Qigong-Meister Ming Chen löste seine drei Finger von der Innenseite des Handgelenks. Herr Wang war ein schlanker, fast zartgliedriger Mann jenseits der siebzig. Sein Puls war für sein Alter außergewöhnlich kraftvoll. Sein Nieren-Qi hatte die Kraft eines gesunden Dreißigjährigen. Es würde Ming Chen leicht fallen, Qi in die Lungen umzuleiten, da in den anderen Energiesystemen ausreichend Lebensenergie vorhanden war.
Ming Chen bat den alten Herrn auf der Liege Platz zu nehmen und es sich dort bequem zu machen. Er sollte nur zuvor sein Hemd ausziehen. Herr Wang bekam einen heftigen Hustenanfall. Wegen seines schweren, nun schon bereits drei Wochen andauernden Hustens war er zu dem Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin gekommen, der über die Grenzen von Chengdu hinaus bekannt war.
Ming Chen arbeitete in der letzten staatlichen TCM-Klinik. Vor zwanzig Jahren hatte es in Chengdu, damals auch schon eine Millionenstadt, noch zwölf weitere TCM-Kliniken gegeben. Im Laufe der Jahre waren sie nach und nach dem rasanten Trend der Chinesen zum Modernen und Westlichen zum Opfer gefallen.
Vor vielen Jahren hatte sich Ming Chen noch über seine Kollegin gewundert. Er fand die Ärztin im Arztzimmer liegend. Sie hing am Tropf und gab sich selbst eine Infusion gegen eine bei ihr aufkommende Erkältung. Kurz zuvor hatte sie noch bei einem sechsjährigen Mädchen erfolgreich eine Akupunkturbehandlung durchgeführt. Das Kind litt unter dem „kalten Gesicht“, wie traditionell epileptische Anfälle genannt wurden. Die noch junge Ärztin war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt für ihre erfolgreiche Akupunktur-Behandlung von Epilepsie, insbesondere bei Kindern. Und sie selbst nahm nun ein chemisches Pharmazeutikum gegen eine solche Lapalie.
Ming Chen hatte schon einige Zeit das Gefühl, dass mit den ungemein beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungen in China auch ein aus seiner Sicht unglückseeliger Umbruch in der Medizin vor sich ging.
Ming Chen war Qigong-Meister und Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin in dritter Generation. Er hatte auch Schulmedizin studiert, sogar mit großer Freude. Er hatte das umfangreiche Wissen über den physischen Körper und seine Funktionsweisen förmlich aufgesogen. Doch die Anatomie und Physiologie hatte sich stets unter seine eigene Wahrnehmung des Energieflusses im Menschen gelegt. Ming Chen spürte und wusste einfach, dass und wie Qi durch den Körper von Lebewesen fließt – es sei denn, es lagen Energieblockaden oder Qi-Mangel vor.
Wie sein Vater, sein Großvater und ein Urgroßvater war er zudem Qigong-Meister. Er konnte die universelle Lebensenergie konzentrieren und über seine Hände in seine Patienten leiten, um die krankmachenden Störungen mit Hilfe des Qiflusses in den Meridianen zu beheben.
Doch seine Kommilitonen an der medizinischen Fakultät in Chengdu verließen sich lieber auf Apparate und chemische Pharmakologie. Es konnte auch kaum noch einer von ihnen das Qi erspüren, geschweige denn konzentrieren und verstärken. Für Ming Chen war bei der modernen Medizin die Behandlung von den Händen in den Kopf gerutscht. Computertomografie und Magnetresonanztomografie statt Pulsdiagnose. Antibiotika, Beta-Blocker und Chemotherapie statt Heilkräuter, bewusster Ernährung, Akupunktur und Moxibustion. Aber dieses Rad konnte niemand zurückdrehen. Er hätte sich so sehr ein Miteinander dieser beiden Richtungen gewünscht, aber das alte Wissen wurde mehr und mehr verdrängt.
Ming Chen konnte nur mit innerer Gelassenheit die Zeit an sich vorbeiziehen lassen. Für sich hatte er in der kleinen verbliebenen TCM-Klinik seine Oase gefunden. Still war er meistens, fast schweigsam. Aber Ming Chen lachte auch gerne. Jeden Samstag gönnte er sich eine Zigarre und einen Whisky, dazu für gewöhnlich einen klassischen amerikanischen Spielfilm oder einen Science-fiction – bis dahin hatte seine eigene Verwestlichung gereicht. Er liebte dieses Ritual.
Darüber hinaus faszinierte Ming Chen die Astrophysik. Es bereitete ihm die Vorstellung eine tiefe innere Freude, dass einzelne Planeten in gewaltigem Tempo und unvorstellbar schneller Eigenrotation wie hektische Nomaden durch den Weltraum sausten. Er spürte darin quasi im Großen einen Ausreißer des Qi-Stroms in seinen Patienten. Und dann Chinesen, die auf der abgewandten Seite des Mondes herumliefen. Allein das Bild setzte ihm ein Lächeln in Gesicht und Herz. Was immer die Partei damit vorhatte. Aber Politik war nicht so sein Ding. Nicht weil er Angst gehabt hätte, nein. Sondern weil er sich durch und durch als Taoisten sah. Auch der Archäologie war Ming Chen zugetan. Nur – über sein eigenes Land wurde für seinen Geschmack leider viel zu wenig publik gemacht.
Nun lag Herr Wang auf seiner Behandlungsliege. Herr Wang lebte mit seiner Frau nun schon seit einigen Jahren in der südchinesischen Stadt Guilin in der Provinz Guangxi.
Früher war Herr Wang Geschichtenerzähler gewesen. Er hatte mit seiner geliebten Frau in einem Dorf am Fluss Li gelebt. Ehe sich China geöffnet hatte und die Touristen in immer größeren Scharen gekommen waren, war Yangdixiang noch ein beschaulicher Ort gewesen. Der Li schlängelte sich gemächlich um die spektakulären Kalkstein-Karsthügel, die wie unzählige grüne Gugelhupfe steil aus einem Mosaik aus Reisfeldern aufragten. Damals fischten die Fischer auf den schmalen Bambusflößen tatsächlich noch mit ihren Kormoranen ihren Lebensunterhalt aus dem Fluss. Heute dienten die Fischer nur noch als romantische Fotokulisse für die Touristenmassen.
Bis vor gut fünfzehn Jahren gab es auf dem Land noch den Beruf des Geschichtenerzählers. Jeden Tag ging Herr Wang in einem der umliegenden Dörfer auf den Markt. Manchmal musste er vier Stunden bis zu seinem Arbeitsplatz laufen. Er hatte sein Auskommen und konnte sich und seine Familie, seine Frau und seine zwei Kinder, ernähren. Aber er verdiente niemals genug, um sich ein Boot leisten zu können. Mit einer Bootsfahrt auf dem Li hätte er den Weg zum nächsten Dorf erheblich abkürzen können.
Doch Herr Wang war ein stets freundlicher und bescheidener Mann, der niemals über sein Leben klagte. Er liebte seinen Beruf, er liebte das Geschichtenerzählen. Auf jedem Dorfmarktplatz hatte er seinen festen Platz unter einem Baum und erzählte seine Geschichten von Drachen und anderen mystischen Wesen, aber auch Liebesgeschichten und allerlei Abenteuer. Höchst angespannt schweigend, manchmal unterbrochen von ausprustendem Lachen, manchmal von erstauntem „Ooohhh“, lauschten die Marktbesucher seinen Worten. Und wenn er fertig war, gaben sie ihm ein paar Yuan für seine Kunst.
Herr Wang erzählte von Liebe und Leid, von Zwietracht, Verlust, Hoffnung und Versöhnung. Eines jedoch unterschied Herrn Wang von anderen Geschichtenerzählern: Seine Geschichten hatten immer ein offenes Ende. Es lag also in der Verfassung des Zuhörers, ob seine Geschichten einen guten Ausgang nahmen oder nicht. Ob das schöne Mädchen seinen Prinzen bekam oder nicht. Ob der verschlagene Kaufmann Gong in den verzweifelten Ruin getrieben wurde oder ob er noch reicher wurde. Es gelang Herrn Wang, so lebendig zu erzählen, dass die Figuren in den Köpfen seiner Zuhörer zu atmenden Wesen wurden. Sie wurden ihnen so vertraut, dass sie im Kopf nach dem geschickten Erzählende weiterlebten. Jeder ließ die Figuren in seinen inneren Bildern weiter agieren.
Seine Zuhörer waren stets sehr zufrieden nach dem Vernehmen seiner letzten Worte. Auf dem Nachhauseweg war jeder Zuhörer durch Herrn Wangs Erzählkunst angeregt seine Gedanken mit seinem für ihn passenden Ausgang der Geschichte zu füllen – und bei manchem auch sein Herz. Das heilte bei vielen Menschen sogar seelische Wunden.
Darüberhinaus stießen Wangs ungewöhnliche Geschichten bei den Dorfbewohnern, die alle nur ihre kleine Welt am Fluß Li kannten, viele neue Gedankentore auf. Wo vorher Stillstand im Geist geherrscht hatte, konnten nun wieder Gedanken, Bilder und Qi fließen.
Wie nun bei der Akupunkturbehandlung durch Dr. Ming Chen. Die beiden Männer hatten eine Abmachung getroffen. Herr Wang hatte nur wenig Geld. Seine beiden Söhne zahlten zwar seine Miete und seinen Lebensunterhalt, aber er selbst hatte keine eigenen Einnahmen mehr. Eine Rente gab es nicht. Und so hatte er nichts überher. Auch nicht für seine Gesundheitsversorgung oder die seiner Frau. Herr Wang hatte sich geschworen, nur im äußersten Notfall seine Söhne um weitere Unterstützung zu bitten. Sie hatten schließlich ihr eigenes Leben. Und so war es zu der Vereinbarung gekommen: Herr Wang bezahlte seine Akupunkturbehandlung mit einer Geschichte.

Ming Chen hatte bereits die ersten Nadeln gesetzt, als Herr Wang fortfuhr: „…und nun musste der Junge irgendwie versuchen, diesen goldenen Sonnenstrahl durch das Nadelöhr zu lenken.“
In diesem Moment setzte Dr. Chen eine Nadel schräg von oben sanft, aber bestimmt, hinter die obere Einbuchtung von Herrn Wangs Brustbein, Punkt REN 22, tiān tú, was so viel wie „Himmelsvorsprung“ bedeutet.
In Ming Chens Kopf verschmolz der Sonnenstrahl aus der Geschichte mit der Akupunkturnadel zwischen seinen Fingern. Das erzählte Nadelöhr des Jungen legte sich in die kleine knöcherne Bucht von Herrn Wangs Brustbein. Sein eigenes Qi, das er stets sanft in die gesetzten Akupunkturnadeln leitete, ergoß sich immer stärker in die Nadel. Bald war es vollständig mit dem goldenen Sonnenlichtstrahl verschmolzen. Immer stärker wurde der Energiefluss, erfasste Ming Chens Arm, Brust, und bald seinen ganzen Körper. Ming Chen verlor komplett die Kontrolle über das, was hier geschah. Alles sog die Akupunkturnadel auf. Der Qigong-Meister, sonst so geübt in der Lenkung des Qi, fühlte Stück für Stück seine Energie schwinden. Verschwinden durch diese dünne Metallnadel hindurch, die hinter dem Brustbein von Herrn Wang steckte. Dieser Qi-Strom floss immer schneller. Als letztes zog dieser Sog an seinem Kopf. Es fühlte sich an, als würde sein Gehirn eingeschmolzen. Es tat nichts weh, war nicht mal besonders unangenehm. Es war nur höchst fremdartig, seltsam. Und entzog sich komplett seinem Willen.
Dann wurde Ming Chen schwarz vor den Augen.
Fortsetzung: Protagonisten „Shpärenspringer“