicht schlecht.

„Ich kann micht gar nicht erinnern. Das habe ich Ihnen gesagt, dass da eine Art Schublade drin ist in dem kleinen Ding?“

„Nicht so konkret. Aber so in etwa.“

„Woher sollte ich das denn wissen?“

„Eben.“

„Steht denn was drauf auf dem Papier?“

„Jau, meen Deern. Aber: Kannitverstaan.“

Otto entfaltete vorsichtig mit zwei Pinzetten das winzige Papierpaket. Figuren und Zeichen kamen zum Vorschein. Ein wenig wie kindliche Strichmännchen, zugleich aber mit feinen kunstvollen Ziselierungen versehen. Dazwischen eine Art primitive Schriftzeichen, etwa gerade Linien mit gut zwanzig quer dazu verlaufenden kleinen Strichen. Vielleicht Zahlensymbole. Oder die schlüsselartigen Gebilde. Eine Art aufrechte Hantel und ein doppelt umrandetes, geschlossenes und wie innen durchgestrichens liegendes Rechteck konnte Marie erkennen.

Marie hatte noch niemals etwas Vergleichbares gesehen, was aber nichts hieß, denn sie war eher eine Geschichts- und Altertumsbanausin. Hätte sie sich die altägyptischen Hieroglyphen in den Museen oder die keltischen Buchstaben auf den Grabmalen bei ihren diversen Wanderungen durch Wales doch einmal genauer angesehen, dann hätte sie vielleicht etwas mehr Gefühl für diese Zeichen hier.

„Ich habe auch nicht die geringste Ahnung, was diese Zeichen bedeuten könnten. Da man sich aber große Mühe gegeben hat, sie gut zu verstauen, werden sie sicherlich auch eine entsprechende Bedeutung haben.“

„Jau, wohl wahr,“ stimmte der Kriminaltechniker ihr zu.

Otto fotografierte den geheimnisvollen Zettel ab und faltete das Papier akribisch mit seinen Pinzetten wieder zusammen, um das kleine Päckchen mit leuchtenden Augen ob der fein gearbeiteten Technik wieder im Schaft des seltsamen Wedels verschwinden zu lassen.

„Geben Sie mir schnellstmöglichst die Fotos hoch, Otto. Ich gebe sie dann nach Hamburg weiter, die kennen sicher Spezialisten für so etwas. Und danke, Otto – sie sind ein Genie, dass sie das gefunden haben!“

„Deern, hast du mir doch vertält,“ antwortete Otto leise vor sich hin und lächelte Marie sanft und freundlich an.

Nun konnte sich Marie endlich auf den Weg in die Kieler Gerichtsmedizin machen.

„Guten Tag, Dr. Möller,“ begrüßte Marie den Pathologen. „Sie ahnen gar nicht, wie weit der Weg zu Ihnen in den Leichenkeller sein kann. Nicht nur die 38 Kilometer zwischen Rendsburg und Kiel.“

„Nun ja, so richtig gerne kommt auch niemand hier hin. Guten Tag, Frau Johannsson.“

„Sie haben doch bestimmt inzwischen etwas für mich?“

„Immerhin schon einmal die Todesursache.“

„Aha.“

„Es ist definitiv keine natürliche Todesursache. Der Kleine ist bewusst und willentlich durch fremde Hand zu Tode gekommen.“ begann Dr. Möller mit ungewohnt harter Förmlichkeit. Der Fall schien ihn auch ihm an die Nieren zu gehen.

Und in Maries Richtung fragte er: „Soll ich es Ihnen zeigen oder reicht es in diesem Fall, wenn ich es Ihnen ausführlich erkläre.“

Marie wurde schon bei dem Gedanken flau. „Mir wäre es lieber, Sie würden mir die Fakten, die Sie rausgefunden haben, erklären. Wenn wir es dringend brauchen, können wir es ja immer noch rausholen. Danke.“ Marie hatte sich im Lauf der Jahre einigermaßen an die Leichen gewöhnt, aber das hier…

„Also,“ fuhr Dr. Möller fort. „Ich habe geringe Spuren von blutigem Schaum im rechten Vorhof des Herzens gefunden. So ein Gefühl sagte mir, sehr schnell eine ausführliche Blutgasanalyse zu machen, und siehe da: Der Kleine ist mit Luft getötet worden. Ihm ist eine für seine geringe Größe vergleichsweise große Menge Umgebungsluft in die Vene verabreicht worden. Gestorben ist er an einer Luftembolie. Wäre die Leiche nicht vergleichsweise schnell gefunden worden, hätten wir die Todesursache durch Fremdeinwirkung gar nicht mehr feststellen können, weil sich die injizierte atmosphärische Luft dann bereits unnachweisbar mit den Blutgasen vermischt hätte. So konnte ich aber eindeutig im Herzen ein Gasgemisch finden, dass definitiv zu viel atmophärische Luft enthält. Der signifikante blutige Schaum im rechten Vorhof entsteht durch die Verwirbelung mit der eingedrungenen Luft. Das war der Hinweis, den uns der kleine Körper gegeben hat. Der übliche Chemikaliencocktail, den ich sicherheitshalber gemacht habe war übrigens erwartungsgemäß negativ. “

„Und wie tritt durch die injizierte Luft dann der Tod ein?“ wollte es Marie genau wissen.

„Die Luftblase verstopft wie ein Pfropf die Lungenarterien, vor allem die peripheren Ausläufer der Aorta pulmonalis. Das Herz muss nun gegen einen immer größeren Widerstand in der Lunge anpumpen. Es kommt zu entsprechender Rechtsherzbelastung und gleichzeitig ist der venöse Rückstrom zum linken Herzvorhof vermindert. Das Blut staut sich in den gesamten venösen Körperkreislauf zurück. Letztlich kann das Herz dagegen nicht mehr anarbeiten und bleibt stehen. Herzstillstand mit daraus folgender Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff ist also die letztliche Todesursache. Immerhin musste der Kleine bis auf eine sehr wahrscheinlich nur kurze Atemnot nicht so leiden…“

Die beiden Kriminalbeamten standen sich eine Weile in betroffenem Schweigen gegenüber.

„Ich habe allerdings ein kleines Problem, Frau Johannsson.“

„Ja?“
„Ich habe noch keine Einstichstelle am Körper des Junge gefunden. Nun ist er zwar noch ein Baby gewesen, da kann es vielleicht eventuell sein, dass die Injektionswunde – die ist ja winzig klein – sehr schnell wieder verwächst, zuwächst, so dass ich keinerlei Chance habe, diesbezüglich noch Spuren zu finden. Aber ein bißchen seltsam finde ich das schon.“

„Und eine krankhafte Embolie könnte das nicht gewesen sein. Das gibt es doch auch auf natürlichem Weg, dass ein Mensch an einer Embolie stirbt. Aber das sind eher ältere Menschen, oder?“

„Ja, sicher. Rein theoretisch kann auch ein Neugeborenes an einer Embolie sterben, sicher. Aber die Luftmenge, die ich noch Stunden nach seinem Tod in seinem Körper gefunden habe, ist vom Volumen her, vor allem wenn man die Resorptionszeit mit einrechnet, viel zu groß für eine natürliche Ursache gewesen. Und außerdem hat die Blutgasanalyse ergeben, dass es sich bei dieser großen Luftmenge um Umgebungsluft gehandelt hat. Und die kommt nicht so ohne weiteres in einen Körper hinein.“

9

Gott sei dank musste Marie nicht durch den Elbtunnel, das Nadelör Hamburgs. Rendsburg lag eine ganze Ecke nördlich der Hansestadt und sie konnte die Autobahn bereits verlassen, bevor der Verkehr anfing sich zu verdichten und vor den Tunnelröhren zu knubbeln.

Gabi Schliepers Dienststelle, das Hamburger Polizeikommissariat 17, lag sehr zentral beim Schlump, zwischen Bundesstraße und Grindelallee. Marie stellte ihren Wagen auf dem Besucherparkplatz ab. Erst die obligatorische Suche nach einer Toilette – schließlich hatte sie knapp zwei Stunden im Auto gesessen und heute morgen schon reichlich Tee getrunken. Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock des Gebäudes: Mordkommision. Sie fand gleich das Zimmer ihrer Kollegin, klopfte an und trat fast zeitgleich ein.

Die beiden ungleichen Frauen fielen sich erst einmal – nicht ganz ohne eine gewisse Förmlichkeit – in die Arme. So weit dies möglich war. Marie mit ihren einsachtzig überragte die kleine dicke Gabi Schlieper um einen Kopf. Marie bemühte sich bei solchen Begrüßungen stets, sich nicht zu weit herunterzubeugen, um Gabi nicht ein vermeintliches Von-oben-herab-Gefühl zu vermitteln. Gleichzeitig musste sie sich aber herunterbeugen, um den Größenunterschied etwas zu kaschieren. Deshalb war die ganze Angelegenheit immer auch ein wenig steif und Marie froh, wenn sie es hinter sich gebracht hatte.

Dieses verhaltende Element zog sich stets auch durch ihre Kontakte, Begegnungen und Gespräche. Marie fand sich zwar nicht besonders emotionsgesteuert oder gefühlsbeladen, aber Gabi kam ihr doch häufig betont sachlich und rational vor. Auf den ersten Blick würde man das bei der kleinen und meistens resolut auftretenden blonden Frau nicht vermuten. Da machte Marie sicherlich einen zunächst wesentlich cooleren Eindruck auf ihre Umgebung.

Robert Leicht kam im nächsten Augenblick durch die Verbindungstür herein.

„Moin, Robert,“ entfuhr es Marie mit einem schweren Atemzug. „Du siehst ja jedes Mal wieder einen Deut besser aus, schöner Mann.“

Diese Begrüßung gefiel dem smarten Kriminalkommissar außerordenlich gut. Mit einem Anflug von Mädchenhaftigkeit wand er sich zur Seite und legte dann den Arm um Maries Hüften. „Danke, Marie. Du bist aber auch nicht von schlechten Eltern.“ schmeichelte Robert sehr offensichtlich zurück. „Auch wenn ich da einen leichten Trauerflor um deinen Augen sehe, oder?“

Marie kannte keinen Mann, der so genau hinschaute und beobachtete, der so aufmerksam war wie Robert. Das würde ihm sein Dasein in der schwulen Männerwelt auch nicht immer nur leicht machen. Aber was wusste Marie schon von der schwulen Männerwelt? Da hatte sie sicherlich auch mehr abstruse Bilder im Kopf als dass ihre Vorstellungen etwas mit der Wirklichkeit von Robert zu tun hatten. Für seinen Job hier war der Mann jedenfalls bestens ausgestattet.

„Ja, es läuft grad nicht alles so rund, Robert. Aber das wird schon wieder.“

„Möchtest du einen Kaffee?“ wurde Marie von Gabi gefragt, die schon mit Thermoskanne und Becher vor ihr stand.

„Gerne,“ antwortete Marie. „Ihr habt nicht zufällig noch ein Brötchen oder sonst etwas Essbares für mich? Ich habe irgendwie einen Bärenhunger.“

„Doch, da kann ich was anbieten.“ Robert wühlte in seinem Rucksack und kramte eine gewaltige Tuppa-Dose hervor, die er genüsslich auf dem Tisch öffnete. „Kommt, Mädels, wir starten jetzt erst einmal mit einem kleinen zweiten Frühstück.“

Unter Stühlerücken setzten sich die drei so sehr verschieden gestrickten Kriminalkommissare an einen Tisch und brachten sich unter gelegentlichem Gelächter und ernsten Schweigemomenten erst einmal auf den neuesten Beziehungs- und Lebensabschnittsstand. So unterschiedlich die drei waren, so rasch entstand zwischen ihnen eine Nähe und Vertrautheit, als hätten sie sich gestern erst das letzte Mal gesehen. Die gemeinsame Bearbeitung eines Mordfalls vor fünf Jahren hatte die drei zusammengeschweißt. Sie hatten sich bis unter die Haut kennengelernt und die Erfahrung gemacht, dass sie sich unbedingt aufeinander verlassen konnten. Aber dieser Fall von damals ist eine ganz andere Geschichte.

„Doch nun zum eigentlichen Grund deines Besuches, Marie,“ setzte Gabi einen Schlussstrich unter ihr privates Begrüßungsgeplauder. „Robert, erzählst du als erstes, was du hinsichtlich des Albinos herausbekommen hast?“

„Ja, Chefin, du hast recht,“ stimmte der charmante Mittdreißiger ein.

„Also: Ich bin gestern zunächst im Hamburger Fruchtkontor gewesen. Es hätte ja sein können, dass wir Glück haben und gleich vor Ort den Tatverdächtigen finden. War aber nicht so – weder im Personalbüro noch bei den meisten Angestellten und Arbeitern, die ich habe sprechen können, ist ein Mensch mit Albinismus bekannt. Die meisten wussten nicht einmal, was das bedeutet. Ich war dann noch bei diversen Behörden und Firmen vorstellig, die in irgendeiner Art und Weise mit den grünen Bananen, die ausgeschifft wurden, zu tun haben: Zollamt, Großlager, Wartungsfirmen der Klimaanlagen in den Lagerhallen, Qualitätsprüfer und natürlich die Großspediteure, die die Bananen in die Zwischenlager überall in Deutschland verteilen. Nichts, kein einziger Hinweis auf ein menschliches Wesen mit Albinismus. Eher das Gegenteil, viele dunkelhäutige Nationalitäten arbeiten in den Bereichen der noch grünen Bananen, von mexikanischen Mestizen bis zu Schwarzafrikanern, vor allem aus Ghana und Tansania. Aber das hilft uns alles in keiner Weise weiter. Ich kann also leider – außer mit einem Ausschlussbefund – nicht mit erhellenden Ergebnissen dienen.“

„Ja, das wäre auch zu schön gewesen…“ antwortete Marie leicht sinnierend.

„Ich war auch nicht untätig in deine Richtung,“ ergänzte Gabi. „Ich habe einmal alle Krankenhäuser in der Umgebung des Hamburger Hafens abgeklappert. Ich habe mich etwas schlau gemacht über Albinos. Wegen ihrer Pigmentstörung neigen die Betroffenen zu Augenproblemen, bekommen leicht einen Sonnenbrand und Hautkrebs. Mit einer Krankenakte hätten wir gleichzeitig auch eine definitive Albinismus-Diagnose, denn der Laie muss Menschen mit dieser Pigmentstörung nicht gleich erkennen. Aber auch hier alles negativ. In den fünf Krankenhäusern, die ich kontaktiert habe, ist in gesamten letzten Jahr kein solcher Fall behandelt worden. Lediglich im Asklepios in St. Georg ist vor ein paar Wochen ein Albino zur Welt gekommen – aber der Kleine scheidet ja nun definitiv als Tatverdächtiger aus.“

„Und seine Eltern?“ fragte Marie nach.

„Sind beide keine Albinos. Die Eltern des Kleinen sind – ganz im Gegenteil sozusagen – Schwarzafrikaner, wenn ich mich richtig erinnere ursprünglich aus Tansania. Der Vater arbeitet seit einigen Jahren als Wissenschaftler, Biochemiker glaube ich, im botanischen Institut in Klein Flottbek. Also eine gebildete, gut situierte Familie, die mit der Bananenabteilung im Hafen wohl eher kaum Kontakt hat.“

„Ja, wohl eher nicht. Hast du sicherheitshalber trotzdem ihren Namen und ihre Adresse? Vielleicht sind sie ja das einzige, was wir haben.“

Gabi schob Marie ihre Unterlagenmappe rüber und die Rendsburger Kriminalhauptkommissarin notierte sich beiläufig Namen und Adressen der tansanischen Albino-Eltern in ihrem Buch.

„Das ist doch schon ein seltsamer Fall. Da taucht aus dem Nichts ein totes und verstümmeltes Baby auf, wohlgenährt und gut gepflegt, bevor es umgebracht wurde. Ach ja, ihr wisst das ja noch gar nicht. Unser Kieler Pathologe Dr. Möller hat die Todesursache des Kleinen bestimmt: Lungenembolie durch Fremdeinwirkung, wahrscheinlich durch die gezielte Injektion von Luft.“

„Oh, dann hast du ja Glück, dass dein Doc so findig und schnell war, sonst wäre diese merkwürdige Angelegenheit als „natürliche Todesursache: Herzversagen“ bald unter den Tisch gefallen.“ fügte Gabi Schlieper ein.

„Ja, das ist wohl wahr. Also das ehemals gut umsorgte Würmchen wird von nichts und niemandem vermisst. Es landet zwischen grünen Bananen, wo es normalerweise erst nach eingen Tagen oder sogar Wochen entdeckt worden wäre. Die von außen von fremder Hand herbeigeführte Todesursache hätte sich bis dahin im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst.“ führte Marie weiter aus.

„Das sieht doch alles in allem nach einem gut durchorganisierten und geplanten Vorgehen aus,“ ergänzte Robert. „Und es setzt Fachwissen voraus. Da muss sich jemand in Medizin und Physiologie auskennen, aber auch um die Besonderheiten der Bananenreifung, -lagerung und -auslieferung wissen. In einer Person vielleicht ein Betriebsarzt im Hafenbereich oder beim Zoll. Aber wie gesagt, es sind keine Menschen mit Albinismus im Personalbereich bekannt – was aber ja nicht heißt, dass es sie nicht gibt.“

„Könnte man einen Albino per DNA-Test identifizieren?“ warf Gabi ein.

Robert legte noch einmal nach: „Nur, damit wir nicht auf eine falsche Fährte kommen. Das gefundene pigmentfreie Haar kann dort nicht zufällig hingelangt sein, etwa schon vorher an dem Fundort gelegen haben?“

„Nein,“ antwortete Marie. „Otto – unser KTU-Mann – hat es definitiv an der Babyleiche gefunden. Er hat es sozusagen in der Poritze des Kleinen gefunden. Da war das fast wie festgeklemmt. Ob Albinismus per DNA-Analyse belegt werden kann, weiß ich nicht.“

„Ich auch nicht,“ ergänzte Robert. „Aber ich mach mich gleich mal auf die Suche im Internet, vielleicht kann ich dazu etwas recherchieren. Oder, nein, ich rufe vorher noch unseren Doktor Weisinghaus an. Vielleicht weiß der das ja.“
Robert stand auf zu ging schnurstracks zu seinem Telefon. „Leicht hier. Guten Morgen, Dr. Weisinghaus. Ich bräuchte eine Information. Kann man Albinismus mit Hilfe eines DNA-Tests nachweisen, wissen Sie das?“

„Moin, Moin, Herr Leicht. Sie haben ja Probleme kurz vor Mittag.“ kam die etwas Energie aus dem Anruf herausnehmende Antwort aus der Hamburger Pathologie. „Was ich aus dem Stegreif weiß ist, dass Albino nicht gleich Albino ist. Manche können überhaupt keine Pigmente produzieren und sind durch und durch farblos – in Anführungsstrichen – während andere nur Probleme mit den Augen haben. Ich vermute, dass die Genetik dazu aufgeklärt ist, aber ich weiß nicht, auf wie viele Chromosomen oder Gene sich der Defekt verteilt,“ sprach der Mediziner nun mehr vor sich hin als in den Hörer. „Herr Leicht, ich mache mich kundig und rufe sie gleich zurück.“

Robert blieb nur noch das Besetzzeichen. Nur kurz verdutzt stellte er sein Telefon aus und nahm es mit, als er zurück zu den Frauen ging.

„…Otto im Griff des Bastwedels gefunden.“ hörte Robert noch Marie sagen, als er wieder am Tisch Platz nahm. Marie hatte Otto´s Fotos von den beiden Fundgegenständen aus der Rendsburger Großmarkthalle vor Gabi Schlieper ausgebreitet. Die Hamburgerin vertiefte sich sofort in die Aufnahmen. Mit fasziniertem Gesichtsausdruck blieb ihr Blick am Foto des Zettels mit den Schriftzeichen hängen.

„Das ist afrikanisch, das ist ziemlich sicher afrikanisch!“ brachte sie aufgeregt hervor. Mit glühendem Gesicht stand Gabi Schlieper auf, unentwegt auf das Foto starrend. „Ich kenne die. Ein paar davon habe ich schon mal gesehen.“

Sie setzte sich an ihren Arbeitsplatz, legte das Foto vor sich auf den Rand der Tastatur und war schon in der digitalen Welt jenseits von Google verschwunden.

Marie grinste. Der Bullterrier in ihrer Kollegin hatte Blut geleckt.

Im nächsten Moment klingte Robert´s Telefon.

„So, Herr Leicht. Ich bin jetzt etwas schlauer als vorhin.“

Dr. Weisinghaus klang fast wie geistig außer Atem.

„Bislang hat die Forschung 12 Gene für den Albinismus lokalisiert. Sie verteilen sich auf 9 verschiedene Chromosomen. Wir Menschen verfügen über 22 mal zwei Chromosomen plus zwei Geschlechtschromosomen X und Y. Die somatischen Chromosomen liegen ja alle doppelt vor. Albinismus tritt zudem in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Bei einem Typ handelt es sich um okulären Albinismus, das heißt, es sind lediglich die Augen betroffen. Die anderen 11 Gene codieren für okulokutanen Albinismus, bei dem Augen- und Hautpigmentierung betroffen ist. Die fehlende Pigmentierung kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein bei Albino-Menschen. Leicht verminderte Pigmentierung führt nur zu vielleicht etwas helleren Haaren und lichtempfindlichen Augen. Fehlen die Pigmente komplett, ist das Haar schlohweiß, die Haut fast durchscheinend, porzellanartig blass und die Augenfarbe variiert von blau über grau bis grünbraun. Die Hypopigmentierung der Iris führt jedoch stets zu einer Durchleuchtbarkeit der Iris, da die Pigmente im iridalen Pigmentepithel fehlen. Das zieht das auch die Photophobie – äh, Lichtempfindlichkeit – nach sich, mit der jeder Mensch mit Albinismus zu tun hat. Es besteht jedoch keine Eins-zu-eins-Korrelation zwischen dem betroffenen Genlocus und der Ausprägung der Pigmentierungsstörung.“

„Aha,“ reagierte Robert etwas benommen angesichts der Informationsflut und des Fachvokabulars. Ein wenig hatte er aber schon verstanden. Doch seine eigentliche Frage schien ihm noch unbeantwortet.

„Heißt das, wir könnten mit Speichelproben einen Albino identifizieren.“

„Ja, das könnten wir. Das ist zwar nicht gerade Routine, aber es geht,“ kam die Weisinghaus´sche Fachantwort. „Und wir können auf der Molekularebene sogar verschiedene Albino-Typen voneinander unterscheiden.“

„Aha,“ verstand Robert. „Wenn ich Ihnen also eine Albinohaar mit Haarwurzel bringen würde, könnten sie mit einem Speicheltest entsprechende Zuordnungen treffen?“

„So herum ja sowieso. Dann kann ich ja routinemäßig die DNA-Sequenzen vergleichen, um die Übereinstimmung der Identät zu beweisen. Das hat ja nichts mit Albino oder Nicht-sein zu tun.“ erklärte Dr. Weisinghaus.

„Ja, ja, stimmt ja,“ nahm Robert seine Frage zurück. „Dann reicht ja der normale DNA-Vergleich. Sicher.“ Die kriminaltechnischen Methoden waren schon reichlich kompliziert – schoss es Robert durch den Kopf. Aber äußerst hilfreich. Gott sei dank war die Zeit von Fingerabdrücken und Lackmuspapier schon länger vorbei. So richtig verstand Robert nicht, was die Kriminalen sich zusammenmixten. Aber das musste er ja auch nicht. Weisinghaus verstand jedenfalls sein Handwerk.

Marie hatte die letzten zehn Minuten erleichtert erstaunt auf ihrem Stuhl gesessen. Sie hatte ihnen ihr Futter vor die Füße geworfen und ihre Kollegen und Freunde hatten sogleich angebissen und die Jagd begonnen. Es war goldrichtig gewesen, selbst hier nach Hamburg zu kommen. Marie genoss die professionelle Geschäftigkeit von Gabi und Robert um sich herum. Sie lehnte sich entspannt auf ihrem Stuhl zurück, streckte sich noch einmal, um ihren Körper von der anstrengenden Autofahrt zu dehnen und zu wecken. Sie atmete tief durch, machte mit ihrem derzeitigen Lieblingsmantra „eie-ascha-eie“ eine stille Mini-Lichtmeditation, um sich energetisch in ihrer Mitte zu zentrieren. Längere Autofahrten und fremde Behörden brachten sie sonst schnell aus dem Lot.

Robert setzte sich neben sie. „Ich weiß jetzt mehr, Marie. Aber ich warte noch, bis sie fertig ist, sonst muss ich das ganze zwei Mal erzählen,“ sagte mit dem Kopf in Gabi´s Richtung nickend.

„Ja, sicher, Robert,“ reagierte Marie und genoss den Anblick dieses bildschönen Mannes. Gut einsfünfundsiebzig groß, schwarzes volles Haar, das sein feines Gesicht mit großen Locken umschmeichelte. Und trotz dieser weichen Nuancen ein sehr männliches Gesicht mit markantem Kinn und leicht asiatisch schmalen, aber unglaublich braunschwarzen und leuchtenden Augen.

Robert merkte, dass Marie seine Erscheinung mit einem gewissen Unterton musterte. Er schenkte sich Kaffee nach und fragte seine Kollegin, ob sie auch welchen wolle.

Das riss Marie für Sekunden aus ihren Gedanken, die inzwischen bei Martin, „ihrem“ – rein äußerlich betrachtet – absoluten Gegenstück zu Robert, gelandet waren.

Robert schaute sie mit einer stummen Frage an.

Marie fühlte sich wie ein offenes Buch neben diesem einfühlsamen Mann, selbst hier im Hamburger Kripo-Büro.

„Ja, ich denke an einen Mann, Robert. Ja, und ich bin unglücklich verliebt. Ja, und ich habe Scheiß gemacht,“ brachte Marie mit gespielter Genervtheit heraus und wand sich auf ihrem plötzlich klein und unbequem werdenden Stuhl hin und her. „Ihr Jungs habt aber auch wirklich einen siebten Sinn für Liebesdramen!“ warf sie ihm ihre eigene Verletzung mit Härte kaschierend entgegen und zeitgleich ihren Kopf in den Nacken.

„Sorry,“ nahm sie ihren Rundumschlag, der zufällig Robert getroffen hatte, wieder zurück. „´schuldige, Robert. Ich wollte dich nicht anfahren. Ich weiß es immer sehr zu schätzen, wie gut du hinguckst. Und nicht nur im Dienst.“

Marie holte tief Luft und bekam sogar leicht feuchte Augen. „Ich bin verletzt, wütend, hilflos, und ich habe – glaube ich – einen großen Fehler gemacht.“

„Meist lässt sich so was auch wieder korrigieren, Marie,“ sagte Robert und schaute Marie sanft mit seinem strahlschwarzen Blick an.

„Ja, ja, ja, Kinners! Ich hab was!“ löste Gabis lautstarker Einwurf die Besinnlichkeit der beiden auf. „Kommt mal schnell her!“

Marie und Robert sprangen fast gleichzeitig auf und eilten zu Gabis Platz.

„Na, was sagt ihr?“ fragte Gabi, sich sehr zufrieden zurücklehend.

„Tatsächlich, Gabi. Du hast es gefunden!“ rief Marie aus.

Zwei der Zeichen auf dem abfotografierten Zettel wiederholten sich auf dem Bildschirm. Neben dem doppelt umrandeten und innen doppelt durchgestrichenen liegenden Rechteck stand „Mframa-dan (wind house). House built to stand windy and treacherous conditions.“ Und ein liegendes weißes und breites „S“ inmitten schwarzliniger Ausläufer, ähnlich wie ein Gebüsch wurde als „Bi-nka-bi. Obi nka obi (bite not one another). Avoid conflicts. Symbol of Unity“ erklärt.

„Ein schützendes Haus und Konfliktvermeidung,“ sinnierte Marie vor sich hin. „Einander nicht beißen. Symbol der Einheit.“

„Wie hast du das denn so schnell gefunden, Gabi?“ fragte Robert nicht ohne Bewunderung.

„Mir schwante so etwas Afrikanisches. Ihr wisst doch, ich als Afrika-Fan. Und dann habe ich einfach ein bißchen gegoogelt: Afrika und Schriftzeichen, Afrika und Symbole. Und dann kam das hier auch schon bald. Das ist übrigens Adinkra, eine in Ghana verwendete Symbolsprache. Ich habe grad gelesen, dass diese Zeichen ursprünglich nur von Königen und hochstehenden Führern verwendet werden durften. Heute werden zwar auch Firmenlogos mit den Zeichen bestückt, aber der Hintergrund ist auch heute noch immer religiös-spirituell. Und den Zeichen wird auch noch heutzutage eine Art Zauberkraft zugeschrieben. Aber das ist nichts Ungewöhnliches in Afrika. Die Menschen sind hier extrem abergläubisch und von allerlei Zauber und Sprüchen zu beeindrucken.“

Marie begann ihr Kopf zu dröhnen. Sie meinte, schon wieder – von Ferne diesmal – dieses Getrommel zu hören. Das konnte sie jetzt aber gar nicht gebrauchen. Sie atmete konzentriert und ruhig in ihren Solarplexus und dieser afrikanische Anflug verging wieder. Auch afrikanisch. Seltsam. Was hatte all das hier mit Afrika zu tun? Ein eher sehr hellhäutiger toter Junge zwischen unreifen Bananen aus Lateinamerika in einer sehr norddeutschen Kleinstadt und dieser dunkle Kontinent. Wie passte das zusammen? Aber vielleicht war sie auch völlig auf dem Holzweg, und es handelte sich bei allem nur um Zufälle. Nur weil die Babyleiche und die Puppe und der Bastwedel nichts in der Lagerhalle zu suchen hatten, musste zwischen den beiden Funden ja nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen. Hatte sich vor fünf Minuten noch alles immer klarer werdend angefühlt, war Marie jetzt komplett irritiert und verwirrt.

Sie veröffentlichte ihre Gedanken ihren beiden Kollegen.

„Wart ab, Marie,“ brachte Gabi ihre gemeinsamen Recherchen und Überlegungen zurück auf eine Sachebene. „Da werden sich noch Zusammenhänge auftun. Dazu sind diese beiden Fundstücke auch zu speziell, als das ein Zufall sie gerade neben eine Kinderleiche platziert.“

„Das denke ich auch,“ ergänzte Robert. „Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir ein gutes Stück vorangekommen sind. Ich mache mir mal Gedanken darüber, wie wir ein sinnvolles DNA-Screaning im Hafengebiet durchführen können, damit wir unseren unbekannten oder sich versteckenden Albino-Menschen und möglichen Täter oder sicherlich wenigsten Mitwisser oder Mittäter finden können. Dazu muss ich meine Gedanken etwas mehr sortieren und rumpuzzeln, fürchte ich. Deshalb empfehle ich mich erst einmal, meine Damen.“

Und schloss die Tür hinter sich.

©Angela Kämper

Kommerzielle Nutzung und Vervielfältigung, auch in Auszügen, nur mit Erlaubnis der Autorin. Ausdrucken, lesen und teilen zur privaten Nutzung ausdrücklich erwünscht.