Die Soldaten kamen an einem klaren Sommertag. Die schneeweißen, mit leuchtendem zinnoberrot abgesetzten Häuser mit ihren trapezförmigen, aus dunklem Holz gefertigten Fenstern und den bunten Tüchern, Teppichen und Fahnen strahlten dem tiefblauen Himmel entgegen. Wie kleine Sonnen glänzten goldene Giebel und ein Rad des Dharma, das buddhistische Symbol des Kreislaufs des ewigen Lebens, im Licht. Das Kloster lag am Ende eines Tals, etwa 40 Kilometer westlich von Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Die Gebäude hockten wie kleine Schwalbennester in dem steil aufragenden unbewaldeten Berghang.
Neun Nonnen saßen im Yogasitz auf bunten Teppichen auf dem Boden. Sie waren in tiefes Gebet versunken. Die plötzliche Anwesenheit chinesischer Soldaten schienen die Frauen gar nicht zu bemerken. Wie in Trance hallte unverändert ihr kräftig-monotoner Singsang durch den bunt geschmückten, aber kaum von Tageslicht erhellten Gebetssaal. In regelmäßigem Abstand zog der durchdringende Ton einer angeschlagenen Klangschale durch den Raum, gefolgt vom einem schrillen Zimbeln-Klang. Auch die beiden Nonnen, die diese Instrumente bedienten, hielten ihre Augen trotz der knallenden Geräusche der schweren Militärstiefel geschlossen.
Schnell ließen die eingedrungenen Soldaten ihre anfängliche Ehrfurcht vor dieser von tiefer Konzentration getragenen Gebetszeremonie fallen. Harsche Kommandos auf Chinesisch zerrissen den sanft wabernden Singsang der Nonnen.
Einer der Soldaten, offenkundig der Kommandant, schrie durch den Raum, sie sollten endlich still sein. Doch trotz der Gewalt in seiner Stimme schien der Mann von der Situation und seiner Rolle auch unangenehm berührt zu sein.
Die neun Frauen verstummten erst, als zunächst ein zwar sehr hohes, aber dennoch sehr energisches Bellen ertönte, das sogleich in ein Knurren überging. Augenblicklich folgte ein Schuss.

Eine der Nonnen sprang mit einem spitzen Schrei auf, beugte sich über das kleine blutüberströmte Fellknäuel und lief mit gebrochenem Murmeln aus dem Gebetssaal. Die Soldaten ließen sie stumm passieren.
Für eine kurze Ewigkeit war es totenstill im Raum. Dann wurde die Stille zerschnitten von Militätkommandos.
„Wer ist hier die Chefin?“
„Wo ist die Vorsteherin?“
„Wo ist eure Bibliothek?“
Nyima, die Vorsteherin des Nonnenklosters Nenang, war eine kleine drahtige Frau – mit der Ausstrahlung eines Felsendrachens. Jedenfalls wenn es gebraucht wurde. Mit gleichmäßigen, bedachten Bewegungen erhob sich Nyima vom Boden und ging mit einem stummen Gebet auf den Lippen zu dem erschossenen Hund. Sie beugte sich langsam zu dem einst schneeweißen Tibet Terrier herunter und schloss sanft seine Augen. Als sie den kleinen Hund hochheben wollte stieß ihr einer der chinesischen Soldaten den Gewehrkolben gegen die Brust, sodass die kleine Frau zur Seite taumelte.
Nun sprang eine weitere Nonne auf und baute sich in ihrer ganzen Größe vor dem chinesischen Soldaten auf. Neben der großen und kräftigen Frau wirkte der körperlich viel kleinere Soldat beinahe zart. Tashima war eine Kampa-Frau. Mit ihren großen tiefschwarzen Augen blitzte sie den Soldaten von oben herab an. Dieser wusste sogleich, dass er eine stolze Kampa vor sich hatte, eine Vertreterin der einst räuberischen und kriegerischen Ethnie im tibetischen Himalaja. Kampas hatten seinerzeit bis auf den letzten Blutstropfen den Dalai Lama beim Einmarsch der chinesischen Besatzungstruppen verteidigt – aufgrund der militärischen Überlegenheit der Chinesen letztlich allerdings vergeblich.
Der Soldat wich einen Schritt vor der stattlichen Frau zurück, legte aber sein Gewehr an. Nyima erfasste in Sekundenschnelle die Situation. Weiter ihre Lippen in stummem Gebet bewegend richtete sie ihren Körper in Richtung auf die aufgebrachte Kampa-Nonne aus und schaute konzentriert in ihre Richtung. Augenblicklich drehte sich Tashima zu ihr um. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich, wie mit einem lautlosen Klirren. Nyima senkte nur langsam ihren Blick zu Boden. Es war wieder kein Laut zu hören. Dann sank Tashimas kräftiger Körper wieder zum Boden und nahm die Gebetshaltung ein. Leise begann Tashima Mantren zu murmeln. Ebenso leise stimmten die sieben übrigen Nonnen mit ein.
Nur Nyima blieb aufrecht stehen. Weiterhin ihre Lippen in stummem Gebet bewegend ging die kleine Person mit ruhigen Schritten, ohne den Blick irgendeines Menschen im Raum zu beantworten, zu einem Regal und holte eine Decke hervor. Nyima legte diese in eine kleine Nische an der Seite des Gebetsraumes. Dann hob sie den toten Hund auf und bettete seinen Körper auf die Decke. Mit einem Teil der Decke deckte sie die rote Wunde an der Brust des Tibetterriers zu, so dass sein weißer Kopf unbedeckt blieb.
Nun erst richtete Nyima ihren Blick auf die Menschen im Raum. Sie forderte zwei Nonnen auf, sie mögen am Kopf- und am Fußende des toten Hundes das Totengebet verrichten.
Langsam ging Nyima auf den Kommandanten zu: „Ich bin die Vorsteherin des Klosters Ninang. Mein Name ist Nyima. Was wollen Sie?“
Freundlich, aber bestimmt kamen die Worte aus ihrem noch immer offen freundlichen Gesicht. Mit ruhigen Handbewegungen wies sie die übrigen Nonnen an, den Gebetssaal zu verlassen. Bald stand die kleine Frau allein vor dem guten Dutzend chinesischer Soldaten mit ihrem Kommandanten.
Es war nicht das erste Kloster, dass der chinesische Kommandant aufsuchte. Der selbstlose Mut der tibetischen Mönche war ihm schon vielfach begegnet. Aber nun war er in einem der wenigen Nonnen-Klöster. Und die ruhige Gelassenheit, mit der ihm hier nun diese zarte Person gegenüberstand, beeindruckte den Chinesen doch sehr. Ob er wollte oder nicht.
So wechselte er in einen neutralen, fast freundlichen Tonfall. Er fragte die Vorsteherin nach ihrer Bibliothek. Nyima zeigte daraufhin auf eine Tür. Sie stellte keine Fragen. Sie wusste, was nun kommen würde.
Der Kommandant gab seinen Soldaten ein Zeichen. Dabei konnte er den Blick der kleinen Nonne vor sich kaum aushalten und musste seinen Blick zu Boden senken.
Er hatte auch nur seine Befehle.
Während dieses kurzen stummen Zwiegesprächs zwischen diesen beiden in so unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten agierenden Menschen stürmten die Soldaten in den angezeigten Bibliotheksraum. Einer nach dem anderen kam mit Armen voller Schriftrollen und den typischen langgestreckten tibetischen Büchern, doppelt beschriebenen Papieren zwischen zwei kunstvoll verzierten Holzdeckeln, aus dem Raum wieder hervor und verschwand durch den Ausgang des Gebetsaals.

Eine knappe dreiviertel Stunde dauerte das Ausräumen der Klosterbibliothek durch die Soldaten. Während der ganzen Zeit hatten der Mann und die Frau stumm voreinander gestanden. Nyima hatte ausdruckslos in das Gesicht des Chinesen geblickt, während dieser ebenso ausdruckslos auf den Boden gestarrt hatte.
Der Kommandant räusperte sich: „Und nun die geheimen traditionellen Bücher und Schriftrollen!“ Er bemühte sich um einen harten Tonfall.
Nyima ging, stumm gefolgt von dem Kommandanten, in einen weiteren Raum und öffnete ein in die weiße Wand eingelassenes Geheimfach. Die Vorsteherin wusste, dass Widerstand hier zwecklos war, höchstens in Gewalt eskalierte. Der Kommandant selbst entnahm, sogar mit einer gewissen Vorsicht, die darin liegenden acht langgestreckten Bücher mit reich verziertem und vergoldetem Buchdeckel. Dabei handelte es sich um bis jetzt sorgsam gehütete Kostbarkeiten des Bön-Buddhismus, der ältesten spirituellen Tradition Tibets.
Kurz streiften sich die Blicke des Chinesen und der Tibeterin. Dann verließ er mit seinen tuschelnden Soldaten im Gefolge den Gebetssaal. Von draußen war durch die geöffnete Tür das Prasseln des Feuers im Hof zu hören.

Sofort nachdem die Soldaten den Raum verlassen hatten ging Nyima zu dem toten Hund. Sie selbst hatte ihn schwer verletzt vor vier Jahren gefunden und gesund gepflegt. Sie hatte ihn Sonam genannt, tibetisch für Glück. Und der kleine Bursche hatte den Nonnen jeden Tag mit seinem dankbaren und fröhlichen Wesen Glück und Liebe in ihre Herzen gebracht. Nun war er tot, weil er seine Menschenfamilie hatte verteidigen wollen.
Nyima hockte sich neben die beiden noch betenden Nonnen vor Sonams toten Körper. Sie klinkte sich in das Totenritual mit ein, um für den sanften Übergang seiner Seele eine Lichtsäule aufzubauen. Nach und nach kamen die übrigen sechs Nonnen dazu, hockten sich hinter sie und stimmten in die Totengebete mit ein.
Einige Stunden verbrachten die Nonnen so im respektvollen Gebet zum Wohlergehen von Sonams Seele.
Plötzlich spürte Nyima, wie sich das Energiefeld des toten Hundes veränderte. Die von dem toten Hundekörper aufsteigende Energiesäule wurde dichter und heller. Und dann erfasste eine gleißend helle Lichtsäule durch den Hundekörper hindurch die kleine Nonne. Mit dem Zusammenfallen der Lichtsäule war der tote Körper von Sonam aus dem Gebetsraum verschwunden. Und mit ihm die Klostervorsteherin Nyima.