Zauberjäger – Teil 4

Zauberjäger

Ein spiritueller Kriminalroman

von Angela Kämper

Teil 4

Hier nun Teil 4 des „Zauberjäger“ – Podcasts

15

Marie´s Herz klopfte bis zum Hals, als sie die Tür zum Pap´s Corner öffnete. Sie würde bestimmt keinen einzigen Ton herausbringen, und wenn, würden nur unsinnige Worte dabei herauskommen. Ob Martin schon da war? Ihr Blick schweifte durch den Kneipenraum. Er blieb an der vertrauten Gestalt an einem Tisch in der Ecke hängen. Blass sah er aus, sehr blass. Als sie langsam auf Martin zuging, sah sie ungewohnt dunkle Ringe, die das Strahlen seiner sonst leuchtenden grünen Augen dämpften. Unsicher flackernd und erwartungsvoll geöffnet schauten die geliebten hellgrünen Augen Marie entgegen.

„Hallo Martin,“ kam es sehr zart aus Marie heraus.

„Grüß dich, Marie,“ erwiderte Martin kaum kräftiger.

Als sie sich, nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, auf den gegenüberliegenden Stuhl setzte, strich Marie wie beiläufig über Martins auf dem Tisch liegenden Arm. Schweigend schauten sie einander in die Augen, dann wieder auf ihre mit sich selbst beschäftigten Finger. Doch immer wieder suchten ihre Augen das gegenüberliegende Tor zur Seele des anderen.

Doch ehe beide in ihrem erwartungsvollen Schrecken erstarrten, rettete sie die Bedienung: „Guten Abend, die Herrschaften. Möchten Sie die Karte haben?“

Das doppelte „Ja“ kam wie aus einem Mund.

Das „Kann ich Ihnen schon etwas zu Trinken bringen?“ zu den beiden, fein säuberlich vor ihnen drapierten geöffneten Speisekarten brach Gott sei dank endgültig das Schweigen.

„Ja, gerne,“ antwortete Marie. „Ich hätte bitte gerne ein alkoholfreies Hefeweizen.“

„Oh ja,“ klinkte sich Martin ein. „Das ist eine gute Idee. Ich hätte bitte auch gerne eins.“

Marie stürzte sich dankbar auf die Speisekarte: „Ich habe einen solchen Hunger. Ich habe zwar heute Mittag schon eine Pizza gegessen, aber ich könnte schon wieder ein ganzes Schwein vertilgen!“

Schon wieder so ein fleischlicher Spruch aus einer ihrer Vandaleninkarnationen, fiel Marie dazu ein. Mein Verstand hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ich kein Fleisch mehr esse. Und das bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr.

Marie bestellte einen Tofuburger mit Fritten und Salat und Martin begnügte sich mit einer Tomatensuppe.

„Wie geht es dir?“ Fast gleichzeitig kam den beiden an ihrem Weizenbier Nippenden diese Frage über die Lippen. Beide mussten ein wenig grinsen.

„Ich vermisse dich,“ begann Martin.

Ein erstaunlicher Mann – ging Marie durch den Kopf. Ein gestandener Kerl, der so leicht und mit großem Selbstverständnis über seine Gefühle sprechen konnte. Warm und weich umwaberte etwas ihr Herz. Martin konnte immer schon ihre norddeutsche Johannsson´sche Schweigemauer durchbrechen – sanft wohlgemerkt. Aber dafür hat die deutsche Sprache kein Wort. Durchdringen? Umgehen? Außer Kraft setzen? Das traf es alles nicht wirklich. Martin konnte sie mit solch sanfter Eindringlichkeit und Verbindlichkeit berühren ohne sie anzufassen, dass alle ihre Schutzwälle im gleichen Augenblick überflüssig wurden. Sie lösten sich in Nichts auf und Marie war einfach da, so wie sie war.

„Du fehlst mir so sehr.“ antwortete Marie. „Ich bin eine solche Idiotin…“

„Ja, das finde ich auch!“ ergänzte Martin ein wenig gespielt streng, mit einem sanften Lächeln auf seinen vollen Lippen – und doch mit einem sehr ernsten Unterton.

„Wirklich, ich bin so bescheuert,“ setzte Marie ihrem in Selbstanklage abzukippen drohenden Geständnis hinzu. „Es tut mir so leid, dass ich dir so weh getan habe…“

Es kullerte ungefragt eine Träne aus ihrem linken Auge.

Nicht schon wieder. Eine Heulattacke am Tag, noch dazu in aller Öffentlichkeit, das reichte ja wohl. Zumal hier noch Leute saßen. Und in dem kleinen Rendsburg war sie als Kriminalhauptkommissarin zudem eine fast öffentliche Person. Jetzt reiß dich aber mal zusammen, sprach Marie sich selbst Fassung zu.

Martin nahm über den Tisch hinweg ihre Hände in seine.

„Ich bin so eine komplette Vollidiotin, und eine verdammte Heulsuse dazu“ sagte Marie energisch, als die Kellnerin ihr Essen brachte. Die beiden Frauen schauten einander kurz mit klarem, wertschätzendem Blick an.

„Ich finde auch, dass du manchmal dazu neigst, dem Leben seine kompliziertesten Seiten abzugewinnen, das ist wahr,“ reagierte Martin.

„Kannst du mir denn verzeihen?“ fragte Marie sehr ernst mit einem unsicher drängenden Blick in seine hellgrünen Augen.

„Was heißt für dich verzeihen?“ fragte Martin zurück und knetete vorsichtig ihre weichen, kräftigen Hände.

„Können wir es noch einmal miteinander probieren? Ich sehne mich so nach dir. Ich brauche dich. Ich will dich wiederhaben,“ brach es aus Marie heraus.

Martin´s Gesicht wurde ernst: „Behandle mich nie wieder so! Schick mich nie wieder so fort wie einen räudigen Hund!“

Der Schmerz, den Marie ihm mit ihrem Rauswurf zugefügt hatte, stand Martin nun für einige Augenblicke mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Ich tu, was ich kann. Es tut mir so leid, Martin. Ich weiß, ich habe dir sehr weh getan. Es tut mir sehr leid. Ich bitte dich, komm zu mir zurück. Zu mir und zu Lukas. Und selbst Klara vermisst dich. Bitte!“

Martin schaute Marie ernst und klar an.

„Ihr fehlt mir auch. Ihr seid doch wie meine Familie. Und ich liebe dich, Marie. Ich liebe dich und wollte eigentlich mein Leben mit dir verbringen.“

Marie wurde rot. Dieser Mann hatte ein großes Herz und scheute sich auch nicht, es vorzuzeigen. Martin war ein Geschenk. Ein so großartiges Geschenk. Wie hatte sie dies nur so leichtfertig aufs Spiel setzen können?

„Willst du es denn immer noch?“ fragte Marie kleinlaut.

„Ja!“ war die klare Antwort. Martin küsste über den Kneipentisch hinweg ihre Hände und streckte anschließend mit einer leichten Verrenkung seine rechte Hand so weit vor, dass sie zärtlich Maries linkes Ohr liebkosen konnte. Martin liebte Maries Ohren. Marie schmiegte ihren Kopf mit einer kleinen Geste in die große Hand ihrer großen Liebe.

„Es ist verrückt, Martin. Ich halte manchmal so viel Liebe nicht aus. Ich musste mich etwas vom Acker machen deshalb. Prüfen. Testen.“

Marie atmete tief durch: „Du liebst so bedingungslos. Ich glaube, mich beschämt das einfach manchmal. Oder ein bißchen mehr als manchmal.“

„Ich weiß, meine Liebe. Ich weiß.“

„Ich muss und ich kann auch gar nicht um dich kämpfen, wie ich das sonst immer in meinen Beziehungen musste. Oder glaubte, tun zu müssen. Du bist einfach da. Und bist für mich da. Und für Lukas. Und sogar für Klara. Es ist, als müsste ich mir irgendeinen Kampfplatz schaffen, damit ich mich wieder in meinem Leben zurechtfinden, alles um mich herum wie gewohnt sortieren kann.“

„Ja, das kommt mir auch so vor.“

Ihr Essen kam.

Die beiden verschlangen es mit großem Genuss, vor allem Marie, in deren Körper sich ganz langsam eine Entspannung ausweitete. Sie merkte jetzt erst, wie sehr sie sich innerlich verkrampft hatte, wie sehr sie alles nach innen herein zusammengezogen hatte und innerlich erstarrt war. Das innere Lösen tat zugleich gut und weh.

Nach dem Essen gingen die beiden noch eine Runde um den Block spazieren. Hand in Hand. Sehr behutsam einander berührend – die Zerbrechlichkeit ihrer Beziehung war nun mehr als zutage getreten.

Sie verabschiedeten sich mit einer innigen Umarmung voneinander. Als Martin schon einige Schritte von ihr weggegangen war, drehte sich Marie noch einmal zu ihm um, lief ihm hinterher und küsste ihn mit all der Verzweifelung einer von ihren eigenen Gefühlen überwältigten Frau. Martin erwiderte sofort ihre Liebkosung und sie standen wie Teenager mitten auf der Straße und knutschten.

Ausgerechnet jetzt kam ein Auto, das ausgerechnet jetzt diese Stelle dieser Straße passieren wollte. Der Wagen blieb zwar geduldig mit laufendem Motor vor ihnen stehen – ohne zu hupen oder das Licht zu betätigen – aber ihre spätpubertäre Intimität war dahin.

„Ich liebe dich!“ flüsterte Marie Martin ins Ohr und rannte zu ihrem Wagen.

Martin schaute ihr noch lange nach. Der sich wieder in Bewegung setzende Wagen fuhr langsam an ihm vorbei, so als wollte er ihn bei seinem stillen Abschied nicht stören.

16

Zum Frühstückmachen stellte sich Marie das Radio an. Sie drehte es noch etwas lauter und tanzte einige Takte mit Shakira.

„Oh, moin, moin, Maria-Louise. So früh schon so gut gelaunt?“ erstaunte sich Klara Johannsson und lächelte ihre Tochter an.

„Oh ja, es ist ein wunderschöner Tag heute.“

Die beiden Frauen schauten aus dem Küchenfenster und sahen in ein Wetter aus milchig-trübem Nebel-Nieselregen-Gemisch vor ihrem Haus. Sie grinsten und prusteten beide mit einem Seitenblick aufeinander los.

„Ja, wunderschön. Die Sonne lacht vom Himmel, umgeht dabei diese Gegend hier und leuchtet gleich in unsere Herzen.“ Klaras Lehrerinnen-Vergangenheit kam wieder zum Vorschein. „Du hast Martin gestern gesehen, nicht?“

„Ja.“ Marie seufzte. „Und er ist wunderbar. Wir bekommen anscheinend noch einmal eine Chance. Vielmehr, ich bekomme noch einmal eine Chance mit ihm.“

„Oh, das freut mich!“ sagte Klara und strich ihrer Tochter mütterlich über den Kopf. „Ihr passt doch so gut zusammen!“

Marie schüttelte die Geste mit einem Kopfschütteln ab. Sie konnte die Kindergesten, wie sie sie nannte, nur sehr selten gut haben. Jetzt war sie froh, dass sich ihre seelischen Innereien wieder in ihr entfaltet hatten und erlebte die Berührung ihrer Mutter als erneuten Anflug einer Einengung. Sie war schon nicht einfach.

Aber so glücklich jetzt. Jetzt, wo ein neuer Anfang mit Martin greifbar zu werden schien. Marie gab ihr Glück unvermittelt an Lukas weiter, der in diesem Augenblick zufällig die Küche betrat und sich nur noch über seine Mutter wundern konnte, die mit juchzender Umarmung und überschwänglicher Begrüßung über ihn herfiel. Ein wenig ließ er diesen Anfall Maries über sich ergehen und ein wenig strampelte er sich frei.

Marie merkte, dass sie ihrem Sohn gegenüber etwas übergriffig geworden war. Sie versuchte den emotionalen Überschwang auf eine sachlichere Schiene zu hieven: „Was würdest du davon halten, Lukas, wenn Martin am Wochenende mal wieder käme?“

„Martin? Habt ihr euch wieder vertragen?“ entgegnete Lukas mit freudig strahlenden Augen. „Das fände ich toll!“

Jetzt war es Lukas, der seine Mutter umarmte.

„Dann kann ich Martin endlich mein Buddelschiff zeigen.“

Marie und Klara schauten sich stumm an. Der Junge war unglaublich in Martin verschossen. Er war für ihn Vater und Onkel und Freund gewesen. Martin war stets so respektvoll mit Maries Sohn, dass er das Spektrum all dieser Rollen mit Leichtigkeit abdeckte.

Zu einem ausgiebigen Frühstück gesellten sich nette Plaudereien über die schönen Erlebnisse der drei mit Martin in der Vergangenheit. Marie hatte zur Feier des Tages „French Toast“ gemacht, ausgebratene, in Ei eingeweichte Weißbrotscheiben mit Orangenmarmelade – seit einem Urlaub auf Kreta eines der Lieblingsfrühstücke ihres Sohnes. Drei bestens gelaunte Johannssons machten sich genüsslich drüber her.

Später nahm Marie ihren Sohn mit und setzte ihn auf dem Weg zu ihrer Arbeit an seiner Schule ab.

Nach Durchsicht ihrer Post und der Informationsinterna ihrer Dienststelle hockte sich Marie über ihr professionelles Notizbuch. Als sie bei ihrer Mitschrift zum Aufenthalt in Hamburg bei ihren Kollegen war, stachen ihr sofort die Worte „Albino geboren“ ins Auge.

Genau. Da war doch was mit einer Albino-Geburt von einem Paar aus Afrika gewesen. Gabi Schlieper hatte das in den Hamburger Krankenhäusern auf der Suche nach Albinos im Hafenumfeld recherchiert. Vielleicht war das ja der gefundene tote Junge. Denn das konnte doch wohl kaum ein Zufall sein, dass etwa zum gleichen Zeitpunkt zwei schwarze Albinos in Hamburg auftauchten. Nannte man diese Kinder korrekt so? Schwarze Albinos? Marie wusste es beim besten Willen nicht.

Sie hatte sich sogar Namen und Adressen der afrikanischen Eltern des im Asklepios-Krankenhaus in St. Georg geborenen Albino-Jungen aufgeschrieben: Der Junge hieß Juma Soselo. Vater war Sokwe Soselo, Mutter Johana Soselo. Die Adresse lautete: Schlagbaumtwiete 77 in 22605 Hamburg. Othmarschen. Gute Gegend.

Marie rief sofort ihre Hamburger Kollegin Gabi Schlieper an, um ihr die neuesten Entwicklungen, Vermutungen und Erkenntnisse mitzuteilen. Selbst die recht hartgesottene Gabi musste bei Maries Schilderung über das Prozedere des Albino-Aberglaubens in Afrika schlucken.

Dann schaute Gabi in ihren Unterlagen nach, ob sie noch weitere Informationen zu dem registierten Albino-Baby hatte.

Gabi ergänzte Maries Notizen: „Die Soselos sind gebildete und gut situierte Schwarzafrikaner aus Tansania. Der Vater arbeitet seit einigen Jahren als Wissenschaftler, genauer gesagt als Biochemiker, im botanischen Institut in Klein Flottbek, das gehört zur Universität Hamburg. Nichts auffälliges erst einmal.“

OK, Gabi. Dann komme ich wieder vorbei. Ich möchte mir doch gerne den Juma Soselo angucken. Ich mache mich gleich auf den Weg. Kommst du mit zur Befragung, du weißt ja, vier Ohren hören mehr?“

„Ich kann mich hier nicht loseisen, Marie. Aber ich schicke dir Robert mit, einverstanden?“

Ob der sich so schicken lässt, schoss es Marie durch den Kopf. Sie sprach es aber nicht aus.

„Gerne, Gabi. Ich arbeite gerne mit Robert zusammen. Er hat eine besonders feine Wahrnehmung.“

„Na, ja, die schwulen Jungs sind schon ein wenig sensibler!“ wusste Gabi mal wieder.

„Schön, dass wir so gar keine Vorurteile in irgendeine Richtung haben!“ durfte Marie immerhin unkommentiert mit einer feinen Schärfe im Ton korrigieren.

„Ja, ja, ist schon gut,“ lenkte Gabi versöhnlich ein.

Ein paar Stunden später standen Robert und Marie vor einer schicken hölzernen Villa mit großen Fenstern, verschachtelten Giebeln und ästhetisch platzierten blauen Ensembles mit der Hausnummer 77. Am Klingelknopf war ein schlichtes Messingschild mit „Soselo“ angebracht. Sie waren also richtig. Hinter dem Haus kreischten vergnügt Kinder. Es schien also auch jemand da zu sein.

Marie drückte den Klingelknopf herunter, zwei Mal recht kurz, was sie für ihre persönliche Note hielt – mit gebotenem Nachdruck, aber ohne aufdringlich zu sein. Sie mussten nicht lange warten und das Gartentor fiel auf.

In der geöffneten Haustür begrüsste die beiden Kommissare eine junge dunkelhäutige Frau.

„Frau Soselo?“ fragte Marie, obwohl ihr die Frau für die ihr bekannte Biografie zu jung vorkam.

„Oh, non,“ antwortete die junge Frau etwas verlegen. „Je ne suis pas la Madame. Je suis Jeanine Kalika, la bonne d´enfants. En moment, s´il vous plait…“ Und die junge Frau rief laut auf Französisch etwas über ihre Schulter.

Als es aus dem Inneren des Hauses für Marie unverständlich antwortete, ließ sie die beiden Fremden mit einer freundlichen Handbewegung ein. „Voulez vous entrez, s´il vous plait?“ Sie führte sie durch einen geräumigen Flur in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Von der Empore schallte eine freundliche weibliche Stimme: „Ich komme sofort. Ich muss nur noch meinen Jungen fertig machen.“

Marie und Robert schauten sich an. Ein lockerer, gut betuchter Haushalt schien das zu sein. Man rief sich durchs ganze Haus etwas zu. Die Madame selbst schien das Kind zu versorgen, obwohl ein Kindermädchen zugegen war.

„Qu´est-ce que vouz prenez? Un café óu du l´eau?“ fragte sie das Kindermädchen, als sie auf sehr bequemen Sesseln Platz genommen hatten.

Marie verstand zwar einfaches Französisch, überließ aber wegen ihrer mangelnden Sprachpraxis lieber Robert die Konversation. Sie flüsterte ihm zu: „Ich würde sehr gerne einen Kaffee trinken, mit Milch bitte.“

Robert gab ihre Wünsche sehr charmant weiter. Die junge Afrikanerin – Marie vermutete ihre Wurzeln jedenfalls auf dem schwarzen Kontinent – war bereits Robert´s Charme und blendendem Aussehen erlegen. Mademoiselle Kalika leuchtete ihren Kollegen mit ihren schönen großen brauen Augen an und konnte sich mit unverstellter Art kaum vom diesem Anblick des Bildes von einem Mann losreißen. Marie dachte nur: …das ist vergebene Liebesmüh´, meen deern!

Kurze Zeit später kam Johana Soselo die Amporentreppe herunter. Sie hatte die geschmeidigen Bewegungen einer schlanken und körperbewussten Afrikanerin und war im unaufdringlichen Hamburger Chick gekleidet. Im Arm trug sie ein Bündel, wohl ihren Sohn, der aber angesichts seiner Verpackung nicht zu erkennen war. Sie gab Robert und Marie mit großen Händen zur Begrüßung einen festen Handschlag und stellte sich als „Johana Soselo, was kann ich für Sie tun?“ vor. Sie hatte sich nicht erst mißtrauisch erkundigt, wer sie als fremde Eindringlinge in ihrem Haus waren, sondern gleich offen nach ihrem Anliegen gefragt.

„Guten Tag, Frau Soselo. Mein Name ist Johannsson, Hauptkommissarin aus Rendsburg, und das ist mein Hamburger Kollege Robert Leicht,“ antwortete Marie mit einem Blick auf Robert. Frau Soselo schaute freundlich von einem zum anderen.

„Wir hätten im Zuge unserer Ermittlungen einige Routinefragen an Sie, Frau Soselo.“

„Darf ich fragen, worum es geht?“

„Es geht um einen Fall in Rendsburg, dessen Spuren mich nach Hamburg geführt haben.“

Frau Soselo huschte ein kurzes verstehendes Zwinkern über ihre Augen, wohl registrierend, dass sie – zumindest erst einmal – nichts Näheres über die Umstände des Besuches der Kriminalpolizei bei ihr erfahren sollte.

„Gut, fragen Sie, was Sie wissen möchten. Ich will Ihnen gerne behilflich sein.“ Die Afrikanerin blieb weiterhin sehr freundlich.

„Wir bräuchten erst einmal Ihre Personalien. Sie sind Frau Johana Soselo, verheiratet mit Sokwe Soselo?“

„Ja.“

„Sie haben Kinder?“

„Ja, zwei Jungen. Maikel und Jumo. Maikel ist 6 Jahre alt und Jumo,“ Frau Soselo befreite mit einer kleinen Geste das kleine Gesichtchen in ihrem Arm von einem überhängenden Stück Stoff, „ist 15 Wochen, nein, inzwischen ist mein Kleiner nun auch schon 16 Wochen alt.“

„Aus welchem Land kommen Sie?“

„Ich komme aus Deutschland. Ich bin hier in Hamburg geboren. Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, seit ich das Hanseatenlicht der Welt erblickt habe.“ Der Tonfall Frau Soselos hatte sich kaum erkennbar verändert. In ihren Worten schwang nun eine dezente Schärfe mit.

Tatsächlich ertappte sich Marie dabei, dass sie über diese Auskunft erstaunt war. Sie musste sich wohl mit einem entsprechenden Gesichtsausdruck verraten haben.

„Mein Mädchenname lautet Pinkermann. Ich stamme aus einer Hamburger Diplomatenfamilie,“ ergänzte Frau Soselo.

„Entschuldigen Sie bitte, meine Verwunderung,“ versuchte Marie die sich einschleichende Schärfe aus der Unterredung zu nehmen. „Ich habe nur nachgefragt, weil Ihr Familienname für meine Ohren schon afrikanisch klingt.“

„Ja, mein Mann ist auch gebürtiger Afrikaner.“ Frau Soselos Tonlage war wieder ruhig und freundlich. Marie´s Einlenken schien funktioniert zu haben. „Mein Mann stammt aus einer sehr alten tansanischen Familie, nach europäischen Maßstäben würde man sie wohl dem Hochadel zurechnen. Ich erwähne das nur, damit sie ein vollständiges Bild von unseren Verhältnissen bekommen,“ sagte Frau Soselo völlig uneitel.

„Danke, Frau Soselo.“ antwortete Marie ehrlich.

„Ist ihr Sohn Jumo in einem Krankenhaus zur Welt gekommen?“ schob Robert ruhig die nächste Frage ein.

„Ja, ich habe ihn in im Asklepios-Krankenhaus in St. Georg geboren. Eine ganz einfache Geburt. Mein Junge hat es mir ganz leicht gemacht.“ Frau Soselo strahlte, wie es nur junge glückliche Mütter tun können, in ihr Bündel auf dem Arm.

Weder Marie noch Robert hatten bislang auch nur ein Händchen von dem Kleinen zu sehen bekommen.

Marie startete einen ersten Anlauf: „Ist ihr Junge – Jumo heißt er, nicht,“ Frau Soselo nickte, „gesund?“

„Oh ja, es ist ist alles dran. Er ist wunderbar.“

„Wir müssen dies fragen, Frau Soselo, entschuldigen Sie bitte,“ hakte Robert nach und versuchte dabei, seinen ganzen Charme spielen zu lassen. Es war schon sehr merkwürdig, als Weiße mit einer schwarzen Deutschen über die Hautfarbe ihres Kindes zu sprechen. „Wie ist die Hautfarbe ihres Jungen?“

„Ach, das meinen Sie,“ sagte Frau Soselo fast erleichtert. „Ja, Sie scheinen es ja bereits zu wissen. Jumo hat helle Haut. Ihm fehlen die Hautpigmente, deshalb ist er hellhäutig. Das wird hier in Hamburg aber nicht weiter auffallen, wie Sie sich denken können. Für mich spielt die Hautfarbe sowieso keine große Rolle. Wie Sie sich sicher auch denken können, habe ich als Schwarze in Hamburg alle erdenklichen Facetten erlebt. Ich habe gelernt, damit umzugehen und entsprechende Blicke und Bemerkungen zu ignorieren. Jumo wird es als Albino sicher häufig leichter haben als sein Bruder Maikel, der sogar ausgesprochen dunkelhäutig ist, ähnlich wie sein Vater.“

Als hätte sie Maries unausgesprochenen Wunsch verstanden, wickelt Frau Soselo ihren Sohn aus der dunkelroten, sicherlich traditionell afrikanischen Decke aus und hielt ihren daraufhin vor Vergnügen quietschenden, nur mit einer Papierwindel bekleideten Jungen mit ausgestreckten Armen vor sich hin. Er war so rosig, wie ein gesunder „Hamburger Jong“ nur sein konnte.

„Er ist so entzückend,“ schwärmte sie ihren strampelnden Sohn an. „Wohl wie alle Kinder für ihre Mütter entzückend sind – oder sein sollten,“ fügte Frau Soselo ihre Faszination etwas versachlichend an.

Jumo war wirklich ein Sonnenschein. Sein zartes Gesichtchen war ein einziges Strahlen. Jumo war überhaupt ein sehr zartes Baby, was durch seine sehr helle, fast porzellanartig durchscheinende Haut noch unterstrichen wurde. Seine orange angehauchten Haarkräusel auf seinem zarten Kopf verliehen seinem leuchtenden Gesichtchen erst recht den Ausdruck von einem „Schalk im Nacken“.

„Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen Frau Soselo?“ hakte Marie nun nach.

„Ja, gerne.“

„Kennen Sie zufällig andere Albinokinder von dunkelhäutigen Eltern hier in Hamburg?“ Marie versuchte die Frage so sachlich wie möglich zu formulieren.

„Andere – nein,“ antwortete Frau Soselo. „Aber in der Heimat meines Mannes kommt dies naturgemäß sehr viel häufiger vor. Eigentlich gar nicht so selten.“

„Mmmhh,“ brachte Marie mit ihren düsteren Bildern im Hintergrund ihrer Gedanken hervor.

„Aber wieso wollen Sie all das wissen? Wieso fragen Sie ausgerechnet mich nach Albinos? Und wie sind Sie denn auf uns, wie sind Sie denn überhaupt auf Jumo gekommen?“ wollte Frau Soselo nun etwas energischer wissen.

„Wir befinden uns in laufenden Ermittlungen, Frau Soselo. Entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen keine näheren Informationen zu dem Fall geben. Ihren Namen haben wir über eine polizeiliche Krankenhausrecherche herausgefunden. Das ist für uns einfach Routinearbeit.“

„Aus Rendsburg kommen Sie, haben Sie gesagt?“ stutzte Frau Soselo und sah Marie sehr nachdenklich an.

„Ja. So, wir müssen nun wieder gehen, Frau Soselo,“ versuchte Marie der intelligenten Frau auszuweichen.

„Ich habe doch vor einigen Tagen im Abendblatt gelesen, dass sie dort eine Kinderleiche zwischen Bananen gefunden haben…“

„Robert, kommen Sie!“ Marie zog ihren Kollegen fast aus seinem Sessel hervor – mental versteht sich.

Doch Frau Soselo blieb hartnäckig: „Hat Ihr Erscheinen hier etwas mit der Babyleiche zu tun? Handelt es sich bei dem toten Kind um ein Albino?“

Marie und Robert konnten beinahe von außen sehen, wie sich die Gedanken in der Frau vor ihnen zu einer Linie zusammenfügten.

„Und Sie haben gedacht, dass das mein Jumo ist, weil er etwa gleich alt ist. Und deshalb mussten sie vorbeikommen und sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass mein Junge lebt. Ist das so?“ Frau Soselo blieb hartnäckig, dabei aber weiterhin klar und freundlich.

Marie und Robert antworteten kurz wie aus einem Munde mit einem kurzen und knappen, aber alles sagenden: „Ja.“

„Sie sind doch von der Mordkommission! Ist das Kleine getötet worden?“ fragte Frau Soselo nun schon sichtbar aufgeregter.

„Netter Versuch!“ reagierte Marie freundlich, aber sehr bestimmt. Weder sie noch Robert hatten etwas von Mordkommission erwähnt. „Wir können und wir dürfen Ihnen nicht mehr sagen, Frau Soselo. Verstehen Sie uns bitte. Außerdem müssen wir jetzt weiter.“

„Und vielen Dank für Ihre Auskunft, Frau Soselo. Sie haben uns sehr geholfen,“ unterstützte Robert seine Kollegin. „Wenn wir noch weitere Fragen haben, werden wir uns an Sie wenden.“

Jumo juchzte und strampelt auf dem Arm seiner Mutter und lenkte sie gekonnt von den beiden Kommissaren im Aufbruch ab.

„Wir finden schon raus. Machen Sie sich keine Umstände,“ nutzte Marie die Gelegenheit. „Auf Wiedersehen, Frau Soselo. Und nochmals vielen Dank. Und alles gute für Sie und ihre beiden Jungs.“

„Auf Wiedersehen, Frau Soselo,“ verabschiedete sich auch Robert.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen bemerkte Robert: „Sie weiß etwas. Als Sie auf den Rendsburger Leichenfund eingegangen ist, sind ihr einige Gedanken und Ideen gekommen, die sie nicht ausgesprochen hat, das war deutlich zu spüren.“

„Ja, ich glaub auch,“ stimmte Marie zu. „Und die Gedanken und Ideen waren nicht schön. Hast Du auch das Gefühl gehabt, dass sie mit einem inneren Entsetzen gekämpft hat, das wir nicht mitbekommen sollten?“

„Frau Soselo ist eine gebildete Frau. Und bei unserer Fokussierung auf Albinos, wird sie schnell eins und eins zusammengezählt haben. Und Sie wird ganz sicher auch um diesen Aberglauben in Tansania wissen.“

„Und sicherlich wird sie genauso davon befremdet sein wie wir. Schließlich ist sie Hamburgerin, wenn auch mit afrikanischen Wurzeln.“ ergänzte Marie.

„Nun katapultier mal nicht alles Böse nach Afrika. Es werden sich auch die allermeisten Schwarzafrikaner über diesen grausamen Aberglauben entsetzen. Das werden wieder nur wenige Skrupellose sein, die mit einem solchen Aberglauben Macht und Geld machen wollen…“

„Sicher,“ antwortete Marie. „Du hast recht. Wir Weißen, noch dazu wir hanseatischen Nachkommen der alten Koggenreisenden, neigen dazu, schnell in die Kolonialistenarroganz zu verfallen, von wegen „die dummen Voodoo-Neger mit ihren unchristlichen Zauberritualen“. Du hast schon recht. Das geht manchmal sehr schnell und steckt so subtil immer noch in uns allen drin.“

„Dabei haben wir Christen uns selbst weltweit wie die grausamsten und menschenverachtendsten Vandalen benommen – also wir Weiße,“ ergänzte Marie nach einer kurzen Gedankenpause.

„Ja-ja,“ stimmte Robert nachdenklich zu.

„Aber, Robert, nochmal zurück. Ich glaube, dass Frau Soselos Wissen oder die Gedanken, die ihr da durch den Kopf schossen, über das Faktenwissen um die Aberglaubenrituale hinausgingen. Nur so ein Gefühl.“ Marie schaute Robert fragend an. Sie wollte seine Feinfühligkeit herauskitzeln, um ihre eigene Wahrnehmung zu überprüfen.

Doch Robert Leicht zuckte nur mit seinen sehr männlichen breiten Schultern.

17

Die beiden fuhren gleich zurück in die Sedanstraße zur Hamburger Dienststelle. Nach einem mäßigen Essen in der hiesigen Behördenkantine setzten sich die drei Kriminalkommissare zusammen.

„Meint ihr, dass die Frau Soselo da irgendwie mit drinhängen könnte?“ fragte Gabi Schlieper.

„Nein, das glaube ich nicht,“ antwortete Marie. „Ich bin nur fest überzeugt davon, dass sie mehr weiß, als sie gesagt hat, dass bei unserer Befragungen mehr Vermutungen in ihr hochgekommmen sind, als ihr selbst lieb waren.“

„Ja, das kann gut sein,“ fügte Robert hinzu. „Ich kann ja das Umfeld der Soselos mal abklopfen. Arbeitskollegen, Freunde, Verwandte hier in Hamburg. Vielleicht hilft uns das ja weiter.“

„Eine gute Idee,“ fand Marie. „Und du, Gabi? Hast du noch irgendetwas zu den afrikanischen Hieroglyphen herausbekommen?“

„Ja, erste unbestätigte Deutungen habe ich. Die werden derzeit noch von einem weiteren Fachmann überprüft. Es sind nämlich nicht nur gängige Schriftsymbole, sondern in ihrer Kombination offenbart sich dem Kundigen noch eine ganz andere inhaltliche Bedeutung. Meine Quelle hatte da einige Vermutungen, lässt diese aber nun noch von einem gebürtigen Afrikaner überprüfen. Das ist sehr spannend, sag ich Dir, Marie.“

„Oh, ich bin sehr gespannt!“

Gabi kramte einen DIN-A4-Brief aus einem Papierstapel auf ihrem Schreibtisch hervor. „Ich habe das Foto ohne jede Hintergrundinformation Frank Dressler geschickt. Das ist ein Afrikakenner, den ich auf einer meiner Afrika-Reisen kennengelernt habe. Er hat ein Faible für die afrikanischen Symbole, und wie es der Zufall will, hat er sich vor einigen Jahren auf die Zeichen aus Westafrika, speziell der Region um Togo, Ghana und der Elfenbeinküste spezialisiert, sprich, er kennt sich einigermaßen aus mit der ghanischen Symbolsprache Adinkra. Das wusste ich gar nicht, kommt uns aber natürlich sehr zugute. Frank hat meine ersten Recherchen bestätigt. Es handelt sich bei den Symbolen auf dem Zettel tatsächlich um Adinkra.“

„Sehr gut. Und konnte dein Freund irgendeine Botschaft herauslesen?“

„Ja, warte mal, ich lese dir das vor.“

Gabi entnahm einen Brief aus dem Umschlag und begann: „Bei dem Text handelt es sich meiner Meinung nach um einen Schutzzauber, und zwar genauer gesagt um einen für ein Kind, wenn ich das richtig recherchiert habe, sogar genauer gesagt um ein Neugeborenes, und zwar ein besonderes, wahrscheinlich durch ein durch seine Geburt aus der Gemeinschaft herausragendes Kind. Das Kind ist männlich. Wahrscheinlich der Sohn des Stammeshäuptlings oder eines Ältesten, auf jeden Fall mit einem besonderen Status versehen. Wenn ich die Einzelbedeutung der insgesamt 13 Symbole hintereinanderstelle, kommt nach meinem Kenntnisstand etwa folgender Text heraus: Leuchtende Seele – Schutz des Neugeborenen gegen Verschwörung und Verrat im eigenen Haus – der zweitgeborene Sohn möge geschützt sein, auf dass nichts von ihm genommen wird (abgebissen wird, heißt es wörtlich) – Gefahr droht von dem dunklen Bruder seines Vaters – der Onkel will den echsenähnliches Wesen aus der Erde Opfer bringen – das große Licht möge das Tor der Dunkelheit vor ihm verschließen und den Sohn auf seinem Weg beschützen.

Zu den echsenähnlichen Wesen Folgendes: Die alten afrikanischen Mythen erzählen, dass in der Erde Geistwesen leben, die etwa so wie große Eidechsen oder unsere europäischen Drachen aussehen. Sie sollen sich ausschließlich von Menschenblut ernähren und über geistige Einflussnahme immer wieder die Menschen zu Kriegen und Verbrechen anstiften. Sie leben quasi von dem Menschenblut, dass vor allem durch Menschenhand in die Erde fließt.

Ich werde die Schriftzeichen noch einem befreundeten Afrikaner weitergeben, wenn Du einverstanden bist…und so weiter.“

Gabi blickte auf: „Kannst Du damit etwas anfangen?“

Marie sah sehr verwirrt aus.

„Ist alles OK, Marie?“ fragte Robert, der nun schon zum wiederholten Male beobachtet hatte, dass seine Kollegin für einige Momente wie weggetreten wirkte.

„Ja-ja,“ Marie schüttelte kurz ihren Kopf.

Als Gabi den Brief vorgelesen hatte, waren in ihrem Kopf wieder die afrikanischen Trommelrhythmen aufgetaucht. Sie verstand nun zwar, dass sie definitiv einen Bezug zu ihrem Fall hatten. Aber Marie hatte keine Ahnung, welche Verbindung zwischen ihr, einer weißen Frau aus Rendsburg, einer kleiner Stadt hoch im Norden Deutschlands und diesem vermutlich afrikanischen toten Jungen bestand. Gleichzeitig war sie verwundert darüber, dass sie mit dem Auftauchen der Trommeln in ihrem Kopf ganz klar bei Verstand wurde, etwa so, als würden die Trommelrhythmen Schlag für Schlag alle Gedanken und Bilder aus ihrem Kopf heraustreiben. Wenn der Spuk vorbei war, hatte sie die Male bislang immer einen leichten Druck um ihren Kopf herum verspürt, stets unterhalb ihrer Definitionsgrenze von Kopfschmerz.

Auch jetzt hatte sie mit großer geistiger Klarheit die Entschlüsselung des geheimnisvollen Papiers wahrgenommen. Marie waren zu den Worten, die Gabi vorgelesen hatte, gleichzeitig klare, glasklare Bilder gekommen: Die Geburt eines afrikanischen Jungen, der hell wie das Jesuskind auf alten christlichen Darstellungen leuchtete. Dann tauchte ein riesiger dunkler Schatten in dem Raum auf, der immer größer wurde und allmählich das Strahlen des Säuglings erstickte.

Marie war sich unsicher, ob sie ihre inneren Bilder ihren Kollegen mitteilen sollte. Niemand hatte bisher die Trommeln gehört. Alles schien sich nur in ihrem Kopf abzuspielen. Marie kannte zwar hellsichtige Menschen – etwa ihre Freundin Helga hatte ja häufiger Züge davon, und sie selbst kam ja auch aus einer Spökenkierkerfamilie – aber sie selbst konnte das doch nicht! Sie selbst wollte eigentlich auch mit all dem gar nichts zu tun haben! So selbstverständlich Marie bei den ausgewählten Personen aus ihrem Umfeld übersinnliche Wahrnehmungen waren, so unheimlicher, manchmal sogar beängstigender, waren ihr solche Phänomene, wenn sie selbst davon angeflogen wurde. Und so entschloss sie sich mit dem Gedanken, dass jetzt wohl nur ihre Phantasie mit ihr durchging und ihr der Fall sowieso emotional sehr nahe ging, vor ihren beiden Hamburger Kollegen nun darüber zu schweigen.

Aber trotz dieser Entscheidung schossen Marie noch weitere Gedanken durch ihren Kopf: Familie – Sohn. Hatte nicht Lukas unlängst des morgens so seltsame Sätze gesagt, die sie nur beiläufig registriert hatte, etwas von einem schwarzen Baby in einer Holzkiste, einem Schiff und einer großen Schwester. Sie hatte das damals sehr beiläufig auf ihren Fall geschoben. Aber woher sollte Lukas wissen, dass es sich um ein schwarzes Albino-Baby handelte? Dass er von einem toten Baby wusste, ehe sie überhaupt an den Tatort kam, war ja schon obskur genug. Irgendwie bewegte sich mal wieder mehr zwischen Himmel und Erde, als Marie fassen konnte. In solchen Momenten beneidete sie Menschen, die an Gott glauben konnten und dadurch größere, alles Seiende haltende Systeme zur Verfügung hatten.

Als sie ihren inneren Gedankenraum wieder verließ, blickte Marie in vier sie mit einiger Besorgnis ansehende Augen.

Robert täschelte ihr Knie und fragte mit vorsichtiger Eindringlichkeit: „Marie, bist du ok?“

Gabi schaute ihre Kollegin nur irritiert-konsterniert an.

„Ja-ja,“ antwortete Marie leise. „Ich war nur in Gedanken.“

Und nach einer kurzen Atempause fügte sie hinzu: „Das passt ja total. Dass das Kind gegen ein Familienmitglied, gegen den eigenen Onkel, geschützt werden sollte, weil es ganz bleiben sollte – im wahrsten Sinne des Wortes. Und dass dort sehr dunkle Kräfte am Werk sind oder waren, nun ja, das haben wir ja sehr deutlich gesehen. Gegen die hat der Zauber auch nicht geholfen, wie es aussieht.“ Die letzten Worte kamen Marie mit einiger Resignation über die Lippen.

„Aber immerhin haben wir jetzt mögliche neue Ansatzpunkte,“ führte Gabi Schlieper den Gedankengang weiter. „Wahrscheinlich handelt es sich bei deiner Kinderleiche um einen zweitgeborenen Sohn mit einem noch lebenden und der Tat höchst verdächtigen Onkel. Zumindest scheint der aus dem Albinismus seines Neffen Kapital schlagen zu wollen.“

„Aber was ja seltsam ist,“ klinkte sich Robert ein. „Hat das ganze nun mit Tansania zu tun oder mit Ghana? Wenn ich das alles richtig verstanden habe, ist dieser Aberglaube um Albinos doch in jüngster Zeit in Tansania und seinem Nachbarland Burundi aufgetaucht. Der Zettel bei der Kinderleiche enthält aber ghanische Schriftzeichen. Wo liegen diese Länder eigentlich, Ghana – Tansania? Ich kenne mich so genau nicht auf dem riesigen afrikanischen Kontinent aus.“

„Also Ghana und Tansania liegen sehr weit auseinander,“ erklärte die Afrika-Spezialistin. „Ghana liegt etwas unterhalb der Sahara an der Südwestküste von Afrika, neben der Elfenbeinküste. Tansania hingegen liegt auf der anderen Seite, an der Ostseite. Tansania liegt am Indischen Ozean, und dazu noch ein ganzes Stück weiter südlich als Ghana, noch weiter südlich als der Kongo und als Uganda, also als die afrikanischen Regenwälder. Das ist eine ganz andere Ecke von Afrika. Diese beiden Länder haben erst einmal gar nichts miteinander zu tun, so weit ich das weiß.“

„Aber dieser Geheimzettel neben der Leiche – das kann doch kein Zufall sein!“ kam daraufhin von Marie.

„Das glaube ich auch nicht,“ stimmte Gabi ihrer Kollegin zu. „Ich werde mich mal schlau machen, was eine möglich Verbindung zwischen Tansania und Ghana sein könnte. Wer weiß, irgendetwas muss da ja sein.“

„Und wenn die dortigen Eliteschulen ein Austauschprogramm mit Ghana haben?“ sprudelte es aus Marie heraus. „Ich war das nicht, Gabi, ich habe das nicht gesagt. Woher soll ich was von Austauschprogrammen tansanischer Schüler wissen!“

Marie zuckte nur verwirrt mit ihren Schultern. Robert sah seine Kollegin ernst und klar von der Seite an und sagte sehr leise und nachdenklich vor sich hin: „Ja, irgendeine Verbindung muss es ja zwischen diesen Ländern geben, wenigstens was unseren Fall betrifft.“

Gabi hielt es unterdessen nicht mehr auf ihrem Stuhl. Als Frau der Tat ging sie zügig zu ihrem Schreibtisch und warf das Internet an. Sie tippte „Schüler“, „Austausch“, „Ghana“ und „Tansania“ ein und ließ ihren Rechner googeln.

Und tatsächlich – gleich die ersten Eintragungen führten zu Schüleraustauschprogrammen eines teuer aussehenden Internats in Dar es Salaam, der Hauptstadt Tansanias mit einer ähnlichen Einrichtung in Ghana. Gabi Schlieper schaute ihre Kollegin nur völlig verblüfft an: „Du kannst einem ja unheimlich werden. Das gibt es tatsächlich! Ein Schüleraustausch zwischen Elite-Internaten in den beiden Ländern, einmal zwischen Internaten in beiden Hauptstädten: Accra und Dar es Salaam. Sie nennen sich beide International Highschool. Und es schient noch mehr zu geben. Ich mache mich da mal schlau.“

„Unser toter Junge ist ja zu jung, aber möglicherweise besuchen oder besuchten seine Eltern oder auch nur ein Elternteil eine der beiden Highschools und darüber gibt es eine Verbindung,“ dachte Robert laut mit.

„Oh je,“ Marie rollte mit den Augen. „Da entgleitet mir der Fall aber völlig. Wie soll ich denn Ermittlungen in zwei so weit von hier entfernten, noch dazu so weit vorneinander entfernten Ländern durchführen?“

„Vielleicht sind diese Zusammenhänge in Afrika nur für den Hintergrund der Tat wichtig.“ warf Robert ein. „Vielleicht hat sich das Drama selbst tatsächlich vollständig hier in Deutschland abgespielt. Du darfst nicht vergessen, dass die Fundortkiste, die Bananen, nicht aus Afrika stammen, sondern aus Costa Rica, einem zentralamerikanischen Land auf dem schmalen Verbindungsstück zwischen dem nord- und südamerikanischen Kontinent. Eine Schlüsselstelle ist für mich der Hamburger Hafen und speziell auch das Fruchtkontor.“

„Können wir eigentlich ganz ausschließen, dass der Kleine erst in Rendsburg in die Kiste gelegt wurde?“ fragte Marie mit einem Mal.

„Ja,“ hakte Gabi gleich ein. „Oder vielleicht auch auf dem Transportweg zwischen Hamburg und Rendsburg.“

„Das stimmt,“ bestätigte Robert. „Rein theoretisch wäre auch das möglich. Wie schnell man ein so unfassbares Verbrechen, noch dazu mit wahrlich weltläufigen Hintergründen in die Großstadt legt, weil man das dem Land nicht zutraut!“

Mit dem Gefühl, ein Stück vorangekommen zu sein, aber im Grunde immer noch gar nichts zu wissen, teilten die drei Kommissare die nun anstehende Arbeiten untereinander auf: Die Befragung der Soselos sowie erneute Untersuchungen zu Verbindungen zwischen dem Hamburger Hafen, speziell dem Fruchtkontor, und Tansania bzw. Ghana übernahm Robert, und den Kontakt zu den afrikanischen Elite-Schulen Gabi. Und Marie nahm sich noch einmal gründlich den Weg der Bananenkiste von der Hamburger Speditionsfirma bis zu seiner Eröffnung in der Markthalle vor.

Nachdem sich die drei herzlich voneinander verabschiedet hatten, machte sich Marie zügig auf den Heimweg. Es war noch vergleichsweise früh und Marie freute sich, dass sie heute so zeitig nach Hause kam, so dass sie noch was von Lukas hatte. Als sie in Rendsburg von der Autobahn abbog, gab sich Marie einen Ruck, nicht noch mal eben im Büro vorbeizufahren. Sie wusste, sie würde dort doch wieder länger hängenbleiben und kostbare Zeit mit ihrem Sohn verlieren. So kam sie noch vor dem Abendessen zuhause an, was in der letzten Zeit kaum noch vorgekommen war.

Das Abendessen gestaltete sich vergnüglich. Alle drei Johannssons waren bester Laune, Lukas wegen Marie, Marie wegen Martin und Lukas und Klara wegen Marie, Lukas und Martin.

Sie spielten schon beim Essen „Ich sehe was, was du nicht siehst“, das vor allem aus Lukas und Marie wahre Lachkoller herausholte. Wenn sich das ganze Rätsel etwa um etwas Gelbes im Raum rankte und sich nach minutenlangem Hin-und-Her-Fragen die gelben Apfelsinenstückchen im Feldsalat als die Lösung entpuppten, prusteten Mutter und Sohn nur so über den Tisch. Klara hielt sich bei diesem Spiel noch zurück. Sie war so erzogen worden, dass man bei Tisch keine Dönekes machte. Aber sie gönnte ihrer Tochter und ihrem Enkel den Spaß von Herzen.

Nach dem köstlichen Abendessen räumte Klara den Tisch ab. Währenddessen schaute Lukas erwartungsvoll seine Mutter an.

„Ja, Lukas, ich habe Zeit heute abend. Ich stehe dir voll und ganz zur Verfügung. Jedenfalls bist du ins Bett musst, denn morgen ist ja Schule. Deine Schulsachen sind doch fertig, nich?“

„Ja sicher,“ spielte Lukas für einen Moment den Beleidigten. Dann fragte er völlig aufgedreht: „Spielen wir Canasta? Och bitte! Das haben wir schon so lange nicht mehr gespielt, weil ihr nie Zeit hattet!“

Marie nickte. Sie liebte diesen wundervollen Jungen über alles. Gerade mal wieder besonders doll.

„Holst du die Karten? Ich hole Oma.“

Als Marie mit den Karten zurück an den gesäuberten Esstisch kam, zog Lukas seine Großmutter gegen deren gespielten Widerstand hinter sich her. Klara hatte noch die Schürze umgebunden, weil sie eigentlich die Küche „Klar-Schiff“ machen wollte.

„Gut, gut, meen Jong. Du hast gewonnen.“

„Juhu, wir spielen Canasta,“ tanzte der strahlende Achtjährige durch das Esszimmer und hockte sich gleich auf seinen Stuhl. „Mama, mischen,“ drängelte er aufgeregt.

„Nun mal langsam mit die jungen Pferde…“ sagte Marie, wunderte sich wieder einmal, wie viele seltsame Sprüche immer mal wieder aus ihr herauskamen, mischte gründlich das Rommé-Kartenspiel durch und verteilte die Karten.

„So – und eine zum Aufdecken,“ beendete sie ihre Aktion.

Mit reichlich Gickern und Klaras obligatorischem Klein-Mädchen-Fluchen, dass sie immer nur schlechte Karten bekam, verging der Abend wie im Flug.

Nachdem sie Lukas ins Bett gebracht und sich auch ihre Mutter zurückgezogen hatte, sinnierte Marie in ihrem Lieblingsohrensessel noch ein Viertelstündchen über ihren Tag. Er hatte wunderbar mit ihrer Familie begonnen und ebenso gut gelaunt geendet. Und in Hamburg war sie auch endlich mit ihrem Fall ein Stückchen weiter gekommen. Dass Antworten immer neue und immer mehr Fragen aufwarfen, war bei Ermittlungen relativ normal. Das schreckte sie nicht. Aber diese seltsame Verbindung nach Afrika…

Doch Marie wollte ihre Arbeit nun aber auch endlich loslassen. Sie setzte sich gerade hin in ihrem Sessel, spannte ein wenig ihren Beckenboden an und öffnete mental ihre Brust. Dann ging sie in die Lichtmeditation, die sie auf dem letzten Seminar mit Helga gelernt hatte. Diese Meditation tat ihr auch heute Abend wieder gut. Sie fühlte sich anschließend warm und weich aufgehoben und konnte friedlich und entspannt ins Bett gehen.

18

Nach einer traumlosen Nacht und einem entspannten Frühstück kam Marie gut gelaunt in ihrer Dienststelle an. Sie tänzelte an Mochita vorbei, nicht ohne ihr mit einem Augenzwinkern einen „wunderschönen Guten Morgen“ zu wünschen.

„Moin, moin, Chefin,“ kam es erleichtert von ihrer vertrauten Sekretärin zurück. endlich hat sich ein Knoten gelöst, dachte Mochita nur. Sie wusste zwar, dass es sich mit großer Sicherheit um eine Herzensangelegenheit handelte, fragte aber dennoch diskret: „War Hamburg gestern so erfolgreich?“

„Ja, auch,“ trällerte Marie zurück. „Aber es ist auch ein wunderschöner Morgen!“ Die beiden Frauen wendeten gleichzeitig ihre Köpfe und schauten aus dem Fenster in eine trübe Nebelsuppe. Genau wie gestern. Marie und Mochita schauten sich daraufhin in die Augen und lachten los.

„Ja, wenn die Sonne im Herzen scheint, dann lacht der Himmel, so oder so…“ sang Mochita eine erfundene rhythmische Melodie munter vor sich hin, als sie sich wieder dem Geschehen auf ihrem Schreibtisch widmete.

Maries erster Gang führte sie in die KTU-Katakomben von Otto Storm.

„Moin, Frau Johannsson. Der Kleine ist tatsächlich ein Albino, und zwar in seiner ausgeprägtesten Form. Nirgends gibt es Melatonin. Doch das Haar, das ich an ihm gefunden habe, ist nicht seins. Es handelt sich zwar wahrscheinlich um ein ähnlichen genetischen Albinismus, aber nicht ganz so stark ausgeprägt. Es sind nämlich doch Spuren von Melatonin in dem fremden Haar vorhanden. Das Haar könnte vielleicht von einem nahen Verwandten sein,“ wurde Marie mit sachlichen Informationen begrüßt.

„Moin, Herr Storm. Dann sind also tatsächlich zwei Albinos im Spiel? Die Kinderleiche und noch ein weiterer Albino, der wenigstens auf irgendeine Weise Kontakt mit dem Kleinen hatte?“

„Jow.“

„Auch interessant,“ kommentierte Marie diese neuen Informationen, ehe sie Otto ihre neuen Erkenntnisse aus Hamburg vortrug. Zwei Augen und zwei Hirne sahen und dachten stets mehr als eines. Daher hatte es sich Marie zur Devise gemacht, ihren engeren Kreis stets auf dem Laufenden zu halten, damit sich möglichst viele Einfälle und Ideen zu den Fakten entwickeln konnten. Auf besonderes Interesse stieß natürlich die Deutung der Botschaft auf dem Zettel in dem Geheimfach. Marie ließ Otto eine Kopie von Gabis Brief da. Otto hatte sich schon wieder hinter seinem Arbeitstisch in seinen Gehirnwindungen vergraben, fest seinen Blick auf die kopierten Worte geheftet, neben die er das Foto mit den afrikanischen Hieroglyphen gelegt hatte.

Marie ließ ihn nun allein. Wenn aus Ottos Grübeleien etwas Sinnvolles erwachsen würde, wäre sie die erste, die das erfahren würde. So war das mit Otto, dem Rendsburger CSI-Mann.

Als nächstes rief Marie Dr. Möller an, um ihm von ihren Hamburger Mitbringseln zu berichten.

„Das ist ja höchst interessant,“ war Dr. Möllers wesentlich gesprächigere Reaktion auf die neuen Infos zum Fall. „Faxen sie mir bitte einmal die Schriftzeichen und die Deutung zu. Dass zwei Albinos in den Fall verwickelt sind, wissen Sie sicherlich bereits!“

„Ja, Otto Storm hat es mir erzählt.“

„Ghana – Tansania. Der Fall schlägt ja echt weite Kreise.“
„Zum einen ja, die Hintergründe liegen sicherlich auf dem schwarzen Kontinent. Zum anderen spielt sich das eigentliche Verbrechen aber ausschließlich hier in Deutschland ab.“ Und Marie berichtete von den Überlegungen mit ihren Kollegen, dass der Kinderleichnam wohl zwischen Hamburger Containerhafen und Rendsburger Markthalle in die grünen Bananen gelangt sein musste.

„Das klingt einleuchtend,“ stimmte Dr. Möller zu. „Vielleicht ist der Schlüssel ja im Hintergrund der Familie Soselo zu finden. Die beiden etwa gleichaltrigen schwarzen Albinokinder – das sieht mir kaum nach einem Zufall aus.“

„Wir sind dran. Mein Kollege Leicht hat diesen Aspekt in die Hände genommen. So, wenn Ihnen irgendetwas einfällt dazu, Dr. Möller, ich habe für alle Anregungen und Ideen ein offenes Ohr! Ich muss mich jetzt um den Weg der Bananenkiste kümmern.“

„Viel Erfolg,“ verabschiedete sich Dr. Möller.

Marie rief Herrn Schöning vom Rendsburger Großmarkt an und holte sich von ihm Namen und Adresse der Spedition, die die Kiste mit den grünen Bananen von Hamburg hierher gebracht hatte. Gott sein dank war es nur eine und die Kiste nicht über eine komplizierte Transportkette angeliefert worden. Es handelte sich um eine in Rendsburg ansässige Firma, so dass Marie wieder ihre Jacke vom Haken nahm und sich auf den Weg machte. Wenn es nicht zu aufwändig war, sprach sie lieber persönlich mit den Leuten. Sie fand, dass man sehr viel mehr Informationen bekam als am Telefon. Ein Blick, eine Geste oder der Zustand einer Wohnung oder eines Büros konnten oftmals mehr sagen als Worte am Telefon.

Der Hof der Speditionsfirma Jensen lag an diesem Vormittag in fast gespenstischer Ruhe da. Es war doch erst zehn Uhr. Marie hatte einen Ort mit hektischer Betriebsamkeit erwartet, Be- und Entladen der Lastwagen oder wenigstens die Verteilung der Fuhren. Aber bis auf einen scheinbar ausgedienten LKW-Oldtimer in einem abgelegenen Winkel des Firmenhofs war nicht ein einziger LKW zu sehen.

Marie ging durch eine Stahltür des Jensen-Gebäudes mit der Ausschrift „Büro“.

„Moin, moin. Johannsson. Kriminalhauptkommissarin Rendsburg,“ stellte sich Marie vor und hielt einer älteren Dame hinter einem ebenfalls älteren Schreibtisch ihren Dienstausweis entgegen. „Kann ich bitte den Chef, Herrn Udo Jensen sprechen?“

„Moin, den haben Sie grad verpasst, tut mir leid. Herr Jensen ist grad vor fünf Minuten weggefahren. Aber wenn Sie warten wollen, er müsste in spätestens einer halben Stunde wieder da sein.“

Marie überlegte kurz. „Gut, dann warte ich.“

„Möchten Sie einen Kaffee?“ kam prompt die inventarisierte Frage in einer solchen Situation.

„Wenn ich einen Tee haben könnte?“

„Ja, sicher,“ kam mit einem leicht genervten Unterton die Antwort retour und die Dame verschwand in einer Art Teeküche, die an ihr Büro angrenzte.

Marie versuchte Kommunikation: „Ich bin ganz erstaunt, Frau…?“

„Mischenski.“

„Ich bin ganz erstaunt, Frau Mischenski, dass es hier bei Ihnen in der Frühe so ruhig ist. Sind Ihre Wagen schon alle unterwegs?“

Frau Mischenski blickte Marie mit einer Mischung aus ungläubiger Verwunderung und schlichter Verachtung an: „In der Frühe ist bei uns zwei, drei Uhr. Wenn sie alle noch in ihren Federn schlummern, haben wir schon ihre Frühstücksbananen aus´m Hamburger Hafen geholt und bei ihrem Konsum um die Ecke vorbeigebracht.“

Nun war es an Marie, verwundert dreinzuschauen: Da schwang aber reichlich viel Verbitterung in der Stimme und den Worten mit.

Frau Mischenski reichte ihr die altbekannte schwarzbraune Brühe in einem altmodischen Teeglas mit den unappettlichen dunklen Plaques auf der Teewasseroberfläche. Höflich bedankte sich Marie. Sie hatte wie üblich großen Durst nach einer Autofahrt, auch wenn diese nur sehr kurz war. Sie nippte an der Brühe. Gut, das ging schon irgendwie rein, ein wenig jedenfalls.

„Heißt das, ihre Wagen und Fahrer sind alle unterwegs?“

„Ja, so ist das wohl,“ kam es leicht schnippisch zurück, wie man so etwas noch fragen musste.

Marie atmete tief durch und programmierte sich darauf, betont freundlich zu bleiben. Diese Dame vor ihr war ein Schatz. Sie war die Seele des Betriebs und wusste mit Sicherheit alles, was hier ablief. Sicherlich sogar mehr als ihr Chef, weil sie auch mit allen Fahrern jeden Tag zu tun hatte und gleichzeitig war sie sicher auch das Verbindungsglied zwischen den Angestellten und dem Inhaber. Ihrem wachsamen Auge würde sicher nichts entgehen.

Marie startete einen erneuten Anlauf: „Frau Mischenski, ich habe ja von einem Speditionsbetrieb überhaupt keine Ahnung, schon allein die Arbeitszeit zu so unmenschlicher Stunde.“

Frau Mischenskis Blick erfasste Maries Augen mit skeptisch fragender Bestimmtheit.

„Wenn Sie gerade ein paar Minuten Zeit haben, könnten Sie mir erklären, wie das funktioniert, dass ich morgens früh meine Banane zum Frühstück essen kann und welche Rolle Sie und ihre Firma dabei spielen?“ fuhrt Marie fort. Sie schaute Frau Mischenski bei ihrer Frage direkt und mit offener Freundlichkeit an. „Sie arbeiten so im Stillen, vermute ich, und wir Konsumenten nehmen es einfach so hin, dass alles jederzeit für uns da ist. Wir machen uns keine Gedanken, wie Bananen und Kaffee ins Supermarktregal kommen, motzen aber über jeden LKW auf der Straße.“ setzte Marie nach, ein wenig nach Sympathie durch Empathie heischend. Klären Sie mich doch bitte auf, dass ich heute nicht dumm mein Mittagessen zu mir nehmen muss.“

Ihre Worte entlockten Frau Mischenski immerhin ein leichtes Aufhellen ihrer Gesichtszüge, dass aber deutlich vor dem Auftauchen hochgezogener Mundwinkel Halt machte.

„Das ist eigentlich ganz einfach,“ antwortete Frau Mischenski sehr neutral.

„Wir…“ – sie betonte dieses Wort mit einem unnachahmlichen, tief verwurzelten Arbeiterstolz – „…holen das Obst, Gemüse oder die ganzen anderen Sachen in aller Hergottsfrühe aus Hamburg ab, direkt aus´m Hafen, bringen das hierhin zur Verteilerstelle im Großmarkt und dann geht’s auch schon ab in kleinen Fuhren über Land.“

„Das heißt, Sie müssen die ganzen Waren einmal umpacken?“ fragte Marie nach, um die Anzahl der Stopps der Waren und die möglichen Gelgenheiten der Manipulation einer Kiste mit grünen Bananen herauszubekommen.

„Oh, ja!“ Frau Mischenski kam allmählich in heimisches Fahrwasser. „Unsere Jungs müssen alle mächtig ran. Erst in Hamburg den ganzen Wagen vollladen, dass heißt natürlich erst einmal mit dem leeren Wagen hin. Dann die Fahrt mit einem randvollen LKW, das ist auch nicht ohne. Haben Sie eine Ahnung, was die für einen Bremsweg haben? Und dann müssen die hier in Rendsburg alles wieder rauspacken, die Zulieferlisten abgleichen und wie es dann für die Route über Land passt, alles wieder rein. Und dann noch in der richtigen Reihenfolge, denn das, was ganz nah bei Fahrerhaus steht, da kommen sie ja am Anfang der Tour, wenn noch alles voll ist, gar nicht ran. Alle unsere Jungs müssen also immer hellwach und fit sein. Und das sind sie auch. Sie denken immer, die hätten einen lauen Job, nur hoch im Wagen sitzen und ein bißchen das Gaspedal treten. Nixda!“

Jetzt schmiss sie sich wie eine wehrhafte Klucke voll ins Zeug für ihre sicherlich durchgängig männlichen Fahrer.

„Natürlich müssen die Jungs alle gut fahren können, aber die müssen auch körperlich ran, und das nicht zu knapp, und sie müssen auch hier oben…“ Sie tippte sich mit einer übertrieben kräftigen Bewegung einige Male mit ihrem Zeigefinger an ihre rechte Schläfe, „mit dem Köpfchen den Überblick behalten und mitdenken, planen und organisieren.“

„Ich verstehe,“ zeigte sich Marie überzeugt von den Erschwernissen und Anforderungen des Fernfahrerberufs. Wobei sie innerlich zugeben musste, dass sie die Jungs beziehungsweise ihre Arbeit tatsächlich immer ein wenig unterschätzt und belächelt hatte. Als die Aufschrift „Wir fahren auch für Sie!“ in Mode kam, hatte Marie sich überhaupt das erste Mal Gedanken über die Transportwege ihrer Bananen und Schnürsenkel gemacht. Sie hatte zuvor immer nur bis zum Laden, wo sie ihre Lebensutensilien erwerben konnte, gedacht.

„Wie viele Fahrer sind denn für Sie unterwegs?“

„Wir haben derzeit elf Fahrer, die auf sieben Wagen sitzen. Aber um das noch zu Ende zu bringen. Und Wochende ist hier auch nicht wie für andere normal.“

Jetzt schwang neben dem Mutterstolz für ihre Jungs wieder die leichte Bitterkeit von vorhin mit. „Der Samstag ist wie die anderen Tage, nur wenig, eigentlich kaum kürzer, und Sonntag geht nachts das ganze Spiel wieder von vorne los. Sie glauben gar nicht…“

In dem Moment ging die Stahltür mit einem kräfigen Schwung auf und ein kräftiger Mittfünfziger mit langen grauen Kotletten und über den Nacken hinauswachsenden, dunkelgrau melierten Haaren trat mit energischem Schwung ein.

Frau Mischenski wandte sich ihm gleich zu und ging sofort aus dem Kontakt mit Marie. Selbstverständlich sprach sie auch ihren angefangenen Satz nicht zu Ende. Das typische Spiel der Geschlechter…

In diesem Fall war das so herrlich bedeutungslos für Marie, dass sie sich das Schauspiel mit großer Distanz und nicht ohne ein über ihr Gesicht huschendes Schmunzeln einfach nur registrierte.

„Herr Jensen,“ sagte Frau Mischenski sehr freundlich mit dem Augenaufschlag älterer, ihren Chef seit Jahren anhimmelnden Sekretärinnen, die einer solchen Situation aus Maries Sicht immer etwas Pubertäres verliehen, „hier ist die Kripo für Sie! Frau Kommissarin Johannsson!“

„Oh! Welch hoher Besuch? Wie kommen wir zu der Ehre?“ sagte Jensen jovial, eine normale Begrüßung übergehend. „Aber kommen Sie erst einmal rein.“

Der Chef der Speditionsfirma führte Marie in sein ehemals sicherlich Eindruck schindendes, heute hingegegen etwas altbacken wirkendes Ledersesselbüro.

„Setzen Sie sich doch bitte! Was kann ich ich für Sie tun?“

„Haben Sie von den Fund der Kinderleiche gehört?“

„Ja, ich habe in der Rendsburger Zeitung davon gelesen. Was habe ich damit zu tun?“

Herr Jensen kam wohl gerne gleich auf den Punkt.

„Sie, beziehungsweise einer Ihrer Fahrer, haben die Bananenkiste, in der der tote Junge gefunden wurde, von Hamburg hierher gefahren. Am Dienstag war das wohl.“

Jensen drückte auf den Knopf einer altmodischen Gegensprechanlage „Mischenski, suchen Sie bitte einmal die Unterlagen zu den Bananen von diesem Dienstag heraus.“

Das kleine perfekte System trat kaum zwei Minuten später in Form der von Frau Mischenski auf Jensens Schreibtisch gelegten Akten in Erscheinung.

„Ja, das entspricht den Tatsachen,“ bemerkte Jensen mit betonter Sachlichkeit. „Wir sind die einzige Firma, die für uns hier im Norden Südfrüchte aus dem Hamburger Fruchtkontor holt. Und Dienstags sind die Bananen dran. Was wollen sie wissen? Ich nehme an, dass wir die Bananen gefahren haben, wussten Sie schon, dazu mussten sie nicht herkommen?“

„Das ist richtig. Ich bräuchte den Fahrer, Namen und Adresse. Und wer hatte zwischen Hamburger Hafen und unserem Großmarkt noch die Gelegenheit oder Zugang zu der Bananenkiste?“

Wieder erfolgte vollautomatisch der Druck auf den Sprechanlangenknopf: „Adresse von Wolf Krapp bitte.“ Das „Bitte“ ging in der Kürze des Satzes fast unter.

„Niemand kann von außen an unsere Waren ran. Die Wagen sind verschlossen und nur der Fahrer hat die Schlüssel.“

„Werden die LKWs immer verschlossen?“ fragte Marie nach.

„Selbstverständlich!“

„Es kann nicht vorkommen, dass der Fahrer einmal vergisst, den Wagen auf seiner Tour abzuschließen?“

„Bei uns nicht!“ schob Jensen in Seniorchefmarnier nach.

„Sie können also vollkommen ausschließen, dass sich zwischen Hamburg und Rendsburger Großmarkt irgendjemand – außer Ihrem Fahrer natürlich – an ihrer Ladung zu schaffen macht?“

Ohne Zögern antwortete Jensen: „Ja, das kann ich. Wir machen das Geschäft schließlich nicht erst seit gestern und haben einen traditionell guten Ruf zu wahren!“

Jetzt fehlt nur noch, dass er davon anfängt, wie sein Vater aus dem Nichts die Firma aufgebaut hat – ging es Marie durch den Kopf.

„Mein Großvater ist noch mit einem Pferdewagen…“

„Beschäftigen Sie Schwarze?“ unterbrach ihn abrupt Marie.

Jensen war ob des Wortabschneidens seitens der Kommissarin und ob des Inhalts der Frage völlig verdutzt: „Neger meinen Sie? Müsste ich das?“

„Beantworten Sie doch bitte einfach meine Frage!“ Maries Ton wurde härter bei der nun sich mit einem Mal verdichtenden Atmosphäre.

Udo Jensen schaute Marie kurz abschätzig an: „Nein!“

„Vielen Dank, Herr Jensen. Das war´s erst einmal. Wenn noch weitere Fragen auftauchen, werde ich mich bei Ihnen melden. Ich finde schon allein raus und nehme dann auf dem Weg die Adresse von Herrn Krapp bei Frau Mischenski mit. Einen schönen Tag noch und auf Wiedersehen, Herr Jensen.“

Udo Jensen war weiterhin verdutzt. Er hatte sicherlich nicht allzu häufig mit ihm widersprechenden Frauen zu tun.

Wolf Krapp war zuhause. Marie hatte Glück heute mit ihrer Art der spontanen Hausbesuche. Er schien sich gerade für eine Ruhe- oder Schlafphase im Bett fertig zu machen, aber noch nicht geschlafen zu haben, denn der typische gequälte Gesichtsausdruck eines frisch Geweckten fehlte. Herr Krapp sah trotz seiner kräftigen Statur sehr blass und erschöpft aus. Kein Wunder, dachte Marie, wenn er schon seit zwei Uhr auf Achse ist, da muss er ja seit etwa ein Uhr schon wach sein. Sie fand um diese Zeit häufig erst ihren Schlaf, weil sie manchmal solche Mühe hatte, den Tag loszulassen, in den sie – vor allem auf den letzten Drücker – gerne noch so viel mehr hineinpacken würde.

Marie stellte sich vor und Herr Krapp bat sie freundlich herein. Er bot ihr einen aus den Sechzigerjahren anmutenden spirrigen, mit praktischem Plastik bezogenen, einst wohl hellblau gewesenen Küchenstuhl an. Er stellte ihr ungefragt ein großes Glas Wasser hin und nahm auf dem einst roten Stuhlpendant Platz.

„Sie sehen aus, als wenn Sie großen Durst hätten!“

Und tatsächlich – jetzt merkte Marie einen mächtigen Brand in ihrer Kehle.

„Sehr aufmerksam von Ihnen,“ bedankte sich Marie etwas erstaunt. Ein sensibler Fernfahrer – was es nicht alles gibt. Es gibt doch mehr feinfühlige und aufmerksame Männer auf der Welt, als frau so gemeinhin annimmt.

„Vielen Dank, Herr Krapp. Ich bin tatsächlich ziehmlich ausgetrocknet.“

Nachdem Marie das Glas in einem Zug geleert hatte, begann sie mit ihrer Befragung: „Herr Krapp, Sie sind doch Fahrer bei der Spedition Jensen?“

„Ja.“

„Waren Sie am Dienstag auch für die Firma tätig?“

„Ja.“

„Und welche Tour hatten Sie am Dienstag?“

„Am Dienstag mache ich immer die Südfrüchtetour von Hamburg aus. Also dann fahr ich hier um halb zwei los, in den Hamburger Hafen, zum Kleinen Grasbrook, hole da meine Paletten ab und bring sie zur Umverteilung hier auf den Rendsburger Großmarkt und dann schipper ich die morgens über Land.“ Herr Krapp schien seine Arbeit gerne zu machen.

„Können Sie mir genau die Zeiten sagen, wann Sie im Hamburger Fruchtkontor ankamen, wie lange Sie dort geblieben sind und wann Sie in der Rendsburger Markthalle angekommen sind?“

„Jow, kann ich. Aber können Sie auch alles auf dem Fahrtenschreiber nachgucken, der liegt bei Frau Mischenski.“

Oh, von der Dame hatte Marie heute genug, bei der war man wohl eher als Mann wohlgelitten. Sie würde diesen sanften LKW-Fahrer vor ihr sicherlich zumindest in Gedanken auch Wölfchen nennen.

„Jow, wie gesagt, um halb zwei hier los. Um Viertel nach drei war ich dann wie immer im Hafen. Die Papiere kosten Zeit und das Aufladen gut dreißig Minuten. Also um vier kann ich dann wieder los. Kann manchmal auch Viertel nach vier werden. Aber diesen Dienstag bin ich zeitig weggekommen.“

„Könnte während des Beladens oder wenn Sie etwa Austreten sind jemand etwas in Ihren Wagen legen?“

„Ja sicher, ich habe ja nicht die ganze Zeit Habichtsaugen auf den Wagen. Aber da ist kaum jemand. Durch die Container und die Computersteuerung laufen in Hafen ja kaum noch Menschen rum. Und im Fruchtkontor ist ja nur der Lagerist, der Kalle, und ein Helfer, der Stefan. Sonst ist da ja kein Mensch.“

„War an diesem diesem Dienstag irgendetwas anders dort in der Halle. Ein unbekanntes Gesicht zum Beispiel? Oder war etwas anders mit den Papieren? Oder war der Lagerist nervös? Stand etwas dort in der Halle, was dort sonst nie steht?“

„Nee, nich dass ich wüsste. Aber ich kann ja noch mal nachdenken.“

Wolf Krapp gab sich alle Mühe behilflich zu sein. Er sah aus, als würde er in Gedanken noch einmal die gesamten Wege dieses Arbeitsmorgens nachgehen und sprach dabei leise vor sich hin: „Komme ich da rein…Papiere erledigen…der Kalle…wie immer in seinem Glaskasten…und Stefan fuhr die Paletten rum…aufgeladen..und los…“

Krapp stutzte. Dann fiel ihm etwas ein: „ Als ich aus der Halle fuhr, aber ich mein, das sagt ja nichts, nur, da fuhr so´n dunkler Wagen mit ´nem Affenzahn übers Gelände. Ich hab den eh nur so nebenbei gesehen, so am Rande. Ich war ja mit meinem Loskommen beschäftigt, um inner Zeit zu bleiben.“

„Das ist ja interessant,“ Marie bekam spitze Ohren. „Haben Sie die Marke erkannt, irgendwelche Insassen? Vielleicht irgendetwas vom Nummernschild?“ Marie wusste, dass man Zeugen Brücken bauen musste, um sich möglicherweise an Details von etwas nicht bewusst Gesehenem zu erinnern, weil der Verstand dann die einzelnen Punkte noch einmal abging.

„Das war einer von den neumodischen Geländewagen, schwarz auf jeden Fall. Ich glaube so´n Volvo, jedenfalls eine echte Edelkarosse. Wer da drin gegessen hat? Nee, das kann ich nicht sagen. Einer wird gefahren sein…“

„Und das Kennzeichen?“ fragte Marie, die etwas ungeduldig wurde angesichts einer möglichen heißen Spur.

„Ich meine keine Hamburger. Das HH ist ja immer sehr auffällig. Und ein Rendsburger auch nicht, das hätte ich mir gemerkt. Aber irgendwie zwei verschiedene Buchstaben. Aber ich weiß nicht…Und runde Zahlen, so was wie Null und Sechs und Acht und Neun, keine Einsen, Fünfen oder Siebener. Wissen Sie, wenn man immer auf der Straße sitzt, dann macht der Kopf so Spiele mit den Nummernschildern, die man den ganzen Tag sieht.“

„Wissen Sie vielleicht noch, wo der Wagen auf dem Hafengelände herkam und wo er hinfuhr? Konnten Sie das in etwa ausmachen?“

Wolf Krapp stand auf und holte einen Stift und Blatt Papier. Er malte ein grobes Rechteck auf und an einer Querseite zwei Querstriche über die Begrenzungslinie: „Das ist das Fruchtkontor und hier bin ich durch das Tor rausgekommen. Der Geländewagen – ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Volvo war – kam von hier.“

Krapp zeigte mit dem Stift auf die andere Querseite. „Von hier kam er und fuhr dann hier lang…“ Er führte den Stift zügig an der Längsseite seines Fruchtkontorrechtsecks vorbei. „Und dann ist er im Affenzahn raus, also runter vom Containergelände.“ Der Stift flog jetzt übers Papier und drüber hinaus.

„Wissen Sie, ob es außer dem großen Hallentor für die Fahrzeuge noch Nebeneingänge, wahrscheinlich nur für Personen gibt?“

„Ja sicher,“ antwortete der LKW-Fahrer weiter geduldig und freundlich. „Ich meine an jeder Seite. Stahltüren sind da. Hinten und an den langen Seiten. Ja – rein kann man von jeder Seite. Und wenn Betrieb ist, sind die auch alle auf. Damit die Wege nicht so lang sind.“

„Nur so als Vermutung. Könnten Sie sich vorstellen, Herr Krapp, dass der Fahrer des Geländewagens von einem Hintereingang der Kontorhalle gekommen ist, dass er vielleicht vorher in einem Teil der Halle war?“

„Jow, dass könnte wohl sein, denk ich mir. Was sollte er auch sonst da hinten. Denn hinter der Halle ist ja nichts mehr.“

„Aha, das ist ja sehr interessant.“ Marie machte sich Notizen. „Herr Krapp, Sie haben mir wirklich sehr geholfen.“

„Oh, das freut mich. Gern geschehen.“ antwortete der kräftige Mann mit ehrlich-bescheidener Freude.

„So, ich muss dann auch weiter. Vielen Dank noch Mal, Herr Krapp. Auch für das Wasser, das war köstlich.“

„Da nich für. Mach ich doch gerne. Wiedersehen, Frau Kriminalkommissarin. Und viel Erfolg auch…“ verabschiedete sich Krapp.

Marie wünschte sich immer solch nette Menschen bei ihren Befragungen. Die meisten waren nur genervt, weil was von ihrer ach so kostbaren Zeit abging – was immer sie sonst auch in dieser Zeit gemacht hätten. Sie erzählten von dem, was sie eigentlich zu sagen hätten, nur die Hälfte. So wie die Soselo gestern. Und wieder andere wollten sich der Polizei gegenüber ungemein wichtig tun. Da konnte man die Hälfte von dem Gesagten wegstreichen. Bei beiden wusste man nur zunächst nicht, welche Hälfte ihrer eigenen Laune zum Opfer gefallen war. Das machte solche Befragungen recht mühsam. Herr Krapp hier war nun einmal eine sehr wohltuende Ausnahme gewesen. Und vielleicht hatte er ihr tatsächlich sogar die erste Spur geliefert.

Es war jetzt schon nach halb drei und Marie spürte mit einem Mal einen Bärenhunger. Nach Hause zu fahren, das lohnte sich nicht, denn sie musste heute mehr als zeitig Feierabend machen, weil sie heute am frühen Abend mit Helga verabredet war. Natürlich hatten die beiden alten Freundinnen schon wegen des Treffens mit Martin miteinander telefoniert. Helga hatte sich sehr gefreut, dass eine Chance in Sicht gekommen war, alles wieder ins Lot zu bringen. Sie mochte nicht nur Marie, sondern auch Martin sehr gerne und hatte immer das Gefühl gehabt, dass Marie dieser Mann sehr gut getan hatte. Sie hatten sich heute – nicht zu spät, so gegen fünf – verabredet, um „nach oben zu gehen“ – wie Helga das immer nannte. Helga und sie meditierten dann sehr intensiv zusammen und gingen zusammen mit bestimmten Mantren und Gebeten – wie Helga das sagte – in höhere energetische Schwingungen. Helga hatte dann Zugang zu anderen Welten oder Energieebenen. Marie konnte sich da sowie nicht wirklich etwas drunter vorstellen. Und Helga konnte in diesem Zustand auf Maries Fragen mit einer Art erweitertem Bewusstsein, so ähnlich wie in Trance, antworten. Zumindest erklärte sich Marie so dieses Phänomen. Helga sagte, sie würde Informationen von Wesenheiten und energetischen Aspekten aus der nächsten energetischen Dimension erhalten, vom eigenen höheren Selbst, von Geistführern, geistigen Wesen, die jedem von uns Menschen beim Leben behilflich sein würden. So ähnlich wie Schutzengel – aber das wären noch andere Wesen, laut Helga.

Marie war das meist egal, denn die Informationen, die sie auf diesem Wege erhielt, waren frappierend zutreffend und hilfreich. Manchmal ertappte sich Marie sogar schon dabei, dass sie vor schwierigen Situationen für sich alleine und mitten am Tag ihre Geistführer um Hilfe bat. Obwohl sie sich die gar nicht vorstellen konnte. Sie schickte dann ihre Wünsche mit einer Art Mut der Verzweiflung in den Äther. Und irgendwie tat das meistens sogar gut.

Jedenfalls wollte Marie heute Abend mit Helgas Hilfe das Treffen mit Martin am Wochenende vorbereiten. Sie wollte so sehr und von ganzem Herzen alles richtig machen, weil sie diesen rothaarigen Riesen doch so sehr liebte, weil sie ihn brauchte, sich so unglaublich nach ihm sehnte. Wenn sie jetzt am Wochenende wieder Zeit miteinander verbringen würden, wenn das richtig wäre, wenn das nicht zu schnell wäre, zu viel zu schnell, dann bräuchte sie eine Hilfestellung, wie sie die Begegnung mit Martin am besten angehen könnte. Jedenfalls hatte sie Helga um Hilfe gebeten und ihre beste Freudin hatte gleich zugesagt zu kommen.

Marie rief zuhause an und sagte Klara kurz Bescheid, dass sie nicht zum Mittag käme, was sie sicherlich schon gemerkt hätte, sich aber sehr freuen würde, wenn sie und Helga heute abend etwas Leichtes zu essen bekommen könnten. Ob Klara Lust und Zeit hätte, was zu machen, sonst würde sie von unterwegs was mitbringen. Klara hatte beides und Marie stillte erst einmal ihren akuten Hunger mit einem vegetarischen Lamacun, extra scharf, vom einem ganz guten Türken in der Nähe des Kommissariats. Anschließend fuhr Marie ins Büro.

Ihre Kollegen Gabi und Robert in Hamburg konnte sie beide nicht erreichen. Schade, sie hätte gerne die neuen Informationen mit den beiden geteilt und auch gewusst, ob sie schon etwas in Erfahrung gebracht hatten. Da musste ihre Neugier wohl noch drei Tage warten. Es war jetzt Freitagnachmittag und ein wenig Abstand von dem Fall tat sicher allen Beteiligten gut.

Beim Niederschreiben ihrer Gesprächsnotizen für das Ermittlungsprotokoll fiel Marie spontan ein, obwohl das ihrem Verstand keinen Sinn machte, den Rendsburger Marktleiter nach dem Volvo zu fragen. Sie erreichte ihn tatsächlich sofort:

„Johannsson. Guten Tag auch, Herr Schöning, dass ich Sie noch erwische! Haben Sie auch kein Zuhause, Sie sind ja immer zu erreichen?“

„Guten Tag, Frau Johannsson. Oh, dass Sie mich jetzt noch errreichen, ist reiner Zufall. Ich hatte noch etwas vergessen und bin noch mal zurück, um was zu erledigen. Was kann ich für Sie tun?“

Schon wieder ein freundlicher Mann. Es war einfach ein guter Tag.

„Nur eine kurze Frage: Kennen Sie jemanden mit einem schwarzen Volvo-Geländewagen?“

„Nun ja, Frau Johannsson, ich fahre selbst einen.“

Und nach einer kurzen Pause: „Bin ich jetzt einer Tat dringend verdächtig?“

„Natürlich nicht, Herr Schöning. Ist reine Routine, dass ich Sie das frage.“

„Na, ja, der ist ja nicht so häufig. Sonst…“ Herr Schöning überlegte eine Weile, „sonst kenne ich auf Anhieb erst einmal niemanden, der das gleiche Modell fährt. Schwarz sind die Straßenriesen ja alle, glaube ich. Ich kann das ja noch mal sacken lasse, wenn Sie nicht jetzt sofort eine Antwort brauchen. Ich würde mich dann gegebenen falls bei Ihnen melden. Ihre Karte habe ich ja noch.“

„Ja, vielen Dank, Herr Schöning.“ Marie wollte ihn nicht nach seinem Aufenthaltsort am Dienstag früh fragen, jedenfalls noch nicht. Es erschien ihr auch ein wenig absurd, dass er etwas mit dem toten Jungen zu tun haben sollte. Weshalb sollte er die Leiche dann ausgerechnet in seinen eigenen Markt kutschieren lassen? Sie würde den Marktleiter bei anderer Gelegenheit einmal wie nebenbei nach seinem Alibi für Dienstag früh befragen. Denn sollte er tatsächlich wirklich etwas mit der Sache zu tun haben, dann wäre er so durchtrieben, dann würde ihn die Fragerei jetzt nur unnötig aufscheuchen.

Nach Beendigung des Telefonats führte Marie noch rasch ihren anfallenden Schriftkram zu Ende und konnte sich heute endlich mal zeitig auf den Nachhauseweg machen.

©Angela Kämper

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